Pius X über den gläubigen Modernisten

Hut, bischöflicher Krummstab, Kleidungsstücke eines Papstes

Pius X. über den gläubigen Modernisten

Zweites Kapitel

nach dem Katechismus über den Modernismus

Pius X. in weißer Papstkleidung sitzt auf dem päpstlichen Stuhl, die Arme auf den Stuhllehnen, im Gesicht ist ein leichtes Lächeln zu sehen

§ 1. Religiöse Erfahrung.

67. Wie unterscheidet sich in demselben Modernisten der Gläubige vom Philosophen?

„Geht man nun zum Gläubigen über und will man wissen, wie dieser bei den Modernisten vom Philosophen sich unterscheidet, so ist zu beachten, daß der Philosoph zwar die Wirklichkeit des Göttlichen annimmt als Gegenstand des Glaubens, daß er diese Wirklichkeit aber nur im Geiste des Gläubigen findet als Gegenstand eines Gefühls oder einer Behauptung und somit überschreitet er die Grenzen der Erscheinungs-Welt nicht. Ob aber diese Realität auch außerhalb dieses Gefühles und einer solchen Behauptung besteht, darum kümmert sich der Philosoph nicht. Für den Modernisten als Gläubigen ist es hingegen eine feste Tatsache, daß die Realität des Göttlichen in sich selbst bestehe und keineswegs vom Gläubigen abhänge. Frag man, worauf denn diese Behauptung des Gläubigen sich stütze, so antworten sie: auf die eigene Erfahrung jedes einzelnen Menschen.

68. Trennen sich die Modernisten hiermit von den Rationalisten?

„In dieser Behauptung rücken sie zwar von den Rationalisten ab, fallen aber in den Irrtum der Protestanten und der falschen Mystiker.“

69. Wie erklären sie, daß sie durch die eigene Erfahrung zur Erkenntnis der Existenz Gottes in sich kommen?

„Sie erklären die Sache folgendermaßen: im religiösen Gefühl muss man eine Art Intuition des Herzens anerkennen; durch diese aber erkennt der Mensch ohne jedes andere Mittel die Realität Gottes.“

70. Welche Gewissheit erlangt der Mensch hierdurch?

Er erlangt eine so feste Überzeugung von Gottes Dasein und von seinem Wirken innerhalb des Menschen sowohl wie außerhalb, daß sie jede Gewissheit weit übertrifft, die aus der Wissenschaft geschöpft werden kann. Sie nehmen also eine eigentliche Erfahrung an und zwar eine bessere als jede Vernunft-Erfahrung ist.“

71. Wie können dann trotzdem manche Menschen das Dasein leugnen?

„Leugnet einer diese Erfahrung, wie dies die Rationalisten tun, so geschieht es deshalb, wie sie behaupten, weil er sich nicht in die rechte moralische Verfassung versetzen will, um diese Erfahrung machen zu können. Diese Erfahrung macht den, der sie erlebt hat, voll und ganz zum Gläubigen.“

72. Wie verhält sich das mit dem katholischen Glauben?

„Das ist weit von den katholischen Anschauungen entfernt. Wir haben schon gesehen, wie das Vatikanische Konzil diese Behauptungen verurteilt hat. Wir werden noch zeigen, wie leicht diese Ansichten in Verbindung mit den bereits erwähnten Irrtümern zum Atheismus führen.“

73. Müssten die Modernisten nach diesen Lehren nicht alle Religionen für wahr halten?

„Hier muss gleich bemerkt werden, daß nach dieser Lehre von der Erfahrung und nach jener andern vom Symbolismus, jede beliebige Religion, die heidnische nicht ausgenommen, für wahr gehalten werden muss. Kommen denn nicht in jeder Religion solche Erfahrungen vor? Mehr als einer behauptet, sie seien vorgekommen. Mit welchem Rechte würden die Modernisten einer Erfahrung die Wahrheit abstreiten, die etwa der Türke behauptet, und nur den Katholiken wahre Erfahrungen zugestehen? Das tun denn auch die Modernisten nicht; im Gegenteil, die einen sagen es heimlich, andere ganz offen, daß alle Religionen wahr seien?

74. Ist das eine strenge Folgerung ihres Systems?

„Es ist offenbar, daß sie nicht anders denken können. Aus welchem Grunde könnte sonst in ihrem System eine Religion falsch sein? Entweder würde das religiöse Gefühl trügen oder die vom Verstand aufgestellte Formel wäre täuschend. Nun ist aber das religiöse Gefühl immer ein und dasselbe, höchstens ist es manchmal weniger vollkommen; die Verstandes-Formel ist ihrerseits schon wahr, wenn sie dem religiösen Gefühl und dem gläubigen Menschen entspricht, ganz abgesehen von der Schärfe seines Verstandes.“

75. Verlangen die Modernisten nicht einen Vorrang für die katholische Religion?

„Dieses eine höchstens könnten die Modernsten im Wettstreit der verschiedenen Religionen verlangen, die katholische enthalte mehr Wahrheit, weil sie lebendiger sei; sie sei auch des Namens einer christlichen Religion würdiger, weil sie sie dem Ursprung des Christentums vollkommener entspreche. – Es kann niemand befremden, daß alle diese Folgerungen aus den gegebenen Prinzipien hervorgehen“

76. Stimmt das Benehmen einiger Katholiken und Priester mit diesen Ungeheuerlichkeiten überein?

„Es ist überaus zu verwundern, daß es Katholiken und Priester gibt, die, wie Wir annehmen wollen, solche Ungeheuerlichkeiten wohl verabscheuen, aber doch so tun, als würden sie dieselben vollständig billigen. Denn sie spenden den Vorkämpfern solcher Irrtümer derartig Lob und feiern dieselben so öffentlich, daß man sich leicht überzeugt, die Ehre gelte weniger den Männern, die ja einige Verdienste haben mögen, als vielmehr den Irrtümern, welche diese öffentlich verbreiten und mit allen Kräften unter das Volk zu bringen suchen.

§ 2. Die Überlieferung

77. Dehnen die Modernisten das Prinzip der religiösen Erfahrung auch auf die Überlieferung aus?

„Ein anderer Punkt ist in dieser Lehre, welcher der katholischen Wahrheit ganz entgegen ist. Das Prinzip der Erfahrung wird nämlich auch auf die Überlieferung ausgedehnt und dadurch wird diese, wie von der katholischen Kirche bisher verteidigt wurde, vollständig zerstört.“

78. Wie verstehen denn die Modernisten die Überlieferung?

„Die Modernisten verstehen die Überlieferung so, daß sie eine Art Mitteilung der ursprünglichen Erfahrung sei durch die Predigt und die Mithilfe der Verstandes-Formel. Dieser Formel schreiben sie außer der repräsentativen Kraft, wie sie sagen, auch eine suggestive Wirkung zu.“

79. Auf wen wird diese suggestive Wirkung ausgeübt?

„Einerseits auf den Glaubenden, um das etwa eingeschlafene religiöse Gefühl aufzuwecken und die einst gemachte Erfahrung wieder zu erneuern; andererseits auf jene, die noch nicht glauben, um in ihnen das religiöse Gefühl hervor zu rufen und die Erfahrung zu bewirken.“

80. Wird auf diese Weise die religiöse Erfahrung zur Ursache der Überlieferung?

„So wird die religiöse Erfahrung weit unter den Völkern verbreitet, nicht nur unter jenen, die jetzt leben, was durch die Predigt geschieht, sondern auch unter die folgenden Geschlechter durch Bücher und Überlieferung von Mund zu Mund.“

81. Woran erkennen die Modernisten die Wahrheit einer Überlieferung?

„Diese Mitteilung der Erfahrung faßt manchmal Wurzeln und wird kräftig; manchmal welkt sie bald und stirbt ab. Wird sie kräftig, so ist das für die Modernisten ein Beweis ihrer Wahrheit, denn Wahrheit und Leben sind ihnen gleich bedeutend. Dies berechtigt wieder zu dem Schluß: alle bestehenden Religionen sind wahr, denn sonst könnten sie nicht leben.“

§ 3. Verhältnis zwischen Glaube und Wissenschaft

„Die bisherigen Erörterungen, Ehrwürdige Brüder, sind hinreichend, um einzusehen, welches Verhältnis die Modernisten aufstellen zwischen Glaube und Wissenschaft; unter den Namen Wissenschaft nehmen sie auch die Geschichte auf.“

82. Welchen Unterschied erkennen sie zwischen dem Gegenstand beider?

„Zuerst muss man festhalten, daß der Gegenstand des einen ganz außerhalb des Gegenstandes des andern gelegen ist und von ihm getrennt steht. Der Glaube erstreckt sich nur auf das, was die Wissenschaft als für sie unerkennbar achtet. Daraus ergibt sich für beide eine ganz verschiedene Aufgabe: die Wissenschaft beschäftigt sich mit den Phänomenen, wo für den Glauben kein Platz ist; der Glaube hingegen lebt in den göttlichen Dingen, wovon die Wissenschaft keine Erkenntnis hat.“

83. Ist dann kein Gegensatz möglich zwischen beiden?

„Es ist somit ganz ausgeschlossen, daß Glaube und Wissen miteinander in Streit kommen können; wenn beide in dem eigenen Gebiete bleiben, dann können sie sich niemals begegnen und mithin nicht widersprechen.“
„Wendet man vielleicht dagegen ein, einzelne Dinge der sichtbaren Welt gehörten auch zum Glauben, wie z. B. das menschliche Leben Christi, so werden sie das leugnen.“

84. Wie können sie das leugnen?

„Diese Dinge gehören allerdings unter die Phänomene, insofern sie aber von dem Leben des Glaubens durchdrungen und vom Glauben, in der oben bezeichneten Weise, verklärt und entstellt sind, sind sie auch von der sinnlichen Welt entfernt und in den Bereich des Göttlichen erhoben. Demgemäß wird auf die weitere Frage, ob Christus wahre Wunder gewirkt und das Zukünftige vorher gesehen hat, ob er wirklich auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist, die agnostische Wissenschaft verneinend, der Glaube aber bejahend antworten.“

85. Ist aber das nicht ein offener Widerspruch zwischen der Wissenschaft und dem Glauben?

„Deshalb entsteht aber doch kein Widerspruch zwischen beiden. Denn die Verneinung stellt der Philosoph zu Philosophen sprechend auf, weil er Christus einzig nach der historischen Realität betrachtet; die Bejahung hingegen spricht der Gläubige mit Gläubigen redend aus, der auf das Leben Christi achtet, wie es vom Glauben und im Glauben Wiede erlebt wird.“

86. Wenn nun Wissenschaft und Glaube auf ganz verschiedenen Gebieten sich bewegen, sind sie dann nach den Modernsten einander gar nicht untergeordnet?

„Wer aber aus dem Gesagten folgern wollte, Glaube und Wissenschaft seien in keiner Hinsicht einander untergeordnet, der würde sich gewaltig täuschen. Von der Wissenschaft würde er ganz richtig denken; nicht aber vom Glauben, der in dreifacher Hinsicht der Wissenschaft untergeordnet ist.“

87. Welches ist nach den Modernisten diese dreifache Hinsicht?

„Erstens muss man beachten, daß an jeder religiösen Tatsache, wenn man der göttlichen Realität und von der Erfahrung, welche der Gläubige von ihr hat, absieht, alles andere, besonders aber die religiösen Formeln, den Bereich der Phänomene nicht überschreiten und somit unter die Wissenschaft fallen. Der Gläubige kann ja, wenn er will, aus der Welt sich entfernen, solange er aber in der Welt verweilt, wird er niemals den Gesetzen, der Aufsicht und dem Urteil der Wissenschaft und der Geschichte entgehen, mag er wollen oder nicht.

Wenn auch zweitens gesagt wurde, Gott sei allein Gegenstand des Glaubens, so gilt dies doch nur von der Realität Gottes, nicht aber von dem Begriff Gottes. Dieser untersteht der Wissenschaft und diese erreicht auch das Absolute und Ideale, solange sie in der sogenannten Begriffswelt sich aufhält. Mithin hat die Philosophie oder die Wissenschaft das Recht, über den Gottesbegriff zu erkennen, ihn in seiner Entwicklung zu regeln und, wenn fremde Elemente sich eindrängen, zu korrigieren. Daher dieser Grundsatz der Modernisten: Die religiöse Entwicklung muss mit der moralischen und intellektuellen verbunden werden, oder wie einer ihrer Lehrer sagt, muss ihnen untergeordnet werden.

Endlich drittens duldet der Mensch in sich keinen Zwiespalt; deshalb drängt den Gläubigen eine innere Notwendigkeit, den Glauben mit der Wissenschaft so zu vereinen, daß er nicht mit der wissenschaftlichen Idee dieser Welt disharmoniere.“

88. Demnach wäre also der Glaube Sklave der Wissenschaft?

„Somit ist folglich erwiesen, daß die Wissenschaft vom Glauben ganz unabhängig ist, der Glaube hingegen der Wissenschaft untersteht, was auch immer von der Trennung beider gesagt werden möge.“

89. Wie haben die Päpste solche Lehren schon beurteilt?

„Dies alles, Ehrwürdige Brüder, steht in schroffem Gegensatz zu den Worten Unseres Vorgängers PiusIX., welcher lehrte: ‚Die Philosophie hat in allem, was zur Religion gehört, nicht zu herrschen, sondern zu dienen, sie hat nicht vorzuschreiben, was man glauben müsse, sondern es in vernünftiger Unterwerfung anzunehmen, sie hat nicht die Erhabenheit der göttlichen Geheimnisse zu erforschen, sondern dieselbe fromm und demütig zu verehren.‘ (Breve an den Fürstbischof von Breslau vom 15. Juni 1857) Die Modernisten drehen die Sache vollständig um: deshalb kann man auf sie anwenden, was ein anderer Unserer Vorgänger, Gregor IX., von einigen Theologen seiner Zeit schrieb: ‚Einige von Euch sind vom Geiste der Eitelkeit aufgebläht und bestreben sich durch profane Neuerungen die von den Vätern gesetzten Schranken zu entfernen, den Sinn der Heiligen Schrift wollen sie nach der philosophischen Lehre der Vernunft beugen, um ihre Wissenschaft zur Schau zu tragen, nicht um ihren Hörern zu nützen… Durch verschiedene fremde Lehren selbst irre geführt, machen sie den Kopf zum schwanz und zwingen die Königin, der Magd zu dienen.‘ (Brief an die Theologie-Professoren zu Paris vom 7. Juli 1228)

§ 4. Praktische Folgerungen

90. Ist das Benehmen der modernistischen Katholiken mit ihren Grundsätzen übereinstimmend?

„Dies wird deutlich hervortreten, wenn man zusieht, wie die Modernisten handeln, ganz übereinstimmend mit ihren Lehren. Ihre Schriften und Reden enthalten viele scheinbare Widersprüche, so daß man daraus leicht glauben könnte, sie seien noch unschlüssig und unbestimmt. Doch dies tun sie mit Absicht und Überlegung, aus ihrer Anschauung nämlich über die Trennung von Glaube und Wissenschaft. Deshalb findet man in ihren Büchern manches, was ein Katholik vollständig billigt; wendet man das Blatt, so möchte man glauben, ein Rationalist habe diktiert.“

91. Haben sie nicht ein doppeltes Verhalten bezüglich der geschichtlichen Fragen?

„Schreiben sie Geschichte, dann erwähnen sie die Gottheit Christi nicht; besteigen sie aber die Kanzel um zu predigen, dann bekennen sie dieselbe ganz entschieden. Ebenso haben sie als Geschichtsschreiber für die Väter und Konzilien kein Wort, als Katecheten hingegen zitieren sie beide ganz ehrenvoll.“

92. Handeln sie ebenso in der Exegese?

„Ebenso trennen sie die theologische und pastorale Exegese von der wissenschaftlichen und geschichtlichen.“

93. Wie verfahren sie in andern wissenschaftlichen Arbeiten?

„Nach dem Grundsatz, daß die Wissenschaft vomGlauben ganz unabhängig sei, haben sie desgleichen nicht die geringste Angst, wenn sie Philosophie oder Geschichte oder Kritik treiben, in die Fußstapfen Luthers (*) zu treten und zeigen in jeder Weise ihre Verachtung gegen katholische Vorschriften, gegen die heiligen Väter, die ökumenischen Konzilien und gegen das kirchliche Lehramt; werden sie deshalb getadelt, dann beklagen sie sich, man nehme ihnen die Freiheit.“

94. Wie verhalten sie sich infolge dessen dem kirchlichen Lehramt gegenüber?

„Da sie lehren, der Glaube müsse der Wissenschaft unterworfen sein, tadeln sie manchmal die Kirche ganz offen, daß sie hartnäckig weigere, ihre Dogmen den Lehren der Philosophie zu unterwerfen und anzupassen.“

95. Was tun sie mit der katholischen Theologie?

„Nachdem sie zu ihrem Zweck die alte Theologie beiseite gelegt haben, bemühen sie sich eine neue einzuführen, die ihren philosophischen Träumereien dient.“ –
aus: J.B. Lemius Obl. M. J., Der Modernismus Sr. H. Papst Pius X. Pascendi dominici gregis, 1908 S. 22 – S. 31

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