Pius X. an die Priester der katholischen Kirche
Auszug aus dem apostolischen Mahnwort „Haerent animo“ v. 4. August 1908
1183 … Mit diesem Mahnwort haben Wir jedoch nicht nur eure persönlichen Interessen im Auge, sondern auch die gemeinsamen Interessen der katholischen Völker, sind doch die einen mit den andern eng verbunden. Denn die Stellung des Priesters ist derart, dass er keineswegs für sich allein gut oder schlecht sein kann; sein Verhalten und seine Lebensführung hat im Gegenteil die folgenschwersten Rückwirkungen auf seine Mitmenschen. Welch großes und unschätzbares Geschenk ist für seine Umgebung ein wirklich guter Priester!
Forderung: Übereinstimmung zwischen Lehre und Leben
1184 Wir beginnen also Unsere Ermahnung, geliebte Söhne, mit der Aufforderung zu einem heiligen Lebenswandel, wie ihn eure hohe Würde erheischt. Wer in den Priesterstand eintritt, tut es ja nicht nur für sich selber, sondern für die andern: Denn jeder Hohepriester, aus den Menschen genommen, wird für die Menschen bestellt in ihren Anliegen bei Gott. (Hebr. 5,1) Darauf hat auch Christus hingewiesen, als er die Priester mit dem Salz und mit dem Lichte verglich, um das letzte Ziel ihres Wirkens zu veranschaulichen. Licht der Welt und Salz der Erde ist also der Priester. Diese Sendung verwirklicht er, wie jedermann weiß, hauptsächlich als Verkünder der christlichen Wahrheit. Es ist aber ebenso klar, dass diese Tätigkeit nahezu nutzlos bleibt, wenn der Priester nicht das Wort seiner Verkündigung mit dem Beispiel seines Lebens bekräftigt. Wer einen solchen Prediger anhört, wird ihm böswillig zwar, aber nicht zu Unrecht entgegenhalten: Sie geben vor, Gott zu kennen, verleugnen ihn jedoch durch ihre Werke (Tit. 1,16); er wird seine Belehrung abweisen, und sein Licht wird ihn nicht erleuchten. Deshalb hat Christus, das Vorbild des Priesters, zuerst durch das Beispiel und sodann mit Worten gelehrt: Jesus begann zu wirken, dann zu lehren (Apg. 1,1). Ebenso wenig kann der Priester, wenn er die Selbstheiligung vernachlässigt, Salz der Erde sein. Was nämlich verdorben und schal geworden ist, besitzt nicht mehr die; Kraft, unversehrt zu erhalten; wo aber die Heiligkeit fehlt, da nistet sich unausweichlich die Verderbnis ein. Darum hat Christus, diesen Vergleich fortführend, solche Priester als fades Salz bezeichnet, das zu nichts mehr taugt, als weggeworfen und sogar von den Menschen zertreten zu werden (Matth. 5,13).
Forderung: Gleichförmigkeit mit Christus
1185 Diese Wahrheiten sind umso einleuchtender, als wir ja das Priesteramt nicht in unserem Namen, sondern im Namen Jesu Christi ausüben. Somit, sagt der Apostel, betrachte man uns als Diener Christi und als Ausspender der Geheimnisse Gottes (1. Kor. 4,1). Wir sind also Gesandte an Christi Statt (2. Kor. 5,20). Eben aus diesem Grunde hat uns Christus selber nicht unter seine Knechte, sondern zu seinen Freunden gezählt: Nicht mehr Knechte nenne ich euch… Freunde habe ich euch genannt, denn ich habe euch alles geoffenbart, was ich von meinem Vater vernommen habe… Ich habe euch erwählt und euch bestellt, damit ihr hingeht und Frucht bringt (Joh. 15,15-16).
Wir müssen also Christus selber vertreten. Die Sendung, die er uns übertragen, gilt es so zu erfüllen, dass wir das Ziel erreichen, das Christus sich gesteckt hat. Und da ja «dasselbe wollen, dasselbe nicht wollen erst feste Freundschaft ist» (C. Sallustius, Catil. XX 4), so sind wir als Freunde verpflichtet, unsere Gedanken und Gefühle denjenigen Jesu Christi anzugleichen, der heilig, schuldlos und rein ist (Hebr. 7,26). Als seine Gesandten müssen wir die Menschen gewinnen für den Glauben an seine Lehre und an seine Gebote, indem wir selber mit dem guten Beispiel vorangehen. Als Teilhaber an seiner Gewalt der Sündenvergebung haben wir die Pflicht, uns nach Kräften von der Verstrickung in Sündenschuld freizuhalten.
1186 Vor allem aber als seine Beauftragten zur Darbringung des hochheiligen Opfers, das sich mit immerwährender Segenskraft zum Heil der Welt erneuert, sind wir zu jener Gesinnung verpflichtet, mit der er sich selber auf dem Altar des Kreuzes als makelloses Opferlamm Gott dargebracht hat. Wenn schon im Alten Testament, das nur Bild und Gleichnis war, von den Priestern ein hohes Maß von Heiligkeit verlangt wurde, um wie viel mehr von uns, da jetzt Christus das Opferlamm ist! «Wie sollte der nicht umso reiner sein, der teilhat an einem solchen Opfer? Lauterer noch als der Sonnenstrahl die Hand, die dieses Fleisch berührt; der Mund, in dem ein geistiger Feuerbrand lodert; die Zunge, die vom ehrfurchtgebietenden Blut gerötet ist?» (Johannes Chrysostomus, Homil. LXXXII, in Matth. n. 5. PG 58, 743) Sehr zutreffend ist die eindringliche Mahnung des heiligen Karl Borromäus in seinen Reden an den Klerus: «Wenn wir bedächten, liebe Mitbrüder, welch große und heilige Dinge Gott der Herr in unsere Hände gelegt hat, wie mächtig würde uns diese Überlegung zu einem Leben antreiben, das eines Geistlichen würdig ist! Was hat mir denn der Herr nicht in die Hand gegeben, da er mir seinen eigenen eingeborenen Sohn, gleich ewig und gleichen Wesens wie er, anvertraut hat? Seine Schätze hat er mir restlos in die Hand gelegt, die Sakramente und die Gnaden; er hat mir die Seelen übergeben, die ihm das Allerteuerste sind, die er in seiner Liebe sich selbst vorgezogen und mit seinem Blut erkauft hat. Er hat mir den Himmel übergeben, mit der Vollmacht, ihn den andern zu öffnen oder zu verschließen… Wie könnte ich denn einer solchen Herablassung und Liebe gegenüber so undankbar sein, noch gegen ihn zu sündigen, ihm die Ehrfurcht zu verweigern, diesen Leib zu entheiligen, der ihm gehört, diese Würde, dieses Leben, das seinem Dienste geweiht ist, beflecken?» (Karl Borromaeus, Homil. (Mailand 1748) Bd. 5 77: Orat. II in syn. Dioec. XI (1584)
Heiligkeit ist erstes Erfordernis
1194 Es gibt in Wirklichkeit nur eines, was den Menschen mit Gott verbindet, nur eines, was ihn gottgefällig und zum Gehilfen seiner Barmherzigkeit macht, so dass er vor ihm einigermaßen zu bestehen vermag: ein heiliger Lebenswandel. Wenn diese Heiligkeit, die letzten Endes die alles überragende Wissenschaft Jesu Christi ist, dem Priester mangelt, so fehlt ihm alles. Denn ohne sie ist sogar ein reiches und außergewöhnliches Wissen (das Wir übrigens selber beim Klerus zu fördern bestrebt sind) und selbst praktische Gewandtheit und Lebenstüchtigkeit, mögen sie auch der Kirche oder den einzelnen zum Vorteil gereichen, dennoch gar oft eine Quelle bedenklicher Schädigungen.
Ein wahrhaft heiligmäßiger Priester hingegen, selbst der allergeringste, ist imstande, zahllose und erstaunliche Werke zu unternehmen und zu vollbringen für das Heil des Gottesvolkes. Das wird bezeugt durch eine ganze Reihe von Beispielen aus allen Jahrhunderten. Ein glänzender Beweis aus neuester Zeit ist Johann Baptist Vianney, dieser vorbildliche Seelenhirte, den Wir mit Freuden zur Ehre der Altäre erhoben haben.
Nur durch Heiligkeit werden wir unserer göttlichen Berufung würdig; sie macht uns zu Menschen, die der Welt gekreuzigt sind und denen die Welt selber gekreuzigt ist; zu Menschen, die ihr Leben neugestaltet haben, die – wie Paulus sagt – in Mühsalen, in Nachtwachen und Fasten, durch Reinheit und Erkenntnis, durch Langmut und Güte, im Heiligen Geist, mit ungeheuchelter Liebe und wahrheits-getreuem Wort (2. Kor. 6,5-7) sich als Diener Gottes erweisen; Menschen also, die einzig und allein das übernatürliche Ziel im Auge haben und sich mit aller Kraft dafür einsetzen, auch die andern dahin zu führen.
Heiligkeit ist unmöglich ohne Gebet
1195 Bekanntlich ist jedoch die Heiligkeit insofern durch unsern Willen bedingt, als dieser durch Gottes Gnadenbeistand gestärkt wird. Daher hat Gott selber im reichsten Maße vorgesorgt, dass uns seine Gnade, wenn wir es nur wollen, keinen Augenblick fehle. Dazu verhilft uns vor allem der Gebetseifer. Tatsächlich besteht zwischen Gebet und Heiligkeit eine so enge Wechselbeziehung, dass das eine ohne das andere unmöglich ist. Diesbezüglich entspricht die Behauptung des heiligen Johannes Chrysostomus vollkommen der Wahrheit: «Ich meine, es sollte jedermann klar sein, dass ein tugendhaftes Leben ohne die Hilfe der Gnade einfach unmöglich ist». (Johannes Chrysostomus, De precatione, orat. 1. PG 50,777) Seinerseits sagt Augustinus klar und bündig: «Fürwahr, recht zu leben versteht, wer recht zu beten weiß». (Augustinus, Sermo in append. 55 n. 1. PL 39, 1849) Die gleiche Lehre hat uns Christus selber durch wiederholte Ermahnungen und insbesondere durch sein Beispiel nachdrücklich eingeschärft, indem er sich entweder in die Wüste zurückzog oder allein auf Bergeshöhen stieg, um zu beten. Ganze Nächte verbrachte er in inbrünstigem Gebet; oft ging er in den Tempel und hat sogar mitten im Volksgedränge den Blick gen Himmel erhoben und öffentlich gebetet. Schließlich hat er, ans Kreuz geheftet, inmitten der Todesschmerzen mit lauter Stimme und unter Tränen den Vater angerufen.
Halten wir also am unerschütterlichen Grundsatz fest: Um seiner hohen Würde und seiner Berufspflicht gerecht zu werden, muss der Priester das Gebetsleben mit außergewöhnlicher Hingabe pflegen. Allzu oft ist ihm leider das Gebet eher eine Gewohnheit als ein Herzensbedürfnis. Zu bestimmten Stunden erledigt man ohne innere Anteilnahme das Brevier oder verrichtet nur spärliche Gebete und denkt tagsüber kaum mehr daran, sich an Gott zu wenden und sein Herz zu ihm zu erheben. Und doch sollte der Priester viel eifriger als irgend jemand Christi Gebot befolgen: Man muss allzeit beten (Luk. 18,1), ein Gebot, das Paulus mit Nachdruck betont: Seid beharrlich im Gebete, seid wachsam im Geiste der Danksagung (Kol. 4,2); betet ohne Unterlaß! (1. Thess. 5,17)
Die geistliche Lesung
1205 … Zu unsern wahrhaft treuen Freunden müssen wir die religiösen Bücher zählen. Denn sie erinnern uns ernsthaft an unsere Pflichten und an die Gebote Gottes, sie wecken die halb erstickte Stimme des Gewissens, sie rügen die Lässigkeit in der Vorsatztreue, sie schrecken uns auf aus trügerischer Ruhe, tadeln ungebührliche oder heimliche Herzensneigungen und decken Gefahren auf, die oft den Unvorsichtigen umlauern. Und zwar leisten uns die erbaulichen Bücher all diese Dienste mit so verschwiegenem Wohlwollen, dass sie sich nicht nur als Freunde, sondern als unsere allerbesten Freunde erweisen. Sie stehen uns nach Belieben zur Verfügung, sind gleichsam stets an unserer Seite und zu jeder Stunde hilfsbereit in unsern persönlichsten Anliegen. Ihre Stimme klingt nie verletzend, ihr Rat niemals eigennützig, ihr Zuspruch nie befangen oder verlogen.
1206 Die heilsame Wirkung der guten Lektüre geht aus zahlreichen und herrlichen Beispielen hervor, worunter das Erlebnis des heiligen Augustinus gewiss besondere Erwähnung verdient, gab es doch den Anstoß zu seinem äußerst verdienstvollen Wirken in der Kirche. «Nimm, lies! Nimm, lies! … Ich griff hastig danach, ich schlug sie auf (nämlich die Paulusbriefe) und las still für mich… Als ob sich ein Strahl von Sicherheit in mein Herz ergossen, war alle Finsternis des Zweifels zerstoben». (Augustinus, Confessiones 1. VIII c. CV 33, 194-195; PL 32,762)
Demgegenüber geschieht es heutzutage leider allzu oft, dass sich Geistliche von der Finsternis des Zweifels allmählich übermannen lassen und auf die abwegigen Pfade der Welt geraten, namentlich weil sie der Heiligen Schrift und der religiösen Literatur andere Bücher der verschiedensten Art und sogar den Blätterwald der Tagespresse bei weitem vorziehen, die doch wimmelt von verfänglichen Irrtümern und Anzüglichkeiten. Seid auf eurer Hut, geliebte Söhne! Traut nicht zuviel auf euer reifes und fortgeschrittenes Alter und lasst euch nicht durch die trügerische Hoffnung narren, ihr könntet daraus für euer Wirken etwas gewinnen! Es gibt bestimmte Grenzen, die teils durch die kirchliche Gesetzgebung festgelegt, teils durch die Klugheit und die Sorge um das eigene Seelenheil abgesteckt sind. Denn wer ein einziges Mal dieses heimtückische Gift in seine Seele eindringen lässt, wird höchst selten den schädlichen Folgen der unheilträchtigen Ansteckung entgehen.
Keuschheit und Gehorsam
1212 Haltet also die Keuschheit, diese auserlesene Zierde unseres Standes, hoch in Ehren und bewahrt sie zeitlebens unversehrt! Ihr Glanz macht den Priester den Engeln ähnlich, sichert ihm die Hochachtung der Gläubigen und verleiht seinem Wirken übernatürliche Segenskraft. Wachsen und ständig erstarken mögen in euch Ehrfurcht und Gehorsam, die ihr einst jenen feierlich versprochen habt, die der Heilige Geist zu Vorstehern der Kirche bestellt. Vor allem mit dem Apostolischen Stuhl, dem nach Recht und Billigkeit ehrfürchtige Unterwürfigkeit gebührt, sollen euch stets engere Bande der Gesinnungs- und Herzenstreue verbinden.
Liebe und Selbstzucht
1213 Zeichnet euch alle aus durch ein hohes Maß jener Liebe, die sich nie von Eigennutz leiten lässt. Meistert die allzu menschlichen Triebe des Neides, der Habgier und der Ehrsucht, und richtet euer ganzes Sinnen und Trachten in brüderlichem Wetteifer auf die größere Ehre Gottes! Auf die Wohltaten eurer Nächstenliebe wartet in ihrem unsäglichen Elend eine große Menge Kranker, Blinder, Lahmer und Siecher (Joh. 5,3); es warten vor allem auch die unabsehbaren Scharen der Jugend, diese teuerste Hoffnung des Staates und der Kirche, die von Trug und Laster rings umworben wird.
Widmet euch mit ungeteilter Hingabe dem Katechismusunterricht, den Wir euch neuerdings inständig ans Herz legen, und macht euch mit allen Mitteln, die euch Erfahrung und praktischer Sinn eingeben, um alle Kreise im höchsten Maße verdient. Ob ihr helft oder vorbeugt, ob ihr heilt oder Frieden stiftet, stets sei es euer letztes Ziel, ja euer glühendes Verlangen, Seelen für Christus zu gewinnen oder näher zu ihm zu führen. Seht nur, wie aktiv, unermüdlich und angriffslustig die Feinde Christi ständig am Werk sind, um den Ruin der Seelen zu betreiben!
Der katholischen Kirche gereicht es zur Freude und ruhmvollen Ehre, dass ihre Priester im Geiste der Liebe den Frieden Christi verkünden, die Heilsbotschaft und die Kulturgüter hinaustragen bis zu den unzivilisierten Völkern. Dank ihren gewaltigen Strapazen und nicht selten um den Preis ihres Lebensopfers ist Christi Reich fortwährend im Wachsen, und der heilige Glaube gewinnt durch immer neue Siege an Glanz und an Hochachtung.
Und solltet ihr, wie es gar oft geschieht, für eure Liebesdienste Missgunst, Vorwürfe und Verleumdung ernten, so seid darob nicht traurig, werdet nicht müde, Gutes zu tun! (2. Thess. 3,13) Schaut auf zu jenen Heldenscharen, ebenso glorreich durch ihre Zahl wie durch ihre Verdienste, die gemäß dem Vorbild der Apostel trotz der grausamsten Schmähungen um Christi Namen willen voll Freude ihres Weges gingen und die Verwünschungen mit Segensworten erwiderten (Apg. 5,41; 13,52; vgl. Luk. 6,28; 1. Kor. 4,12). Sind wir doch Söhne und Brüder der Heiligen, deren Namen strahlend im Buch des Lebens stehen, deren Ruhmestaten die Kirche verkündet. Wir wollen durch keine Schandtat unsere Ehre besudeln! (1. Makk. 9,10) –
aus: Anton Rohrbasser, Heilslehre der Kirche, Dokumente von Pius IX. bis Pius XII., 1953, S. 776 – S. 796
Gesamter Text zu finden unter: Pius X. Mahnwort „Haerent animo“