Mystici corporis Christi
Die Kirche, der geheimnisvolle Leib Christi
Enzyklika von Papst Pius XII. v. 29. Juni 1943
Erster Teil: Die Kirche als der Mystische Leib Christi
III. Der mystische Leib Christi ist übernatürlich
Die Kirche als „Mystischer Leib Christi“
802 Gehen wir nun einen Schritt weiter, Ehrwürdige Brüder, und erörtern wir den Punkt, der den Grund, warum Christi Leib, die Kirche, mystisch, d.h. geheimnisvoll, genannt werden muss, ins gehörige Licht rücken soll. Diese Benennung, die schon bei mehren Kirchenschriftstellern der Vorzeit üblich war, wird durch nicht wenige Dokumente der Päpste bestätigt. Aber nicht bloß aus einem Grund ist dieses Wort berechtigt. Es unterscheidet zunächst den gesellschaftlichen Leib der Kirche, dessen Haupt und Lenker Christus ist, von dessen physischem Leib, der aus der jungfräulichen Gottesmutter geboren, jetzt zur Rechten des Vaters thront und unter den Eucharistischen Gestalten verborgen ist. Ebenso – und dies ist wegen der Zeitirrtümer von großer Bedeutung – schließt diese Bezeichnung jeden natürlichen Leib, sei es einen physischen, sei es einen sogenannten moralischen aus.
1. Der mystische Leib im Unterschied zum natürlichen, physischen Leib
803 In einem natürlichen Leib nämlich verbindet das einigende Prinzip die einzelnen Teile derart, daß sie kein eigenes Fürsichsein mehr besitzen. Im mystischen Leib dagegen verbindet das einigende Prinzip, obschon es bis ins Innerste geht, die Glieder so untereinander, daß die einzelnen ihre Eigenpersönlichkeit vollauf bewahren. Wenn wir sodann das gegenseitige Verhältnis zwischen dem Ganzen und den einzelnen Gliedern betrachten, so ergibt sich folgendes: In jedem lebendigen physischen Leib sind alle einzelnen Glieder in letzter Linie einzig zum Wohle des ganzen Organismus da, während jede gesellschaftliche Gliederung von Menschen, wenn man auf deren letzten Nützlichkeits-Zweck sieht, hingeordnet ist auf den Nutzen aller und zugleich jedes einzelnen Gliedes, da diese ja Personen sind. Um also auf unsere Sache zurückzukommen, wie der Sohn des Ewigen Vaters um des ewigen Heiles unser aller willen vom Himmel herabgestiegen ist, so hat er den Leib der Kirche gebildet und mit dem göttlichen Geist beseelt zu dem Zweck, das ewige Glück der unsterblichen Seelen zu wirken und zu sichern, gemäß dem Ausspruch des Apostels: „Alles gehört euch, ihr aber gehört Christus und Christus Gott” (1. Kor. 3,23; Pius XI., Rundschreiben Divini Redemptoris vom 19. März 1937. AAS XXIX (1937) 80). Wie nämlich die Kirche zum Wohl der Gläubigen da ist, so hat sie die Bestimmung, Gott, und den er gesandt hat, Christus Jesus, zu verherrlichen.
zur moralischen Körperschaft
804 Vergleichen wird sodann den Mystischen Leib mit einer sogenannten moralischen Körperschaft, so müssen wir auch da einen keineswegs geringfügigen, sondern höchst bedeutungsvollen und schwerwiegenden Unterschied feststellen. In der moralischen Körperschaft nämlich ist das einigende Prinzip nichts anderes als der gemeinsame Zweck und das gemeinsame Zusammenwirken aller zu demselben Zweck mittels einer gesellschaftlichen Obrigkeit. Im Mystischen Leib dagegen, von dem wir handeln, kommt zu diesem Zusammenwirken noch ein anderes inneres Prinzip, das sowohl dem ganzen Organismus wie den einzelnen Gliedern wirklich und kraftvoll innewohnt und von solcher Erhabenheit ist, daß es in sich betrachtet alle einigenden Bande, die einen physischen oder einen moralischen Leib zusammen halten, unermesslich weit überragt. Dieses Prinzip gehört, wie oben gesagt, nicht der natürlichen, sondern der übernatürlichen Ordnung an, ja es ist in sich selber geradezu unendlich und unerschaffen: der Geist Gottes, der, wie der engelgleiche Lehrer sagt, ”der Zahl nach ein und derselbe, die ganze Kirche erfüllt und einigt” (Thomas von Aquin, De Veritate, q. 29 a. 4 c.).
2. Der mystische Leib ist wesentlich übernatürlich
805 Die richtige Bedeutung der Bezeichnung ”mystisch” erinnert also daran, daß die Kirche, die als eine in ihrer Art vollkommene Gesellschaft anzusehen ist, nicht bloß aus gesellschaftlichen und rechtlichen Bestandteilen und Beziehungen besteht. Sie ist ja weit vorzüglicher als irgendwelche anderen menschlichen Körperschaften (Vgl. Leo XIII., Rundschreiben Sapientiae christianae vom 10. Januar 1890. ASS XXII, (1889 bis 1890) 392), die sie überragt, wie die Gnade die Natur hinter sich läßt und wie das Unsterbliche alles Vergängliche (Vgl. Leo XIII., Satis cognitum vom 29. Juni 1896. ASS XXVIII (1895 bis 1896) 724. Vgl. HK Nr. 637) Jene rein menschlichen Gesellschaften, namentlich der Staat, sind gewiß nicht zu verachten oder gering zu schätzen.
Allein die Kirche als ganze gehört nicht der Ordnung dieser Dinge an, gleichwie der Mensch als ganzer nicht mit dem Gebilde unseres sterblichen Leibes zusammen fällt (Vgl. ebd. S. 710. Vgl. HK Nr. 605). Denn die rechtlichen Beziehungen, auf welchen die Kirche ebenfalls beruht und welche zu ihren Bestandteilen gehören, stammen zwar aus ihrer göttlichen von Christus gegebenen Verfassung und haben ihren Anteil bei Erreichung ihres übernatürlichen Zieles. Doch was die Kirche über jedwede natürliche Ordnung hoch hinaus hebt, ist der Geist unseres Erlösers, der als Quelle aller Gnaden, Gaben und Charismen fortwährend und zuinnerst die Kirche erfüllt und in ihr wirkt. Wie der Bau unseres sterblichen Leibes zwar ein wundervolles Werk unseres Schöpfers ist, jedoch weit unter der erhabenen Würde unserer Seele zurück bleibt, geradeso hat das gesellschaftliche Gefüge der christlichen Gemeinschaft, wie sehr es auch die Weisheit seines göttlichen Meisters verkündet, doch nur einen ganz untergeordneten Rang, sobald man es vergleicht mit den geistlichen Gaben, mit denen die Kirche ausgestattet ist und von denen sie lebt, sowie mit deren göttlichen Ursprung.
zugleich sichtbar und unsichtbar
806 Aus alledem, was Wir in Unserem Schreiben an Euch, Ehrwürdige Brüder, bisher dargelegt haben, geht klar hervor, daß sich jene in einem schweren Irrtum befinden, die sich nach eigener Willkür eine verborgene, ganz unsichtbare Kirche vorstellen, ebenso wie jene, die sich die Kirche als eine Art menschlicher Organisation denken mit einer bestimmten satzungsmäßigen Ordnung und mit äußeren Riten, aber ohne Mitteilung übernatürlichen Lebens (Vgl. Leo XIII., Rundschreiben Satis cognitum. ASS XXVIII (1895 bis 1896) 710. Vgl. HK Nr. 606). Nein, wie Christus, das Haupt und Urbild der Kirche, „nicht ganz ist, wenn man in ihm entweder nur die menschliche, sichtbare, oder bloß die göttliche, unsichtbare Natur betrachtet…, sondern wie er Einer aus beiden und in beiden Naturen ist… so sein mystischer Leib” (Ebd. S. 710); hat doch das Wort Gottes eine menschliche leidensfähige Natur angenommen, damit nach der Gründung einer sichtbaren und mit dem göttlichen Blut geweihten Gesellschaft „der Mensch durch eine sichtbare Leitung den Weg zum Unsichtbaren zurückfinde” (Thomas von Aquin, De veritate, q. 29, a. 4 ad 3).
zugleich Rechts- und Liebeskirche
807 Deshalb bedauern und verwerfen Wir auch den verhängnisvollen Irrtum jener, die sich eine selbst ersonnene Kirche erträumen, nämlich eine nur durch Liebe aufgebaute und erhaltene Gesellschaft, der sie – mit einer gewissen Verächtlichkeit – eine andere, die sie die Rechtskirche nennen, gegenüber stellen. Eine solche Unterscheidung einzuführen ist ganz verfehlt. Sie verkennt, daß der göttliche Erlöser die von ihm gegründete Gemeinschaft von Menschen als eine in ihrer Art vollkommene Gesellschaft mit allen rechtlichen und gesellschaftlichen Bestandteilen gerade zu dem Zweck wollte, damit sie dem Heilswerk der Erlösung hier auf Erden dauernden Bestand sichere (Vgl. Vatik. Konzil, Sess. IV, prol. Denzinger Nr. 1821), und daß er sie zur Erreichung desselben Zweckes vom Tröster Geist mit himmlischen Gnaden und Gaben reich ausgestattet wissen wollte.
Gewiß, sie sollte nach dem Willen des Ewigen Vaters „das Reich des Sohnes seiner Liebe” (Kol. 1,13) sein, dabei aber in Wahrheit ein solches Reich, in welchem alle durch ihren Glauben eine vollkommene Unterwerfung des Verstandes und Willens darbringen (Vgl. Vatik. Konzil, Sess. III c. 3. Denzinger Nr. 1790) und in Demut und Gehorsam dem ähnlich werden sollten, der für uns „gehorsam ward bis zum Tode” (Phil. 2,8). Es kann also kein wirklicher Gegensatz oder Widerspruch bestehen zwischen er unsichtbaren Sendung des Heiligen Geistes und dem rechtlich von Christus empfangenen Amt der Hirten und Lehrer. Beide ergänzen und vervollkommnen einander wie in uns Leib und Seele, und gehen von Einem und demselben aus, unserem Erlöser: er hat gewiß seinen Aposteln den göttlichen Odem eingehaucht mit den Worten: „Empfanget den Heiligen Geist” (Joh. 20,22), aber er hat ihnen auch den Auftrag erteilt: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende Ich euch” (Joh. 20,21) und in gleichem Sinne gesagt: „Wer euch hört, der hört mich” (Luk. 10,16).
fehlbar in seinen sichtbaren Gliedern
808 Wenn man aber in der Kirche einiges wahrnimmt, was die Schwäche unserer menschlichen Natur verrät, so fällt das nicht ihrer rechtlichen Verfassung zur Last, sondern vielmehr der beklagenswerten Neigung der einzelnen zum Bösen. Diese Schwäche duldet ihr göttlicher Stifter, auch in den höheren Gliedern seines yystischen Leibes, deswegen, damit die Tugend der Herde und der Hirten erprobt werde und in allen die Verdienste des christlichen Glaubens wachsen. Denn, wie oben gesagt, Christus wollte die Sünder aus der von ihm gegründeten Gemeinschaft nicht ausgeschlossen wissen. Wenn also manche Glieder an geistlichen Gebrechen leiden, so ist das kein Grund, unsere Liebe zur Kirche zu vermindern, sondern vielmehr mit ihren Gliedern größeres Mitleid zu haben.
Ohne Fehl in seinem innersten Wesen
809 Ohne Fehl erstrahlt unsere verehrungswürdige Mutter in ihren Sakramenten, durch die sie ihre Kinder gebiert und nährt, im Glauben, den sie jederzeit unversehrt bewahrt, in ihren heiligen Gesetzen, durch die sie alle bindet, und in den evangelischen Räten, zu denen sie ermuntert, endlich in den himmlischen Gaben und Charismen, durch die sie in unerschöpflicher Fruchtbarkeit (Vgl. Vatik. Konzil, Sess. III c. 3. Denzinger Nr. 1794) unabsehbare Scharen von Märtyrern, Jungfrauen und Bekennern hervor bringt. Ihr kann man es nicht zum Vorwurf machen, wenn einige ihrer Glieder krank oder wund sind. Sie fleht ja in deren Namen selber täglich Gott an: „Vergib uns unsere Schulden”, und widmet sich unablässig ihrer geistlichen Pflege mit mütterlich starkem Herzen.
Wenn Wir also den Ausdruck ”mystischer” Leib Christi gebrauchen, so liegen schon in der Bedeutung dieses Wortes sehr ernste Lehren für uns. Solche Mahnung klingt an in den Worten des heiligen Leo: „Erkenne, Christ, deine Würde, und der göttlichen Natur einmal teilhaft geworden, kehre nicht durch unwürdiges Betragen zum alten erbärmlichen Zustand zurück ! Denke daran, wessen Hauptes und wessen Leibes Glied du bist!” (Leo Magnus, Sermo XXI, 3; PL 54, 192 – 193). –
aus: Anton Rohrbasser, Heilslehre der Kirche, Dokumente von Pius IX. bis Pius XII., 1953, S. 497 – S. 502