Papst Pius XII über die Situationsethik

Hut, bischöflicher Krummstab, Kleidungsstücke eines Papstes

Pius XII. über die Situationsethik

Papst Pius XII. sitzt in seinen päpstlichen Gewändern auf seinem Papststuhl, über ihm das päpstliche Wappen, die Hände hat er auf den Beinen liegen, er hat die Augen geschlossen.

Auszug aus der

Ansprache Papst Pius XII. vom 18. April 1952

Soyez les bienvenues

1111 …Wir haben von der „neuen Moral“ schon in Unserer Rundfunk-Ansprache an die christlichen Erzieher vom 23. März gesprochen. (vgl. Pius XII., Rundfunkansprache La famigliaè la culla über die christliche Gewissensbildung, vom 23. März 1952 AAS XLIV (1952) 270-278) Was Wir heute sagen, ist nicht nur eine Fortführung dessen, was Wir damals behandelt haben; heute wollen Wir die tiefsten Wurzeln dieser Auffassung bloß legen. Man könnte diese Auffassung „ethischen Existentialismus“, „ethischen Aktualismus“, „ethischen Individualismus“ nennen, in jenem einschränkenden Sinn, von dem Wir sogleich reden werden und wie man diese Ausdrücke anderswo in der sogenannten „Situationsethik“ anwendet.

1112 Das besondere Merkmal dieser Moral besteht darin, daß sie nicht von den allgemein gültigen Moralgesetzen, wie z. B. den Zehn Geboten, ausgeht, sondern von den tatsächlichen konkreten Umständen und Bedingungen, in denen der Mensch handeln muss, und denen entsprechend das individuelle Gewissen zu wählen und zu entscheiden hat. Dieser Tatbestand ist einmalig und ist nur einmal für jede menschliche Handlung gültig. Darum kann nach der Auffassung der Anhänger dieser Ethik die Gewissensentscheidung nicht von allgemein gültigen Begriffen, Grundsätzen und Gesetzen diktiert werden.
Der christliche Glaube gründet seine sittlichen Forderungen auf die Kenntnis der wesentlichen Wahrheiten und ihrer Beziehungen; so macht es der heilige Paulus im Römerbrief (vgl. Röm. 1,19-21)für die Religion als solche, sowohl für die christliche wie die vorchristliche: von der Schöpfung an, sagt der Apostel, ahnt und faßt der Mensch in irgendeiner Weise den Schöpfer, seine ewige Macht und seine Gottheit, und zwar mit solcher Evidenz, daß er sich verpflichtet weiß und fühlt, Gott anzuerkennen und ihn zu verehren, und daß die Vernachlässigung dieser Verehrung oder ihre Verkehrung in Götzendienst für alle Menschen und zu allen Zeiten eine schwere Schuld ist.

1114 Die neue, den Umständen sich anpassende Ethik ist, wie ihre Urheber sagen, im höchsten Grade „individuell“. Im Gewissensentscheid begegnet der einzelne Mensch unmittelbar Gott und entscheidet sich vor ihm ohne die geringste Dazwischenkunft irgendeines Gesetzes, einer Autorität, einer Gemeinde, eines Kultes oder einer Konfession irgendwelcher Art. Hier gibt es nur das Ich des Menschen und das Ich des persönlichen Gottes; nicht des Gottes des Gesetzes, sondern des Vater-Gottes, mit dem sich der Mensch in kindlicher Liebe vereinigen muss. So gesehen, ist der Gewissens-Entscheid also ein persönliches „Wagnis“ gemäß der eigenen Erkenntnis und Wertung in aller Aufrichtigkeit vor. Gott. Diese beiden Dinge, die rechte Absicht und die aufrichtige Antwort, sind das, worauf Gott schaut; die Handlung selber ist ihm gleichgültig. Die Antwort könnte also auch ein Austausch des katholischen Glaubens gegen andere Grundsätze, Ehescheidung, Schwangerschafts-Unterbrechung, Gehorsams-Verweigerung gegenüber der zuständigen Autorität in Familie, Kirche und Staat und vieles andere sein.
All das soll dem Stande der „Mündigkeit“ des Menschen und in der christlichen Ordnung der Kindschaft-Beziehung vollkommen entsprechen, die uns nach Christi Lehre beten läßt: Vater unser. Diese persönliche Sicht erspart es den Menschen, jeden Augenblick untersuchen zu müssen, ob die zu treffende Entscheidung den Gesetzes-Paragraphen und abstrakten Normen und Regeln entspricht; sie bewahrt ihn vor der Heuchelei einer pharisäischen Gesetzestreue; sie bewahrt ihn ebenso vor pathologischem Skrupel wie vor Oberflächlichkeit und Gewissenlosigkeit, weil sie die ganze Verantwortung vor Gott auf dem Christen selber lasten läßt. So reden jene, die diese neue Moral predigen.

1115 In dieser ausdrücklichen Form steht die neue Ethik dermaßen außerhalb des Glaubens und der katholischen Grundsätze, daß selbst ein Kind, das seinen Katechismus kann, es einsehen und fühlen wird. Es ist nicht schwer zu erkennen, daß die neue Morallehre aus dem Existentialismus hervor gegangen ist, der entweder von Gott absieht oder ihn kurzerhand leugnet, auf jeden Fall aber den Menschen ganz auf sich selber stellt. Es kann sein, daß die gegenwärtigen Lebensbedingungen zum Versuch geführt haben, die „neue Moral“ auf katholischen Boden zu verpflanzen, um den Gläubigen die Schwierigkeiten des christlichen Lebens erträglicher zu machen. Tatsächlich werden von Millionen unter ihnen heute Festigkeit, Geduld, Standhaftigkeit und Opfersinn in außerordentliche, Maße verlangt, wenn sie ihrem Glauben unter all den Schicksalsschlägen oder inmitten einer Umwelt, die alles in Reichweite bringt, was ein leidenschaftliches Herz ersehnen und wünschen kann, vollkommen treu bleiben wollen. Aber ein solcher Versuch kann niemals gelingen.

1116 …Die grundlegenden Verpflichtungen des Sittengesetzes stützen sich auf das Wesen und die Natur des Menschen und seine wichtigsten Beziehungen und gelten darum überall, wo es Menschen gibt. Die Hauptverpflichtungen des christlichen Gesetzes stützen sich, soweit sie über das Naturgesetz hinausreichen, auf das Wesen der vom göttlichen Erlöser eingesetzten übernatürlichen Ordnung. Aus den wesentlichen Beziehungen zwischen Mensch und Gott, zwischen Mensch und Mensch, zwischen den Ehegatten, zwischen Eltern und Kindern, aus den wesentlichen Beziehungen in Familie, Kirche und Staat folgt unter anderem, daß Gotteshass, Gotteslästerung, Götzendienst, Abfall vom wahren Glauben, Glaubensleugnung, Meineid, Mord, falsches Zeugnis, Verleumdung, Ehebruch, Missbrauch der Ehe, Selbstbefleckung, Diebstahl und Raub, Entziehung des notwendigen Lebensunterhaltes, Vorenthalten des gerechten Lohnes (vgl. Jak. 5,4), Beschlagnahme der zum Leben notwendigen Nahrungsmittel, ungerechtfertigte Preiserhöhung, vorgetäuschte Zahlungs-Unfähigkeit, ungerechte Spekulationen vom göttlichen Gesetzgeber aufs strengste verboten sind. Da gibt es nichts zu prüfen. Wie immer auch die persönliche Lage sein mag, es gibt keinen anderen Ausweg als den Gehorsam.

1117 Im übrigen stellen Wir der „Situationsethik“ drei Überlegungen oder Leitsätze entgegen. Erstens: Wir geben zu, daß Gott vor allem und immer die gute Absicht verlangt, aber diese genügt nicht. Er will auch das gute Werk. Zweitens: Es ist nicht erlaubt, Böses zu tun, damit daraus Gutes entstehe (vgl. Röm. 3,8). Doch diese Ethik handelt – vielleicht ohne sich dessen bewußt zu sein – nach dem Grundsatz, daß der Zweck die Mittel heilige. Drittens: Es kann Umstände geben, in denen der Mensch und namentlich der Christ sehr wohl wissen sollte, daß er alles, sogar das Leben, opfern muss, um seine Seele zu retten. Alle Märtyrer erinnern uns daran. Und diese sind gerade in unserer Zeit sehr zahlreich. Hätten denn die Mutter der Makkabäer und ihre Söhne, die heiligen Perpetua und Felicitas trotz ihrer neugeborenen Kinder, Maria Goretti und tausend andere Männer und Frauen, welche die Kirche verehrt, entgegen der „Situation“ den blutigen Tod umsonst oder selbst fälschlich auf sich genommen? Gewiß nicht, und sie sind mit ihrem Blut die ausdrücklichen Zeugen der Wahrheit gegenüber der „neuen Moral“.

1119 …Jesus Christus bleibt der Herr, das Haupt und der Lehrmeister jedes einzelnen Menschen, eines jeden Alters und Standes, durch seine Kirche, in der er zu wirken fortfährt. Der Christ seinerseits muss die schwierige und große Aufgabe auf sich nehmen, die Wahrheit, den Geist und das Gesetz Christi in seinem persönlichen Leben, in seinem Berufsleben, in seinem sozialen und öffentlichen Leben nach besten Kräften zur Geltung zu bringen. Das ist katholische Moral, und sie läßt der Initiative und persönlichen Verantwortung des Christen weiten Spielraum.

1120 Das haben Wir euch sagen wollen. Die Gefahren für den Glauben unserer Jugend sind heute außerordentlich zahlreich. Jeder wußte und weiß das; aber eure Denkschrift ist in dieser Hinsicht sehr lehrreich. Wir sind jedoch der Meinung, daß wenige dieser Gefahren für den Glauben so groß und so folgenschwer sind, wie die der „neuen Moral“. Die Verirrungen, zu denen solche Entstellungen und Verweichlichungen der moralischen Pflichten führen, die sich ganz natürlich aus dem Glauben ergeben, würden mit der Zeit die Vergiftung der Quellen selbst zur Folge haben. So stirbt der Glaube.
Aus allem, was Wir über den Glauben gesagt haben, werden Wir also zwei Schlussfolgerungen, zwei Richtlinien ableiten, die Wir euch zum Schluß übergeben wollen, damit sie eure ganze Aktion und euer ganzes Leben als christliche Vorkämpferinnen bestimmen:
Erstens: Der Glaube der Jugend muss ein betender Glaube sein. Die Jugend muss beten lernen. Gewiß, stets in dem Maß und in der Form, die ihrem Alter entspricht. Doch stets im Bewusstsein, daß es ohne das Gebet unmöglich ist, dem Glauben treu zu bleiben.
Zweitens: Die Jugend muss auf ihren Glauben stolz sein und es auf sich nehmen, daß er sie etwas kostet: sie muss sich von frühester Kindheit an daran gewöhnen, für ihren Glauben Opfer zu bringen, mit geradem Gewissen vor Gott zu wandeln und zu beobachten, was er gebietet. Dann wird sie von selbst in der Gottesliebe wachsen. –
aus: Anton Rohrbasser, Heilslehre der Kirche, Dokumente von Pius IX. bis Pius XII., 1953, S. 716 – S. 723

Das gesamte Dokument: Soyez les bienvenues Zur Gewissensbildung und Situationsethik

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