Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Naturgesetz
Naturgesetz, moralisches oder das natürliche Sittengesetz (lex moralis naturalis) bedeutet objektiv die Summe jener sittlichen Gesetze, die Gott jedem Menschen in und mit seiner Natur als wesentlicher Bestandteil seiner Ausrüstung für seine ewige Bestimmung mitgeteilt oder „ins Herz geschrieben“ (Röm. 2, 15) hat, subjektiv das unserem Verstand von Gott verliehene natürliche Licht, wodurch wir zwischen gut und bös zu unterscheiden vermögen. Es ist Ausfluss des ewigen Gesetzes (participatio legis aeternae in rationali creatura: Thomas, S. th. 1, 2, q. 91, a. 2) und umfaßt inhaltlich die Lebensverhältnisse des Menschen zu Gott, zum Nebenmenschen und zu sich selbst.
Da nach theistischer Auffassung das ganze Natur- und Welten-Geschehen vom ewigen Willen Gottes beherrscht wird, so kommt dieser in jedem Wesen artgemäß zum Ausdruck, nimmt darum in den vernünftigen Geschöpfen den Charakter eines Vernunftgesetzes an. Damit ist aber unserer praktischen Vernunft noch kein angeborenes, fertiges Wissen gegeben, sondern eine bloße Fähigkeit, zum Wissen zu gelangen, das sich in gleichem Verhältnis mit der Vernunft entwickelt. Auch werden diese sittlichen Wahrheiten nicht, wie Kant lehrt, aus reiner Vernunft gewonnen; vielmehr schöpft die Vernunft sie aus der unabhängig von ihr bestehenden, objektiven Seinsordnung der Dinge. Diese bietet aus dem Reichtum und der Fülle des tatsächlichen Seins für unser gesamtes Denken und Wollen bestimmte Forderungen von ganz konkretem Inhalt, eine vollständige Lebensordnung; ja wir gewinnen gleichzeitig in dieser Normierung unseres Denkens und Handelns nach der objektiven Seinsordnung der Dinge (insofern sie das wesenshaft-dauernde wie akzidentiell-wandelbare Sein der Dinge umschließt) selbst ein Prinzip des Fortschritts und der Reform.
Wenn der hl. Thomas seiner intellektualistischen Auffassung von Gesetz und Naturgesetz und einer mehr platonischen Denkweise folgend, wonach das Individuelle immer als eine Schranke der allgemeinen Idee gilt, im Naturgesetz unmittelbar nur allgemeinste und abstrakteste Grundsätze und Vorschriften sieht, so dankt er dabei bloß an das eine, unmittelbar evidente Naturrechts-Prinzip („Das Gute ist zu tun und das Böse ist zu meiden“), während er zur Erkenntnis seines Inhaltes ebenfalls an die objektive Natur- und Seinsordnung der Dinge verweist. In der vernünftigen Anlage des Menschen begründet, tritt das moralische Naturgesetz dem Menschen nicht als ein fremdes gebot (heteronom) gegenüber, sondern als sein Gesetz; die menschliche Vernunft ist nicht selbst Gesetzgeberin (autonom), wohl aber Verkünderin des ewigen göttlichen Willens. Das moralische Naturgesetz darum theonom (gottgesetzlich), wobei die wahre Thonomie die Wahrheits-Momente der Heteronomie wie der Autonomie in sich vereinigt (Schell).
Zeugen für die Existenz des moralischen Naturgesetzes, das von der modernen evolutionistischen Ethik als scholastiche Spielerei abgelehnt wird, sind das menschliche Selbstbewusstsein (Tatsache des Gewissens), das Zeugnis der Geschichte (Sophokles, Antigone V 452 ff; Aristoteles. Nik. Eth. V 7; Cicero, De legibus I, 6, 16; II, 4; Pro Mil. 4, 10), die positiv-göttliche Offenbarung (Dt. 30, 11 bis 14; Jer. 31, 33; Sap. 4, 20; Tob. 4, 16; beso Röm. 2, 14f), die Lehre der Väter (Justin, Klemens v. Alexandrien, Origenes, Tertullian, Ambrosius, Augustinus) und die kirchlichen Lehrentscheidungen (Pius` IX Enzyklika v. 10.8.1863: Denzinger 1677).
Seinem Umfang nach verpflichtet das moralische Naturgesetz alle Menschen ohne Ausnahme vom ersten Augenblick ihres Daseins an. Dieser allgemeine Charakter ist begründet in der Einheit des göttlichen Gesetzgebers, der Einheit des Menschengeschlechtes und der menschlichen Natur, der Einheit des Grundprinzips und des Gesamtzweckes der sittlichen Ordnung. Insofern freilich das moralische Naturgesetz jedem Menschen durchs eine subjektive Erkenntnis vermittelt wird, kann dessen Erkenntnis in verschiedenen Menschen, erst recht bei verschiedenen Völkern verschieden sein. Über die obersten, allgemeinsten sittlichen Grundsätze (z. B.: Füge niemandem Unrecht zu!), die in der Ethik dieselbe Bedeutung gaben wir in der Logik die allgemeinsten, unmittelbar evidenten Wahrheiten, kann kein Mensch, der zum Gebrauch der Vernunft gelangt ist, in unüberwindlichen Irrtum sein; betreffs spezieller sittlicher Vorschriften aber, die als unmittelbare Folgerungen aus den obersten Grundsätzen abgeleitet werden (z. B. die Vorschriften des Dekalogs), und noch mehr bezüglich der entfernteren Schlussfolgerungen, kann die rechte Erkenntnis durch eigene oder fremde Schuld unterdrückt werden, so daß unter Umständen auch ein entschuldbarer Irrtum bestehen könnte.
Seiner Verbindlichkeit nach ist das moralische Naturgesetz nicht, wie die nominalistische Theologie meinte, ein Ausdruck eines absoluten göttlichen Machtwillens, sondern der Abglanz von Gottes absoluter Heiligkeit. Es ist darum, wie diese, in seinen höchsten Normen unwandelbar und undispensierbar; es nimmt aber, den wechselnden Lebensverhältnissen Rechnung tragend, um so mehr den Charakter der Veränderlichkeit an, je mehr es in seinen abgeleiteten Folgerungen das Besondere und zeitgeschichtlich Bedingte regelt (Thomas, S. th. 1, 2, q. 94, a. 4). So lassen sich auch die Schwierigkeiten lösen, die im Hinblick auf vereinzelte im Alten Testament berichtete Tatsachen (Gn. 22, 2; Ex. 1, 15 -21; 3,22; 11, 2; 12, 35f; Os. 1, 2) gegen die Unveränderlichkeit des moralischen Naturgesetzes erhoben werden; entweder stehen in diesen Fällen nur relative, unabänderliche Forderungen des Naturgesetzes in Frage, oder es handelt sich um eine solche Objektänderung, daß der Gegenstand nicht mehr unter die Forderung des Gesetzes fiel. Das moralische Naturgesetz bildet nach christlicher Auffassung die Grundlage für die positive Gesetzgebung.
Wir verstehen im besonderen unter Naturrecht die Summe jener natürlichen Sittengesetze, welche das gesellschaftliche Leben der Menschen regeln. Sie schreiben vor, jedem das Seinige zu geben oder zu lassen. Es ist also ein Ausschnitt des natürlichen Sittengesetzes, als eigentliches „Recht“ noch mehr umstritten als dieses. –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. VII, 1935, Sp. 451 – Sp. 453