Aus der Weihnachtsansprache Pius XII. am 24. Dezember 1942
Das Gelöbnis für die Erneuerung der Gesellschaft
Ein großer Teil der Menschheit, und Wir stehen nicht an zu sagen, auch nicht wenige von denen, die sich Christen nennen, trägt ihren Teil der Gesamtverantwortung für die Fehlentwicklung, für die Schäden und für die Mangel an sittlichem Hochstand der heutigen Gesellschaft. Dieser Weltkrieg und alles, was mit ihm zusammen hängt, seine entferntere und nähere Vorbereitung, wie seine materiellen, rechtlichen und sittlichen Methoden und Auswirkungen, was stellen sie anders dar als einen Zusammenbruch? Vielleicht kam er den Oberflächlichen überraschend, für den Tieferblickenden war er das klar geschaute, unvermeidliche Verhängnis einer Gesellschaftsordnung, die hinter dem trügerischen Gesicht, hinter der Maske hergebrachter Formeln ihre Todeskrankheit, den zügellosen Erwerbs- und Machttrieb verbarg. Was in Friedenszeiten unter der Oberfläche blieb, das drängt nach Kriegsausbruch an den Tag mit einer traurigen Reihe von Taten, die menschlichem und christlichem Geist Hohn sprechen…
Wollen die Völker dieser verhängnisvollen Entwicklung tatenlos zusehen? Müssen nicht vielmehr gerade über den Trümmern einer Gemeinschaftsordnung, die ihre Unfähigkeit zur Schaffung des Volkswohls so erschütternd bewiesen hat, alle Hochherzigen und Gutgesinnten sich zusammen finden in dem Gelöbnis, nicht zu rasten, bis in allen Völkern und Ländern die Zahl derer Legion geworden ist, die entschlossen sind, das Gemeinschaftsleben zu dem unverrückbaren Mittelpunkt seines Kreislaufs, zum göttlichen Gesetz zurück zu führen; die bereit sind, der Persönlichkeit und der in Gott geadelten Gemeinschaft zu dienen?
Dieses Gelöbnis schuldet die Menschheit den zahllosen Toten, die im Boden der Schlachtfelder ruhen: das Opfer ihres Lebens bei Erfüllung ihrer Pflicht ist dargebracht für eine bessere Gemeinschaftsordnung.
Dieses Gelöbnis schuldet die Menschheit der unabsehbaren Trauerschar von Müttern, Witwen und Waisen, denen das Licht, der Trost und die Stütze ihres Lebens geraubt wurde.
Dieses Gelöbnis schuldet der Menschheit den unzähligen Verjagten, die der Sturmwind des Krieges aus ihrem Heimatboden entwurzelt und in fremde Länder verweht hat, wo sie mit dem Propheten klagen können: „Unser angestammtes Erbe ist den Fremden zuteil geworden, unsere Häuser den Unbekannten“.
Unser Gelöbnis schuldet die Menschheit den Hunderttausenden, die persönlich schuldlos, bisweilen nur um ihrer Nationalität oder Abstammung (siehe *) willen dem Tod geweiht oder einer fortschreitenden Verelendung preisgegeben sind.
Dieses Gelöbnis schuldet die Menschheit den vielen Tausenden von Nichtkämpfern, Frauen, Kindern, Kranken und Greisen, denen der Luftkrieg – Wir haben vor dem Schrecken von Anfang an wiederholt Unsere warnende Stimme erhoben – mit seiner unterschiedlosen oder nicht hinreichend überprüften Anwendung Leben, Besitz, Gesundheit, die Stätten der Caritas und des Gebetes geraubt hat.
Dieses Gelöbnis schuldet die Menschheit den Strömen von Tränen und Bitternis, von Leid und Qual, die aus den Ruinen des Riesenkampfes hervor brechen und mit ihrem Tosen den Himmel beschwören, das Herabkommen des Geistes erflehend, daß er die Welt vom Überhandnehmen der Gewalt und des Schreckens erlöse.
Wo könntet ihr dieses euer Gelöbnis für die Erneuerung der Gesellschaft mit größerer Zuversicht, mit innigerem Vertrauen und wirkungsvollerem Glauben niederlegen, als zu Füßen Dessen, „Den alle Völker ersehnten“? Der vor uns in der Krippe liegt in der ganzen Anmut Seiner Menschlichkeit als Kind, doch auch mit der ergreifenden Anziehungskraft Seines beginnenden Erlöserberufs? An welchem Ort könnte der hehre, heilige Kreuzzug für die Läuterung und Erneuerung der Gesellschaft sinnvollere Weihe empfangen als in Bethlehem, wo im anbetungswürdigen Geheimnis der Menschwerdung der neue Adam erschien, aus Dessen Wahrheits- und Gnadenquellen die Menschheit immer wieder Wasser des Heiles schöpfen muss, will sie nicht ermatten in der Wüste dieses Lebens? „Aus Seiner Fülle haben wir alle empfangen“.
Seine Wahrheits- und Gnadenfülle ergießt sich wie vor 20 Jahrhunderten noch heute in unverminderter Kraft über den Erdkreis. Sein Licht übermächtigt die Finsternis; Sein Liebesstrahl überwältigt die eiskalte Selbstsucht, die so viele Menschen hindert am Wachsen und Erblühen ihres besseren Wesens. Freiwillige Kreuzritter eines neuen und veredelten Gemeinschafts-Gedankens, erhebt das neue Christusbanner einer sittlichen und christlichen Wiedergeburt! Sagt Fehde an der Finsternis der Gottferne, der Kälte des Bruderzwistes! Fehde im Namen einer schwer kranken Menschheit, sie zu heilen im Namen eines christlich geadelten Gewissens! –
Unser väterlicher Segen, Glückwunsch und Ansporn, sei mit eurem hochherzigen Beginnen. Er bleibe über all denen, die zur Bekämpfung der Übel des Gemeinschaftslebens auch vor jenen Waffen nicht zurückschrecken, die wirksamer sind als das Eisen, vor harten Opfern. Über eurem Kreuzzug für ein soziales, menschliches, christliches Ideal strahle der Trost und Mut verheißende Stern, der über der Grotte von Bethlehem leuchtet, der ewig junge Glückstern der christlichen Zeit. Bei seinem Anblick ermannt sich heute wie vordem und fürder jedes gläubige Herz. „Stehen auch Heerlager wider mich auf, Ihm vertraue ich“. Denn wo dieser Stern leuchtet, ist Christus. „Wenn Er führt, gehen wir nicht irre; durch Ihn, zu Ihm laßt uns schreiten, daß wir mit Ihm auf ewig uns freun, Der heute als Kind geboren ward.“ (St. August. Anspr. 189, 4) –
aus: (Hrsg.) Wilhelm Jussen SJ, Papst Pius XII., Gerechtigkeit schafft Frieden, Reden und Enzykliken, 1946, S. 89 – S. 92
(*) Anmerkung: Der jüdische Historiker Pinchas E. Lapide schrieb zu diesem Satz: „Bei der Weihnachtsbotschaft des Jahres 1942, (…), wurde von den Nationalsozialisten die Veröffentlichung nicht nur verboten, sondern Druckereien, die man bei der Vervielfältigung faßte, wurden geschlossen oder auf andere Weise bestraft. In dieser wie in anderen Ansprachen benutzte der Papst das Wort stirps, Rasse, Stamm, in einem Zusammenhang, der sich deutlich auf die Juden bezog. Das lateinische „stirps judaeorum“ oder das italienische „stirpe die Giudei“ waren bekannte mittelalterliche Klischees, ebenso alt und bekannt wie der Begriff „deicidium – Gottesmord“. Doch um seine Absicht noch klarer zu machen, setzte der Papst hinzu: „Die Kirche würde sich selber untreu, hörte sie auf, Mutter zu sein, wollte sie taub bleiben gegenüber dem Notruf ihrer Kinder, der aus allen Schichten der Menschheit an ihr Ohr dringt.“ (Pinchas E. Lapide, Rom und die Juden, S. 230) – siehe dazu den Beitrag: Niederträchtige Verleumdungen gegen Pius XII.