Der Katechismus über den Modernismus
nach der Enzyklika Pascendi Dominici gregis des hl. Pius X.
6. Der Modernist als Apologet
§ 1. Grundsätze und Quellen
211. Ist der Apologet nach den Modernisten auch vom Philosophen abhängig und inwiefern?
„Dieser ist bei den Modernisten auch vom Philosophen abhängig und zwar in doppelter Weise. Zuerst indirekt, insofern er seinen Stoff aus der Geschichte nimmt, die, wie gesagt, nach Vorschrift des Philosophen geschrieben ist; sodann direkt, insofern er von demselben seine Lehrsätze und Urteile entlehnt.“
212. Was behaupten also die Modernisten hinsichtlich der neuen Apologetik?
„Daher diese allgemeine Vorschrift in der Schule der Modernisten, daß die neue Apologetik die Streitfragen über Religion durch historische und psychologische Untersuchungen lösen müsse.“
213. Wie geben die modernistischen Apologeten den Rationalisten jene historischen Bücher preis, die in der Kirche im Gebrauch sind?
„Darum beginnen die modernistischen Apologeten ihre Arbeit, indem sie den Rationalisten erklären, daß sie die Religion verteidigen nicht aus der Heiligen Schrift, noch aus den geschichtlichen Büchern, die allgemein in der Kirche im Gebrauch und nach der alten Methode geschrieben sind, sondern aus der wirklichen, nach modernen Regeln und in moderner Methode abgefaßten Geschichte. Dieses sagen sie keineswegs, um ad hominem zu argumentieren, sondern weil sie tatsächlich glauben, nur diese Geschichte liefere die Wahrheit.“
214, Müssen die Modernisten den Rationalisten nicht erst ihre Aufrichtigkeit beweisen?
„Sie brauchen sich keine Mühe zu geben, ihre Aufrichtigkeit im Schreiben zu behaupten: sie sind ja den Rationalisten schon bekannt, sie werden ja von diesen schon mit Lob überhäuft, weil sie mit ihnen bereits unter einer Fahne kämpften; dieses Lob, das ein wahrer Katholik verschmähen würde, nehmen sie mit Freude entgegen und stellen es dem Tadel der Kirche gegenüber.“
§ 2. Anwendung des Agnostizismus
„Sehen wir nun zu, wie irgend einer aus ihren Reihen die Apologetik betreibt.“
215. Welches Ziel verfolgt er?
„Das Ziel, das er sich gesteckt hat, ist dieses: einen noch nicht Glaubenden dahin zu bringen, daß er die Erfahrung der katholischen Religion erlange, die nach den Behauptungen der Modernisten die einzige Grundlage des Glaubens ist.“
216. Wie gelangt man zu dieser persönlichen Erfahrung der katholischen Religion?
„Ein zweifacher Weg führt dahin: ein objektiver und ein subjektiver.“
217. Wovon geht der objektive Weg aus? Wohin geht er?
„Der erste geht vom Agnostizismus aus; und strebt dahin, darzutun, daß in der Religion, besonders in der katholischen, eine vitale Kraft sei, die jeden Psychologen und ebenso jeden Historiker von gesunden Verstand überzeuge, es müsse in ihrer Geschichte etwas Unbekanntes verborgen sein.“
218. Was ist aber zu dieser Beweisführung erst notwendig?
„Dazu muss gezeigt werden, daß die katholische Religion unserer Tage ganz dieselbe sei, die Christus gestiftet hat, oder daß sie nichts anderes sei als die fortschreitende Entfaltung jenes Keimes, den Christus eingepflanzt hat.“
219. Was hat der Modernist mit diesem Keim zu tun und durch welche Formel kann er ihn bestimmen?
Zuerst ist also genau zu bestimmen, wie dieser Keim beschaffen sei. Dies soll nach ihrer Aussage durch folgende Formel geschehen: Christus hat die Ankunft des Reiches Gottes verkündigt, das in kurzer Zeit errichtet werden sollte, er selbst wird in demselben der Messias, der von Gott gegebene Gründer und Organisator, sein.“
220. Ist nun dieser Keim so bestimmt, was muss dann gezeigt werden?
„Hierauf muss gezeigt werden, auf welche Weise dieser Keim, immer immanent und permanent in der katholischen Religion, sich allmählich und nach der Geschichte entwickelt und den aufeinander folgenden Umständen angepaßt habe, aus denselben vital an sich ziehend, was immer ihm dienen könnte von den doktrinären, kultischen und kirchlichen Formen, inzwischen aber alle Hindernisse, die sich einstellen, überwand, die Gegner nieder schlug, alle Anfechtungen und Kämpfe überdauerte.“
221. Auf welches Resultat stößt man nach ihren Aussagen durch die Betrachtung dieses Tatsachenmaterials?
„Nachdem das alles gezeigt ist, nämlich die Hindernisse, Gegner, Anfechten, Kämpfe; ist ebenfalls dargetan, wie das Leben und die Fruchtbarkeit der Kirche derart sind, daß, obgleich die Entwicklungs-Gesetze in der Geschichte dieser Kirche unverletzt erscheinen, sie doch nicht hinreichen, diese Geschichte vollständig zu erklären: dann tritt das Unbekannte hervor und drängt sich von selbst auf. So reden jene.“
222. Welchen Grundfehler begehen diese Beweisführungen?
„In dieser Beweisführung beachten sie aber eines nicht, daß nämlich die Bestimmung des ursprünglichen Keimes ganz dem Apriorismus des agnostischen und evolutionistischen Philosophen angehört, und somit der Keim selbst ganz willkürlich von ihnen bestimmt wird, damit es ihrer Sache diene.“
§ 3. Anwendung der apologetischen Grundsätze
223. Finden die modernistischen Apologeten nur Bewundernswertes in den Tatsachen, die sie als Beweise für die katholische Religion anführen?
„Während nun die neuen Apologeten sich bemühen, mit den angeführten Beweisen die katholische Religion zu begründen und zu empfehlen, geben sie aus freien Stücken zu, daß in ihr manches ist, was dem Geist missfallen kann.“
224. Wird für sie wenigstens das Dogma einwandfrei sein?
„Sie verkünden sogar öffentlich und mit wenig versteckter Freude, daß sie auch im Dogma Irrtümer und Widersprüche finden: sie fügen aber bei, das lasse nicht nur eine Entschuldigung zu, sondern, was zu verwundern ist, es sei dies ganz recht geschehen.“
225. Finden sie auch in der Heiligen Schrift Irrtümer?
„So sind nach ihnen auch in der Heiligen Schrift viele wissenschaftliche und historische Irrtümer.“
226. Wie suchen sie die Heilige Schrift wegen dieser Irrtümer zu entschuldigen?
„Sie sagen, es handle sich dort ja nicht um Naturwissenschaft und Geschichte, sondern einzig um Religion und Sittenlehre. Naturwissenschaften und Geschichte sind dort nur Hüllen, unter denen die religiösen und sittlichen Erfahrungen stecken, damit diese leichter unter das Volk verbreitet werden; da das Volk dies nicht anders verstehen würde, wäre ihm eine vollkommenere Naturwissenschaft und Geschichte nicht von Nutzen, sondern schädlich gewesen. Übrigens, fügen sie bei, leben die heiligen Schriften, weil sie ihrer Natur nach religiös sind, notwendig ihr eigenes Leben; nun hat aber auch das Leben seine Wahrheit und Logik, verschieden allerdings von der rationellen Wahrheit und Logik, ja sogar einer ganz andern Ordnung angehörend, die Wahrheit nämlich der Vergleichung und Proportion einerseits zum Milieu (wie sie sagen), in dem man lebt, andererseits zum Zweck, dessentwegen man lebt.“
227. Behaupten sie dadurch nicht, daß die Irrtümer wahr und gerechtfertigt sind, sobald sie der Notwendigkeit einer vitalen Anpassung entsprechen?
„Zuletzt gehen sie so weit, daß sie ohne jede Einschränkung behaupten, alles, was sich durch das Leben erklärt, sei wahr und rechtmäßig.“
228. Können wir solche Irrtümer samt einer derartigen Rechtfertigung derselben in den heiligen Büchern annehmen?
„Wir aber, Ehrwürdige Brüder, für die es nur eine einzige Wahrheit gibt, die Wir von den heiligen Büchern halten, ‚daß sie, auf Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben, Gott zum Urheber haben‘
(Vat. Konzil, De Revel. c. II.), behaupten, es sei dies gleichbedeutend, als wenn man Gott selbst eine Not- oder Nutzlüge zuschreiben wollte; Wir sagen mit Augustinus: ‚Wird einmal bei dieser höchsten Autorität eine zweckdienliche Lüge angenommen, dann bleibt von diesen Büchern kein Stückchen mehr übrig, das man nicht, falls es dem einen oder andern schwer zu halten oder schwer zu glauben scheint, nach derselben ganz verderblichen Regel auf die Absicht oder das Interesse des lügenhaften Verfassers beziehen könnte.‘ (Brief 28) Und so wird es geschehen, wie derselbe heilige Lehrer hinzusetzt, daß ‚jeder in ihnen‘, d. h. den heiligen Schriften, ‚das glauben wird, was er will, nicht glauben wird, was er nicht will.’“
229. Welch andere Ungeheuerlichkeit behaupten diese Apologeten betreffs der Heiligen Schrift?
„Doch die modernistischen Apologeten gehen munter voran. Sie geben ferner zu, daß in der heiligen Schrift manchmal Erwägungen vorkommen, um irgend eine Lehre damit zu beweisen, die auf keiner vernünftigen Grundlage steht; derartig ist, was sich auf Weissagungen stützt.“
230. Wie versuchen sie auch hier eine Rechtfertigung der Irrtümer?
„Auch diese verteidigen sie gleichsam als Kunstgriffe des Vortrages, die durch das Leben gerechtfertigt werden. Was noch mehr? Sie geben zu, behaupten sogar, Christus habe sich offenbar getäuscht, als er die Zeit der Ankunft des Gottesreiches angab.“
231. Ist das nicht die größte Maßlosigkeit, daß sie behaupten, Christus habe geirrt?
„Das muss gar nicht sonderbar scheinen, sagen sie, denn auch er war den Gesetzen des Lebens unterworfen.“
232. Was werden sie nach all dem von den Dogmen der Kirche sagen?“
„Diese wimmeln auch von offenen Widersprüchen: jedoch, abgesehen davon, daß diese von der Logik des Lebens zugelassen werden, widerstreben sie der symbolischen Wahrheit nicht; in ihnen handelt es sich ja um das Unendliche und das Unendliche bietet unendlich viele Gesichtspunkte.“
233. Tragen die Modernisten kein Bedenken, die Widersprüche so zu rechtfertigen?
„Endlich behaupten und verteidigen sie das alles so sehr, daß sie ohne Bedenken sagen, das Unendliche könne keine größere Auszeichnung erlangen, als daß man Widersprechendes von ihm aussage! – Ist aber einmal selbst der Widerspruch angenommen, was wird dann nicht angenommen werden?“
§ 4. Anwendung der Immanenz
234. Haben die Modernisten nur den objektiven Weg, um den Nichtglaubenden zum Glauben zu führen?
„Jedoch wer noch nicht glaubt, der kann nicht nur durch objektive Gründe zum Glauben geführt werden, sondern auch durch subjektive.“
235. Auf welche philosophische Lehre stützen sich die Apologeten für diese subjektiven Gründe?
„Zu diesem Zweck greifen die modernistischen Apologeten auf die Lehren von der Immanenz zurück. Sie bemühen sich nämlich, den Menschen zu überzeugen, daß in ihm und in den innersten Tiefen seiner Natur und seines Lebens das Verlangen und das Bedürfnis einer Religion verborgen sei, nicht einer beliebigen Religion, sondern gerade einer solchen, wie die katholische ist.“
236. Wie finden sie durch die Immanenz-Lehre dieses Verlangen nach der katholischen Religion?
„Diese, sagen sie, werde geradezu postuliert von der vollkommenen Entfaltung des Lebens.“
237. Was ist hier zu bedauern?
„Hier müssen wir wiederum auf das tiefste bedauern, daß es an Katholiken nicht fehlt, dir allerdings die Lehre von der Immanenz als Lehre verwerfen, sie aber für die Apologetik verwenden.“
238. Schwächen diese Apologeten die Immanenz-Methode nicht ab und wollen sie im Menschen etwas mehr finden als eine gewisse Konvenienz mit der übernatürlichen Ordnung?
„Das betreiben sie so unvorsichtig, daß sie in de menschlichen Natur nicht nur die Fähigkeit und Konvenienz zur übernatürlichen Ordnung anzunehmen scheinen, was ja die katholischen Apologeten unter Anwendung der gebotenen Einschränkungen immer bewiesen haben, sondern eine wahre Forderung der Natur im eigentlichen Sinne des Wortes.“
239. Sind diese Apologeten im vollen Sinne des Wortes Modernisten?
„Um ganz genau zu sprechen, wird diese Forderung der katholischen Religion von jenen Modernisten heran gezogen, welche die Gemäßigteren genannt werden wollen.“
240. Was können denn die andern Modernisten mehr sagen?
„Diejenigen, welche Integralisten genannt werden können, wollen dem noch nicht Glaubenden zeigen, daß in ihm selbst jener Keim verborgen liegt, der im Bewusstsein Christi war und auf das Menschengeschlecht übertragen wurde. – So erkennen wir also, Ehrwürdige Brüder, daß die apologetische Methode der Modernisten, die nun kurz beschrieben ist, ganz mit ihren andern Lehren übereinstimmt.“
241. Was ist von dieser Methode zu halten?
„Die Methode ist, wie auch die Lehren, voller Irrtümer, nicht geeignet zu erbauen, sondern zu zerstören, nicht katholisch zu machen, sondern die Katholiken selbst zur Häresie zu führen, ja sogar jede Religion vollständig zu vernichten.“ –
aus: J.B. Lemius Obl. M. J., Der Modernismus Sr. H. Papst Pius X. Pascendi dominici gregis, 1908 S. 64 – S. 72