Der hl. Pius X. über die Entwicklung des Glaubens
nach der Enzyklika Pascendi Dominici gregis des hl. Pius X.
142. Ist nun die ganze Lehre der modernistischen Theologen behandelt?
„Um nun diese ganze Sache vom Glauben und allem, was aus dem Glauben hervor keimt, zu Ende zu führen, erübrigt, Ehrwürdige Brüder, die Ansichten der Modernisten zu hören über die Entwicklung beider.“
143. Wie kommen sie zum Hauptpunkt ihres Systems?
„Hier gilt als allgemeiner Grundsatz: In einer Religion, die lebt, ist nichts unveränderlich, deshalb muss es sich verändern. So kommen sie zu jenem, was in ihren Lehren wohl der Hauptpunkt ist, nämlich zu Entwicklung.“
144. Was unterliegt der Entwicklung in der Theologie?
„Dogma, Kirche, religiöser Kultus, die Bücher, welche wir als heilig verehren, ja selbst der Glaube, müssen den Gesetzen der Entwicklung unterliegen, wenn wir dies alles nicht als abgestorben ansehen wollen. Das kann auch gar nicht Wunder nehmen, wenn man vor Augen hält, was die Modernisten über all dies im einzelnen lehren. Ist das Entwicklungs-Gesetz aufgestellt, so ist auch gleich der Entwicklungs-Gang den Modernisten selbst gekennzeichnet.“
145. Wie entwickelte sich der Glaube nach den Modernisten?
„Sprechen wir zuerst vom Glauben. Die ursprüngliche Form des Glaubens war, wie sie sagen, roh und bei allen Menschen gleich, weil sie aus der Natur selbst des Menschen und dessen Leben hervor ging. Die vitale Entwicklung gab ihm Fortschritt, nämlich nicht durch neue von außen hinzutretende Formen, sondern dadurch, daß das religiöse Gefühl immer mehr ins Bewusstsein eindrang.“
146. Welche Merkmale zeigt der Fortschritt des Glaubens?
„Der Fortschritt selbst geschah auf zweifache Weise; zuerst negativ, durch Ausscheidung jedes äußeren Elementes, das etwa von dem Stamm oder der Nation herkommen konnte; dann positiv durch die geistige und moralische Verfeinerung des Menschen, wodurch der Begriff des Göttlichen weiter und klarer und das religiöse Gefühl reiner wurde.“
§7. Ursachen der Entwicklung: konservative und fortschrittliche Kräfte.
147. Welche Ursachen sind anzunehmen, um diese Entwicklung des Glaubens zu erklären?
„Der Fortschritt des Glaubens hat die nämlichen Ursachen, die vorher zur Erklärung seines Ursprunges angeführt wurden. Diesen müssen wir einzelne außerordentliche Männer hinzufügen, die wir Propheten nennen, deren größter Christus war.“
148. Warum verlangen die Modernisten die Mitwirkung dieser außerordentlichen Männer?
„Diese hatten einerseits in ihrem Leben und in ihren Reden etwas Geheimnisvolles, was der Glaube der Gottheit zuschrieb; andererseits haben sie neue, nie dagewesene Erfahrungen erlangt, die dem religiösen Bedürfnis ihrer Zeit entsprachen.“ –
149. Woraus entspringt besonders der Fortschritt des Dogmas?
„Der Fortschritt des Dogmas entspringt besonders daraus, daß die Hindernisse des Glaubens überwunden, die Feinde besiegt, die Widersprüche zurück gewiesen werden müssen. Dazu kommt ein beständiges Bestreben, immer tiefer einzudringen in die Glaubens-Geheimnisse.“
150. Wie kam man z. B. zum Bekenntnis der Gottheit Christi?
„So geschah es, um alle andern Beispiele zu übergehen, mit Christus; was an ihm der Glaube als göttlich wahrnahm, ist allmählich und stufenweise so gewachsen, daß man ihn zuletzt für Gott hielt.“
151. Welches war die Hauptursache in der Entwicklung des Kultus?
„Zur Entwicklung des Kultus trug besonders die Notwendigkeit bei, sich den Sitten und Überlieferungen der Völker anzupassen; ebenso das Bedürfnis, die Kraft, welche gewisse Handlungen durch die Gewohnheit erlangt hatten, auszunützen.“
152. Was gab den Antrieb zur Entwicklung für die Kirche?
„Für die Kirche endlich entsteht ein Antrieb zur Entwicklung dadurch, daß sie sich mit den geschichtlichen Verhältnissen und mit den öffentlich angenommenen Formen der weltlichen Regierung vertragen muss. So sprechen jene über die erwähnten Punkte.“
153. Welches ist die wesentliche Grundlage der Entwicklung im modernistischen System?
„Bevor wir aber weiter gehen, möchten wir noch ausdrücklich diese Lehre von den Notwendigkeiten oder Bedürfnissen hervorheben (auf italienisch sagt man noch bezeichnender die bisogni); denn diese ist für alles, was wir bisher gesehen, und auch für jene viel gerühmte Methode, die sie die historische nennen, die Grundlage und das Fundament.“
154. Hat man nun mit dieser Bedürfnistheorie die ganze modernistische Lehre von der Entwicklung?
„Um noch etwas bei der Entwicklungslehre zu verweilen, ist noch zu bemerken, daß die Bedürfnisse und Notwendigkeiten wohl zur Entwicklung antreiben; unter diesem Antrieb allein würde aber die Entwicklung leicht die Grenzen der Überlieferung überschreiten, und so von dem ursprünglichen lebenden Prinzip losgerissen eher zum Verderben als zum Fortschritt führen. Deshalb müsste man um die Ansicht der Modernisten vollständiger wieder zu geben, sagen, daß die Entwicklung aus dem Kampf zweier Kräfte entsteht, von denen die eine zum Fortschritt drängt, die andere konservativ wirkt.“
155. Welches ist in der Kirche diese konservative Kraft und wie wirkt sie?
„Die konservative Kraft in der Kirche ist in der Überlieferung enthalten; diese wird von der religiösen Autorität vertreten sowohl von Rechts wegen, da es im Wesen der Autorität liegt, die Überlieferung zu schützen, als auch tatsächlich, da die Autorität den Wechselfällen des Lebens fern steht und von dem Drang zum Fortschritt kaum oder gar nicht berührt wird.“
156. Wo befindet sich die zum Fortschritt dringende Kraft?
„Die zum Fortschritt drängende und den innersten Bedürfnissen angepaßte Kraft ist im Gegensatz zu jener im Bewusstsein der einzelnen, wo sie auch arbeitet, besonders derjenigen, die wie man sagt, mehr im vollen Leben stehen. – Hier, Ehrwürdige Brüder, sieht man schon jene äußerst verderbliche Lehre das Haupt erheben, welche die Laienwelt als Elemente des Fortschrittes in die Kirche einführt.“
157. Wie erklären die Modernisten durch Zusammenstellung dieser beiden Kräfte den Fortschritt und die Veränderungen in der Kirche?
„Durch eine Art Zusammengehen und Vertrag dieser beiden Kräfte, der konservativen und der den Fortschritt begünstigenden, der Autorität nämlich und des Bewusstseins der einzelnen, entstehen der Fortschritt und die Veränderungen. Denn das Einzelbewusstsein wenigstens mancher wirkt auf das Kollektivbewusstsein sein; dieses wirkt dann auf die Träger der Autorität, zwingt sie, Verträge zu schließen und sie zu halten.“ –
aus: J.B. Lemius Obl. M. J., Der Modernismus Sr. H. Papst Pius X. Pascendi dominici gregis, 1908 S. 45 – S. 49