Die kirchliche Lehrgewalt und der Glaubensgehorsam
Eine Erläuterung zu Satz 1-8 des Dekrets Lamentabili sane exitu von Pius X
Groß gezogen von einer Wissenschaft, die nur ihr eigenes Licht kennt und den Glanz des Übernatürlichen krankhaft scheut, von Jugend auf gewohnt, seine eigenen Wege zu gehen und keinerlei Schranken der freien Forschung anzuerkennen, musste der Modernismus eine ausgesprochen feindliche Haltung annehmen, sobald ihm die kirchliche Lehrautorität entgegen trat. Diese Kampfesstellung findet ihren Ausdruck in Satz 1-8 des Syllabus. Ein Teil der Sätze (1-5) wendet sich gegen das kirchliche Lehramt in der überlieferten Ausdehnung seiner Gewalt überhaupt, während Satz -8 sich mehr sauf die träger der Lehrautorität zu beziehen scheint. Aufgabe der folgenden Ausführungen wird es sein, in Bezug auf jeden dieser beiden Punkte die katholische Lehre klar zu legen, die verurteilten Anschauungen zu beleuchten und zu widerlegen.
§ 1. Die kirchliche Lehrgewalt.
Der katholische Glaube ist nach dem Ausspruch des Kirchenrats von Trient (Sess. 6, c. 8) der Anfang des menschlichen Heils, die Grundlage und Wurzel aller Rechtfertigung. Im Glauben wurzeln Hoffnung und Liebe und alle übernatürlichen Tugenden, aus ihm nimmt der Katholik die Beweggründe zu christlichem Handel und Wandel. Ist der Sünder auch noch so tief gefallen, so wachsen aus seinem Glauben Reueschmerz und Vorsatz zur Besserung des Lebens empor und führen ihn zur Gnade der Rechtfertigung. Wo der Glaube aber geschwunden, ist das letzte übernatürliche Band zerrissen, das den Menschen mit Gott verbindet.
Es ist daher ganz natürlich, wenn der Glaube eine der ersten Hirtensorgen der Kirche ist, wenn die Kirche die ihr von ihrem Stifter gegebene Lehrautorität aufbietet, um den Glauben in uns zu erhalten und ihn vor allen Gefahren zu bewahren. Aber ebenso natürlich ist es, wenn die Feinde der Kirche den Glauben in uns zu erschüttern sich bestreben, indem sie den Gehorsam gegen die katholische Lehrautorität zu untergraben suchen.
Es ist eine Eigentümlichkeit der Kirche Christi, daß sie nicht nur das recht hat, zu lehren, sondern auch die Vollmacht, für ihre Lehren Anerkennung und Unterwerfung zu verlangen.
Ein Gelehrter kann wohl einladen, daß man seiner Schule sich zugeselle, irgend eine Verpflichtung, ihn zu hören oder gar seine Lehren anzunehmen, besteht nicht. Man hört ihn, solange es beliebt, und je nach dem Gewicht der Gründe, die er für seine Anschauungen in die Waagschale zu legen hat, verwirft man oder stimmt zu. Letzter Richter bleibt die eigene Vernunft, und von der Menge des Gehörten nimmt man, was sich bewährt, vielleicht ein winziges Bruchstück all der Ideen, die der menschliche Lehrer uns beibringen möchte, vielleicht wird auch alles gleich an der Schwelle abgelehnt. Ganz anders verhält es sich bei der Kirche.
Sie tritt vor uns hin mit der Forderung, gehört zu werden; sie legt uns Lehren vor, die unsere menschliche Einsicht übersteigen, und verlangt von uns im Namen Gottes, daß wir Verstand und Willen beugen unter das Joch des Glaubens. Mit einer im Menschenleben so ungewohnten Lehrautorität kann die Kirche Jesu Christi nur deshalb auftreten, weil ihr göttlicher Stifter, der Gott aller Wahrheit, sie mit der Gewalt zu lehren ausgerüstet hat. Er sprach zu den Aposteln: „Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker“; er war es, der sagte: „Wer euch hört, der hört mich, und wer euch verachtet, der verachtet mich“ _ „wer glaubt und sich taufen läßt, der wird gerettet werden, wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.“ Er war es auch, der sie durch Sendung des heiligen Geistes zur Ausübung der Lehrgewalt befähigte.
Weder die Apostel noch ihre Nachfolger ließen mit dem Glauben markten. Fanden sie keine Zustimmung zum Wort Gottes unter ihren Zuhörern, so schüttelten sie den Staub von ihren Füßen und zogen weiter. „Ihr habt euch selbst des Wortes des ewigen Lebens für unwürdig erachtet, darum wenden wir uns zu den Heiden“, sprach der Völkerapostel Paulus, als die Juden der Predigt von Christus dem Messias nicht glauben wollten. Es war der Widerklang jener Worte des göttlichen Meisters, der an die zweifelnden Jünger die Frage gerichtet hatte: „Wollt auch ihr gehen?“
Die Kirche lebte daher stets der Überzeugung, daß sie den reichen Schatz anLehren, welche ihr der Heiland und die Apostel hinterlassen, auch späteren Geschlechtern zum ewigen Segen verwalten und ausspenden müsse. So ermahnte der Völkerapostel Paulus vom Kerker aus seinen Lieblingsschüler Timotheus, den Bischof von Ephesus, die gesunde Lehre stets vor Augen zu haben, den Glaubensschatz, den er von ihm empfangen, zu bewahren und künftigen Geschlechtern zu überliefern. „Was du von mir gehört hast durch viele Zeugen, das empfiehl treuen Männern, die geeignet sein werden, andere zu lehren.“ Es ist nur der Ausdruck jener tiefsten Überzeugung, welche die Bischöfe der ersten christlichen Jahrhunderte beseelte, wenn der hl. Augustinus (Contra Iulianum 1. 2, n. 34 (Migne, P. Lat. XLIV 698).) von ihnen sagt: „Was sie in der Kirche fanden, das hielten sie fest; was sie selbst gelernt hatten, das lehrten sie wieder; was sie von den Vätern empfangen, das haben sie den Kindern überliefert.“ Die Kirche hielt sich für die Säule und Grundfeste der Wahrheit, wie der Heilige Geist durch den Mund des hl. Paulus sie genannt hatte. Bevor die Kirche den Katechumen zuließ zu heiligen Taufe, verlangte sie von ihm den Gehorsam des Glaubens in dem feierlichen Bekenntnis des apostolischen Symbolums. Leugnete ein getaufter später die kirchliche Lehre, so galt er für ausgeschlossen aus der Christenheit. Nicht einmal den Gruß sollte man einem solchen bieten, lehrt der hl. Johannes.
Die Kirche nahm das Recht in Anspruch, auftauchenden Irrlehren gegenüber die von Christus und den Aposteln erhaltene Glaubens-Hinterlage zu verteidigen und die angefochtenen Lehren in genau formulierten Sätzen den Gläubigen zur Annahme vorzulegen. Dies geschah entweder in der feierlichen Versammlung der Bischöfe des christlichen Erdkreises oder durch die Stimme des obersten Hirten. Solche klar und scharf formulierte Sätze, welche in kurzer prägnanter Weise eine von Gott geoffenbarte Wahrheit zum Ausdruck brachten, bezeichneten die Gottesgelehrten später mit dem Namen Dogma oder Glaubenssatz. Bei konziliaren Beschlüssen kleideten sich die Glaubens-Definitionen oft in die Form von sog. Kanones, welche direkt die Irrlehre unter Androhung des Anathems, d. h. des Ausschlusses aus der Kirche, verurteilten. Mochte die Kirche aber positiv oder negativ die geoffenbarten Wahrheiten feststellen, immer verlangte sie die eigentliche Glaubens-Zustimmung zur definierten Lehre. Es wäre jedoch ein Irrtum, anzunehmen, die Kirche habe von den Gläubigen den eigentlichen Glaubensakt bloß verlangt, wo es sich um Definitionen eines ökumenischen Konzils oder um feierliche Entscheidungen des Papstes handelte. Dann wäre es der Kirche in den ersten drei Jahrhunderten ihres Bestandes sozusagen unmöglich gewesen, von den Christgläubigen Glaubens-Zustimmung zu verlangen; denn wir begegnen in jenen Zeiten fast nur dem täglichen ordentlichen Lehramt. Konziliare Entscheidungen lehrhaften Charakters liegen kaum vor; von Lehrentscheidungen der Päpste finden wir bloß schwache Spuren. Die Kirche forderte, und mit vollem Recht, einen eigentlichen Glaubensakt von den Christen da, wo sie kraft ihrer Autorität geoffenbarte Wahrheiten zu predigen und zur Annahme vorzulegen hatte. Pius IX. handelte ganz im Sinne auch der ersten Kirche, als er 1863 in seinem Brief an den Erzbischof von München-Freising auf die Pflicht der einfachen Gläubigen wie der katholischen Gelehrten hinwies, allüberall da den Glaubens-Gehorsam im strengsten Sinne des Wortes zu leisten, wo die Kirche in der alltäglichen Verwaltung ihres Lehramtes Wahrheiten als von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt. Seine Worte lauten:
„Selbst dann, wenn es sich um jene Unterwerfung handelte, die durch einen Akt des göttlichen Glaubens sich vollziehen muss, ist dieselbe nicht auf das zu beschränken, was durch ausdrückliche Dekrete ökumenischer Konzilien, der römischen Päpste und dieses Apostolischen Stuhles definiert ist, sondern muss auch auf das ausgedehnt werden, was durch das ordentliche Lehramt der ganzen über den Erdkreis zerstreuten Kirche als göttlich geoffenbart überliefert und daher von den katholischen Theologen in allgemeiner und ständiger Übereinstimmung als zum Glauben gehörig gehalten wird.“ (Denz. n. 1683)
Allein die Kirche musste nicht bloß den Glauben predigen, sie hatte auch die Pflicht, die Hinterlage des Glaubens zu schützen. Nun kann der Glaube aber nicht nur dadurch gefährdet werden, daß man geoffenbarte Wahrheiten direkt leugnet, sondern auch dadurch, daß man die sog. Theologischen Schlussfolgerungen bestreitet, die sich aus den geoffenbarten Wahrheiten unmittelbar ergeben, oder indem man jene natürlichen Wahrheiten in Frage zieht, auf welchen die geoffenbarten Glaubenssätze ruhen.
Soll die Kirche nach der Absicht ihres göttlichen Urhebers die Glaubens-Hinterlage bewahren, sie unvermindert und unverfälscht künftigen Generationen bis ans Ende der Zeiten übermitteln können, so muss ihre Lehrgewalt auch auf die Wahrheiten sich erstrecken, die dem Glauben zu Grunde liegen oder aus ihm naturgemäß folgen. Tatsächlich finden wir in den Konzils-Entscheidungen nicht bloß Definitionen unmittelbar geoffenbarter Wahrheiten, sondern auch Feststellungen über eine ganze Reihe von theologischen Schlussfolgerungen im strengen Sinn des Wortes. So sind manche Entscheidungen, welche die spekulative Ausgestaltung des Geheimnisses der heiligsten Dreifaltigkeit und der Menschwerdung des Herrn, der Gnade und der heiligen Sakramente betreffen, theologische Schlussfolgerungen, die aber durch definitives Urteil der Kirche bestätigt sind. Die Kirche verlangt auch hier unter Androhung des Anathems Unterwerfung des Verstandes unter ihr Urteil und Annahme der von ihr aufgestellten lehre. Es handelt sich nicht mehr um die Leistung eines eigentlichen Glaubens-Aktes, sondern nur um die feste, zweifellose Annahme einer mit der geoffenbarten Wahrheit innig verknüpften Lehre auf Grund der unfehlbaren kirchlichen Autorität. Man würde übrigens fehlgehen, wenn man annehmen wollte, theologische Schlussfolgerungen seien bloß dann verpflichtende Norm, wenn sie ausdrücklich definiert sind. Auch ohne zur eigentlichen Definition zu schreiten, hat das Lehramt der Kirche das Recht, theologische Schlussfolgerungen zur Annahme vorzulegen und deren Gegenteil zu verurteilen. Daher ermahnte Pius IX. in seinem schon oben angeführten Schreiben an den Erzbischof von München-Freising die katholischen Gelehrten, daß es notwendig für sie sei, „sich sowohl den Lehrentscheidungen der päpstlichen Kongregationen als auch denjenigen Lehrstücken zu unterwerfen, welche von der allgemeinen und stetigen Übereinstimmung der Katholiken als sichere theologische Wahrheiten und Schlussfolgerungen festgehalten werden, daß Meinungen, welche jenen Lehrstücken zuwider sind, obwohl sie nicht häretisch genannt werden können, doch eine andere theologische Zensur verdienen.“ (Denz. n. 1684) (siehe auch den Beitrag: Die Bedeutung des Briefes Tuas libenter)
Über Doktrinen der natürlichen Ordnung spricht die Kirche sich bloß dann aus, wenn dieselben entweder die notwendige Grundlage geoffenbarter Wahrheiten bilden oder im Gegenteil eine geoffenbarte Wahrheit gefährden.
Von der Befugnis, philosophische Thesen bzw. auch Behauptungen jeder andern Wissenschaft zu verurteilen, wo dieselben der geoffenbarten Wahrheit entgegen traten, musste die Kirche zwar jederzeit, besonders aber seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts Gebrauch machen, als der Unglaube einen systematischen Kampf gegen die Grundlagen der geoffenbarten Religion begann. Das Vatikanische Konzil wies auf dieses Recht und diese Pflicht der Kirche hin. „Die Kirche, welche zugleich mit der Aufgabe zu lehren auch den Befehl erhielt, die Glaubens-Hinterlage zu schützen, hat von Gott das Recht und die Pflicht, eine fälschlich sog. Wissenschaft zu verurteilen, damit keiner durch Philosophie und leeren Trug getäuscht werde. Daher ist es allen Christgläubigen verboten, solche Meinungen, welche als dem Glauben widerstrebend erkannt werden, besonders wenn sie von der Kirche verurteilt sind, als wahre Resultate der Wissenschaft zu verteidigen; die Gläubigen sind vielmehr durch aus gehalten, dergleichen Meinungen für Irrtümer anzusehen, welche den trügerischen Schein der Wahrheit zur Schau tragen.“ (Sess. 3, c. 4; Denz. n. 1798)
Mit dieser Pflicht, die Glaubens-Hinterlage zu schützen, hängt das Recht der Kirche zusammen, den Sinn der Heiligenschrift authentisch zu erklären (Trid. Sess. 4; Denz. n. 786), Glaubens-Streitigkeiten und auftauchende Glaubens-Fragen durch ihr Urteil endgültig zu entscheiden (Conc. Vat. Sess. 4, c. 4; Denz. n. 1834), Bücher zu prüfen und je nach dem Ergebnis dieselben gut zu heißen oder zu verurteilen. (Const. Leonis XIII. „Officiorum ac munerum“ vom 25. Januar 1897) –
aus: Julius Beßmer SJ, Philosophie und Theologie des Modernismus, 1912, S. 109 – S. 117