Das Wesen des Liberalismus
Der Liberalismus ist Anti Ultramontanismus
1. … Der Liberalismus ist Anti Ultramontanismus. Das ist die kürzeste, die vollständige Erklärung für sein Wesen. Er ist nicht etwa anti-ultramontan neben anderen Eigenschaften, sondern alle Eigenschaften fließen aus dieser und sind in dieser enthalten. Sie ist seine wesentliche Eigenschaft, sie ist sein Wesen, wenn wir es mit einem einzigen Wort bezeichnen wollen.
2. So verschieden auch die einzelnen Formen sind, in denen der Liberalismus auftritt, angefangen vom äußersten Radikalismus bis zur äußersten Abschwächung, so bleibt ihm doch überall der Grundzug, der seine Natur ausmacht, der Widerspruch gegen die Grundlagen und gegen die Grundform des Christentums. Dieser Widerspruch mag noch so schwächlich, er mag ihm selber kaum klar sein, vorhanden ist er doch. Deshalb bietet der Liberalismus trotz seiner unzähligen Verschiedenheiten und Abstufungen den Eindruck eines geschlossenen Systems, einer einheitlichen Richtung, sei es, daß er die Grundlagen des Christentums ausdrücklich angreift, sei es, daß er ihrer Anwendung und ihren Folgen ausweichen will.
3. Auf der anderen Seite steht eine ebenso und noch weit besser geschlossene und einheitliche Macht, die katholische Kirche. Sie ist die von Christus gegebene sichtbare Gestalt oder die Verkörperung des Übernatürlichen. Das Übernatürliche ist uns auf keinem anderen Wege zugänglich als durch die Kirche. Wer den Weg zum Übernatürlichen nicht durch sie finden will, der gelangt nicht zu ihm. Um sie herum gibt es keinen Weg zum Ziele. Entweder stürzt einer in den Abgrund der Häresie und des Schismas, oder er muss mit ihr zusammenstoßen.
4. Ist also der Liberalismus das, was sein Wesen ausmacht, und ist die Kirche das, als was sie Christus gestiftet hat, dann ist der Zusammenstoß unvermeidlich. Will sich der Liberalismus nicht vollständig und aufrichtig selbst preisgeben, so muss er mit der Macht, mit der Autorität der Kirche in Kampf kommen, oder, wenn er dazu nicht den Mut und nicht die Kraft hat, wenigstens sich schadlos halten durch jene bekannten Äußerungen und Schmerzen über die angebliche Überspannung der kirchlichen Autorität oder über deren unbefugte Ausdehnung auf Gebiete, die ihr nach seiner Behauptung nicht unterstehen, das politische, das wirtschaftliche, kurz das öffentliche Leben, der Betrieb der Wissenschaft und der Kultureinrichtungen.
Der Grund liegt in der Natur des Christentums. Wäre dieses nur eine Weltanschauung oder eine leere Idee, oder wäre die Kirche nur ein Zusatz zum Christentum, nur eine nähere Bestimmung oder Erweiterung seines Wesens, könnte man die Kirche vom Christentum unterscheiden wie das Schatzhaus von dem Schatz, der darin geborgen ist, wie die Strebepfeiler, die dem Kirchengebäude größere Festigkeit geben, vom eigentlichen Bau, dann wäre der Gegensatz gegen die Kirche nicht unvermeidlich. Nun aber hat Christus das Übernatürliche und die Verbindung des Übernatürlichen mit dem Natürlichen nur gegeben im Christentum, und das Christentum nur in Form der Kirche. Wer also irgendwie in irgend einem Punkte mit der übernatürlichen Ordnung in Widerstreit gerät, oder wer irgendwie die natürliche Ordnung, sei es völlig, sei es in irgend einem Stück, aus der Verbindung mit der übernatürlichen Ordnung losreißen will, der stößt immer mit der Kirche zusammen.
5. Noch mehr. Der Herr hat die Verkörperung des Übernatürlichen in der Kirche in der Weise durchgeführt, daß er die Kirche auf eine sichtbare menschliche Persönlichkeit, auf Petrus gegründet hat. Ihn hat er zum Grundstein gemacht. Auf ihn wurden die Apostel, auf diese die Kirche gebaut. Das ist alles von unten aufgebaut, aus dem Fundament herausgewachsen als ein einheitliches, lebendiges, unteilbares Ganze. Die Kirche ist kein bloßes Gedankending, keine logische oder ziffermäßige Zusammenfassung vieler einzelner Personen, kein willkürliches Menschenwerk, kein geschichtliches Ergebnis, sondern sie ist der von Christus selbst aufgerichtete Bau, dessen Säulen die Apostel, dessen Grundlage Petrus ist. Ihm hat der Herr überdies die Schlüssel des Himmelreichs übergeben, also die Verwaltung aller übernatürlichen Güter, die in der Kirche niedergelegt sind.
Der Primat ist also nicht eine Entwicklung, nicht eine Folge der kirchlichen Ausgestaltung des Christentums, sondern wie das Christentum nur in Form der Kirche besteht, so die Kirche nur auf dem Primat. Das Papsttum ist die Voraussetzung, der Ausgangspunkt für das Christentum, der Inbegriff seiner Güter, der Vollbesitz seiner Macht, die Einigung all seiner Wesensbestandteile, der Schlussstein, über den hinaus nichts in der Kirche denkbar ist, die unerläßliche Voraussetzung ihrer Festigkeit und ihres Bestandes, die Bürgschaft und die Sicherstellung für alle einzelnen Gewalten in der Kirche, die ihrer Selbständigkeit nur gewiß sind durch den Zusammenschluss mit ihm und durch die ihnen gebührende Unterordnung unter ihn.
6. Demgemäß ist es ganz undenkbar, daß jemand gegen irgend eines der Güter, die der Kirche anvertraut sind, und daß jemand insbesondere gegen die Grundlagen des Christentums im Denken oder im Handeln fehle, ohne daß er auf den Primat stieße. Niemand rüttelt an irgend einem Stücke der katholischen Lehre oder des katholischen Lebens, ohne daß er fände, er habe es hier mit dem Primat zu tun. Niemand kann aber auch umgekehrt gegen angebliche Überspannung der päpstlichen Macht kämpfen, ohne daß er an der Autorität, ohne daß er an der Kirche, ohne daß er am Christentum, ohne daß er an der übernatürlichen Ordnung rüttelt. Hier hängt alles zusammen in unzertrennlicher Einheit, oder besser gesagt, hier ist alles eins, nur immer klarer und faßlicher zusammengestellt, Übernatur, Christentum, Kirche, Hierarchie, Autorität, Papsttum. Wahrhaftig ein Gebäude von überwältigender Kraft, Einheit und Einfachheit.
7. Dies ist die schlichte katholische Lehre. Man hat diese in alten Tagen Ultramontanismus genannt und sie unter diesem Titel der öffentlichen Missgunst preisgegeben. Seit den Tagen des vatikanischen Konzils wagt man es nicht mehr so leicht, zwischen der katholischen Glaubenslehre und dem Ultramontanismus einen Unterschied zu machen. Aber dafür unterscheidet man jetzt um so sorgfältiger zwischen den Katholiken, den guten, den echten Katholiken, und den Ultramontanen, oder, weil es denn doch immer seine Bedenken hat, dieses Wort zu gebrauchen, den Ultras, den Hyperkatholiken, den Hyperorthodoxen und anderen Hypers, denn ein griechisches Fremdwort klingt ja immer vornehmer als ein lateinisches…
9. Was die anti-ultramontanen Lehren betrifft, so zeigt der Liberalismus seine Proteus-Natur (Anm.: undeutlicher, wechselnder Charakter) kaum einmal klarer als in dieser Frage. Bald fließt er über von Versicherungen der Treue, der Verehrung und Unterwürfigkeit unter Rom, wenn er glaubt, dadurch seine Zwecke besser erreichen zu können. Bald scheint er schlechterdings nichts von Rom zu wissen, so schweigt er darüber. Bald droht er mit dem Abfall und lähmt so dessen Maßregeln. Bald ruft er Rom an um Maßregeln gegen die „Ultras“, oder, wie er sich ausdrückt, „die unbesonnenen und verwegenen Eiferer für die Rechte des Papstes“, die der katholischen Religion schaden und deren Feinden nützen, die echten Katholiken aber zur Verzweiflung bringen und zum Kampf gegen Rom nötigen. Ihnen, nicht den Ultramontanen, sei alles Unheil in der Kirche, alle Uneinigkeit unter den Katholiken, alle Verstimmung gegen Rom zuzuschreiben. Wenn der Papst diesen Hypers nicht ein Maß setze, sondern zu ihren Übertreibungen schweige, dann müßten sich „die armen Katholiken nicht weniger gegen den Papst, ihren Vater, als gegen die Häretiker, ihre Feinde, wehren.“ Mehr als gegen die Häretiker! –
aus: Albert Maria Weiß O.P. Liberalismus und Christentum, 1914, S. 127 – S. 130