Wo der verlorene Glauben gesucht werden muss
1. Wo du deinen Glauben gelassen hast, da musst du ihn wieder suchen, also sagt ein altes Sprichwort. Damit ist dem, der das Unglück gehabt hat, seinen Glauben zu verlieren, der Weg gewiesen, auf dem er ihn einzig wieder finden kann: er muss ihn bei sich selber suchen.
Keiner hat den Glauben anderswo verloren als an sich selber. An Gottes Heiligkeit, an der ewigen Wahrheit, an der unendlichen Geduld und Barmherzigkeit Gottes ist noch niemand irre geworden und wird nie jemand irre werden, so wenig jemand irre wird an dem Stab, der ihn beim Gehen stützt. Sobald ihn aber seine eigenen Kräfte verlassen, sobald seine Knie zu wanken beginnen, dann stürzt er auf den Stock, der ihn bisher aufrecht erhalten hat, und tut sich daran wehe. Und dann kann es wohl kommen, wenn er sich die Schuld davon nicht selber beimessen will, daß er dem unschuldigen Stab zürnt und ihn als hinderlich zur Seite wirft. Dies ist der Weg, auf dem der Mensch gewöhnlich Gott verliert. Du bist dein eigenes Verderben, Israel, sagt mit Recht der Prophet. (Os. 13, 9)
Sich selber also kann der Mensch preisgeben. Diese Wahrheit bedarf leider keines Beweises. Ist aber dieses Unheil eingetreten, dann ist einem alles feil, wertlos und verächtlich. Wer sich selbst nicht gut ist, zu was soll der gut sein? (Sir. 14, 5) Einmal an sich selber irre geworden, wird der Mensch an allem irre. Hat einer sein Bestes weggeworfen, so traut er keinem mehr etwas Gutes zu. Wie der Mensch selber ist, so denkt er alle anderen. Und trifft er einen, dessen Wandel ihn verurteilt, so sucht er ihn entweder sich gleich zu machen oder zu beseitigen. Deshalb findet er, um den Wurm des Gewissens zu beschwichtigen, zuletzt auch keine Schwierigkeit mehr darin, eine höhere Wahrheit, eine vergeltende Gerechtigkeit und vor allem das, was jetzt an Gott das Unheimlichste geworden ist, seine Heiligkeit, abzuleugnen. Nicht als ob er Gott aus Überzeugung leugnete. Ach, was gäbe er darum, könnte er die Überzeugung gewinnen, daß es keinen gebe! Eben deshalb leugnet er ja, um seine Überzeugung zu übertäuben; eben deshalb wird er so heftig, weil sie sich nicht ersticken läßt; eben deshalb zerfällt er mit allem, weil er mit ihr zerfallen ist.
Während der Weg des Heiles von Gott, dem Urheber alles Guten, ausgeht und den Menschen dorthin zurückführt, von wo er ausgegangen ist, zu Gott, dem Quell der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Seligkeit, fängt also umgekehrt der Unglaube beim Menschen an und wagt sich erst dann an Gott, wenn der Mensch sich selbst verwüstet hat, kehrt aber zuletzt seinen bitteren Stachel wieder gegen den Menschen, der ihm den Ursprung gegeben hat.
Erst Sünde aus innerer Spaltung, mit anderen Worten, Untreue gegen das Gewissen, also Abfall von sich selbst; dann Angriff auf Gott, entweder durch Anschuldigung Gottes, als wäre er schuld an der Sünde, oder durch völlige Gottesleugnung; endlich voller Zerfall mit sich selbst, sei es durch Verzweiflung, sei es durch Verhärtung und durch verstocktes Festhalten am Unrecht, ja an der Unwahrheit, dann Kampf gegen die unbequem gewordene Wahrheit, zuletzt der Versuch, die Wahrheit auszurotten, indem die Unwahrheit an ihre Stelle gesetzt wird.
Das sind die drei Stufen, über die hinab jeder schreitet, der sich bis zum vollen Abfall von Gott verirrt. Man nennt das Ergebnis in seiner schlimmsten Gestalt Unglauben der Gottesleugnung; man könnte es ebenso gut auch Untreue gegen sich selbst, Verleugnung des eigenen besseren Ich nennen. Denn den Grund zu allem hat der Mensch auf der ersten Stufe gelegt, damals als er sich selber durch die Sünde preisgegeben hat.
Die seltsamen Ausdrücke, die die moderne Psychologie von gewissen außerordentlichen psychischen Zuständen gebraucht, passen ganz genau auf den Sünder und den Ungläubigen, die Ausdrücke von den zwei Seelen, vom Doppel-Ich, von der Entzweiung oder von dem Brechen der Persönlichkeit, von der pathologischen Lüge. Sein eigenes besseres Ich kann der Mensch nicht vernichten. Nun setzt er ihm ein gefälschtes Ich an die Seite oder gegenüber. Daher sein trauriger Zustand.
Dort muss er also den verlorenen Glauben wie die verlorene Tugend wieder suchen, wo er beides verloren hat. Für den, der irre gegangen ist, hat darum der Geist Gottes keinen andern Rat als den Mahnruf: Zurück zu dir selber! (Is. 46, 8)
2. Aber merkwürdig! Gerade dieses Wort ist es, was den Menschen mit dem größten Schrecken erfüllt. Vor nichts bangt ihm so wie vor sich und vor allem, was ihn zu sich selber zurückführen könnte. Sehr wahr sagt La Bruyère: all unser Übel kommt davon, daß wir es bei uns allein nicht aushalten können; daher das Spiel, die Ausschweifung, der Wein, daher die Frauen, daher der Klatsch, die Selbst- und Gottvergessenheit. (La Bruyère, Les Caractères ch. 11/ III, Paris 1819, 58) Das allein zeigt schon, wie tief der Mensch zerrüttet ist, zeigt aber auch, wo der Kern all seiner Übel liegt.
Zwar wenn man auf das Reden gehen wollte, dann wäre dieser überall, nur nicht im Menschen. Da gibt es kein Ding im Himmel, auf Erden und unter der Erde, dem er nicht die Schuld an seinem Elend aufbürdete. Am liebsten schiebt er die Ursache all seines Unheils auf Gott, das heißt auf die angeblich so übertriebenen oder unwahren Vorstellungen, die uns Glaube und Religion von Gott beibringen, oder auf die vermeintlich unerschwinglichen Verpflichten, die sie uns in seinem Namen auferlegen. Aber das Benehmen straft die Worte Lügen. Es gibt etwas, was der Mensch noch weit mehr fürchtet und flieht als Gott. Das ist er selber. Mit nichts macht man ihn unglücklicher, als wenn man ihn zur Einkehr in sich selber nötigen will. Das unerträglichste für die meisten wäre, wollte man sie abgeschlossen von aller Welt in strenger Einzelhaft mit sich selbst zusammen sperren. Hunderte würden in dieser Gesellschaft Hand an sich selber legen. So, wenn man sie frei gehen läßt, sind sie freilich auch unglücklich. Aber sie können dann wenigstens, wenn auch nicht sich selber fliehen, so doch die lästige Gesellschaft des eigenen Ich durch Zerstreuung und Übertäubung etwas vergessen, sie können die Schuld an ihrer Mißvergnügtheit anders wohin verlegen, sie haben den Ausweg, die menschliche Verdorbenheit in anderen anzuklagen und die Verantwortung für das Elend des Daseins dort zu suchen, wo ihnen die menschliche Natur in einem Bild ihresgleichen entgegen tritt.
Das ist einer der häßlichsten Züge in der Geschichte der Menschheit, und dennoch einer der lehrreichsten, dieses nie verstummende Seufzen, Schelten, Verdammen des Menschen wider den Menschen. Wie kleinlich und ungerecht ist die Geringschätzung der Männer gegen die Frauen, deren sie doch nie entbehren können! Wie lächerlich die Klage der Frauen über die Tyrannei der Männer, unter deren Joch sie sich flüchten wie die Schwalben unter das Dach beim heranziehenden Gewitter! Wie kindisch, wie eitel und lügenhaft ist die Verachtung jedes fremden Volkswesens, die, um das eigenen Babel erträglich zu finden, überall nur Barbaren und menschenunwürdige Ungesittung sehen will! Wie unerträglich die Wegwerfung, mit der eine stolze Halbbildung und Stückwissenschaft auf die minder gebildete oder auch verbildete Menschheit herab sieht! Mit unwilligem Staunen lesen wir die schmählichen Ausdrücke, womit die griechischen Kyniker und Stoiker in ihrem wahrhaft sehr grundlosen Hochmut jeden bedachten, der Menschenwürde und Menschenbildung menschenwürdiger verstand als sie. Aber warum den Alten zürnen, während der plumpe Geldstolz und der rohe Adelsstolz und der dumme Wissensstolz täglich dieselben Auswüchse der Menschenverachtung unter uns zeitigen?
Für eines sind übrigens alle diese rohen Äußerungen über den Menschen, von denen die Literatur und die Salons widerhallen, für eines, sagen wir, sind sie gut: sie zeigen uns wenigstens, daß auch die moderne Bildung und Wissenschaft den Menschen so wenig gefunden hat als die alte. Seit Voltaire, Rousseau und Kant besteht ein wahrer Wetteifer unter den Denkern, wer über den Menschen geringschätziger zu sprechen imstande sei. Die Lehre von dem radikal Bösen im Menschen, welche Kant – zu seiner Entschuldigung sei es gesagt – in der Zeit der großen Revolution mit solchem Nachdruck vorgetragen hat, daß sie fast alle schulen zu beherrschen angefangen hat, diese abstoßende Lehre wird uns von jenem modernen Philosophen, der es in der Menschenverachtung selbst einem Diogenes zuvorgetan haben möchte, von Schopenhauer, in vollem Ernst als der Mittelpunkt der ganzen modernen Ethik und als der Triumph menschlichen Tiefsinnes angepriesen. Schopenhauer selbst brachte in diesem Stück ausnahmsweise Theorie und Praxis in Einklang und betrachtete in seinem krankhaften Stolz gleich einem Pharisäer oder Brahminen jede Berührung mit den Menschen als Befleckung. (Janssen, Zeit- und Lebensbilder 127) Leider ist er hierin zum Lehrmeister für unsere Gesellschaft geworden. Was nur immer auf den stolzen Titel von vornehmen oder gar von führenden Geistern Anspruch macht, und das ist der höchste Ehrgeiz des modernen Menschen, das sucht zwischen sich und der ordinären Menschheit eine Scheidung durchzuführen, wie sie selbst das indische Kastensystem nicht schroffer zustande bringen konnte. Gerade der, welcher als der Hauptvertreter der ganzen neueren Kultur gefeiert zu werden pflegt, Alexander von Humboldt, ist ein trauriges Beispiel hierfür. Er schämt sich nicht, beständig in seinen Briefen zu klagen, der Umgang mit den Menschen, und zwar mit Menschen, di zu den edelsten seiner Zeitgenossen gehören, erschwere ihm das Dasein, und das in Ausdrücken von solcher Bitterkeit und Rohheit, daß sie sich nicht gut wiedergeben lassen.
3. Was sind denn nun aber das für Menschen, über welche diese großen Geister so geringschätzig sprechen? Etwa dir furchtbaren Kannibalen der Südsee, die keinen größeren Genuss kennen, als wenn ihnen die stürmische See eine ihrer Mitmenschen zum Festmahl ans ungastliche Ufer gespült hat? Oder jene Grausen erregenden Gestalten aus Inner-Afrika und Polynesien, die mit ihrer Kunst, das Bild und Werk Gottes am menschlichen Leib zu verunzieren, sogar die Triumphe europäischer Toilette in Schatten stellen? Ihnen gegenüber wären so harte Worte erklärlich, wenn auch nicht gerechtfertigt. Aber nein, es handelt sich nicht um Barbaren, sondern um Kulturmenschen, oft gerade um die Gebildetsten unter diesen…
Es macht beinahe den Eindruck, als ob die Menschen gerade die Kulturmenschen am meisten fürchteten und haßten, und als ob sie die Kulturlaster schlimmer fänden denn alle Verkommenheit der Wilden. Rousseau hat bekanntlich behauptet, und Tolstoi sagt es ihm nach, die Kultur sei der Anfing aller Verkommenheit. Ob sie damit gerade die Menschenfresser für die edelsten aller Menschen ausgeben wollen, können wir nicht sagen. Wenn ja, so ist das Geschmackssache, die sich freilich bei Rousseau leicht erklärt, da er mit einem überfeinerten Geschlecht verkehrte, das sich kurz nach ihm in der französischen Revolution allen unzivilisierten Menschenfressern an Blutdurst so gewaltig überlegen zeigte. Eine Wahrheit liegt jedenfalls in dieser Anklage wider die Kultur, das unwillkürliche Geständnis aus dem Mund derer, die sonst die begeistertsten Vorkämpfer für die Emanzipation der Weltbildung vom Joch des Christentums sind, das Geständnis, sagen wir, daß diese Kultur ihre düsteren, ihre sehr bedenklichen Seiten hat… Zeigt sich aber, daß selbst deren eifrigste Apostel mit dem nach ihren Grundsätzen erzogenen Menschen so unzufrieden sind, dann dürfen wir wohl den Schluß ziehen, daß die herkömmliche Weltbildung auf keinen Fall den Menschen edler und besser und achtungswürdiger macht. –
aus: Albert M. Weiß, Apologetik, Bd. 1, 1905, S. 39-46