Der Mensch kann durch Vernunft erkennen

Was der Mensch durch seine Vernunft erkennen kann

1. Das Dasein eines Schöpfers

Das erste, was aber der Mensch durch seine eigene Vernunft erkennen kann, und wenn er sie anders recht und ernstlich gebraucht, erkennen muss, ist das Dasein eines Schöpfers, einer Erhalters und Regierers dieser Welt.
Ist also die erste und größte Pflicht des Menschen die, daß er seine Vernunft gebrauche, so ist die erste Wahrheit, die er anzuerkennen verpflichtet ist, die daß es einen lebendigen Gott gibt, einen Gott, von dem alles ausgeht als von seiner ersten Ursache, einen Gott, der über allen Dingen steht als deren oberster Herr und Leiter, einen Gott, auf den sich alles bezieht als auf das einzige, letzte Ziel.
Das Dasein Gottes ist kein Glaubensartikel im eigentlichen Sinn, sondern eine Vernunft-Wahrheit. (1) Um das Wirken eines überweltlichen, lebendigen, persönlichen Gottes zu erkennen, dazu bedarf keiner der Offenbarung. Dazu genügt es, daß einer von seiner Vernunft Gebrauch mache. Denn so groß, sagt Augustinus, ist der Einfluss, den der wahre Gott auf seine Schöpfung übt, daß er seinen vernünftigen Geschöpfen nicht verborgen bleiben kann, wenn sie nur denkend seine Werke betrachten. (2)
Dies ist auch die ausdrückliche Lehre der Heiligen Schrift sowie der katholischen Kirche. (3) Gott hat die Spuren seines denkenden, weisen ordnenden Geistes, seiner unendlichen, ewigen, regierenden Kraft, seiner herab lassenden, freigebigen, heiligen Liebe in den Dingen, die er schuf, so deutlich zum Ausdruck gebracht, daß es keine Entschuldigung dafür gibt, wenn einer sie nicht kennt.(Röm. 1, 19 20), und daß der, welcher aus den sichtbaren Dingen den Unsichtbaren, aus den Werken den Meister nicht findet, den Zweck seines Daseins verfehlt hat. (Weish. 13, 1ff)

Anmerkungen:

(1) Thomas 1, q. 2, a. 2 ad 1; u.a.
(2) Augustin. In Ioan. tract. 106, 4.
(3) Concil. Vatican. s. 3, cap. 2, can. 1 (Denzinger, Enchiridion 1634 1653)

2. Die Gottesverehrung

Die zweite Wahrheit, die sich der menschlichen Vernunft auch ohne Offenbarung von selber nahe legt, ergibt sich unmittelbar aus dem ersten. Wenn Gott uns und all das Unsrige erschaffen hat und erhält, so kann es nicht genug sein, bloß im Innersten unseres Geistes an sein Dasein zu glauben, sondern wir müssen dann auch Gottes Oberherrlichkeit durch unsern Dienst anerkennen und uns durch die Tat und im Werk für seine Wohltaten dankbar zeigen…
Die, welche die Gottesverehrung aus der Reihe der menschlichen Pflichten streichen wollen, müssen das also mit der natürlichen Religion und mit der Vernunft abmachen, nicht mit der übernatürlichen Offenbarung. Denn zu Dank und zu Bitte, zu Liebe und zu Opfern, kurz, zum äußerlichen Gottesdienst verpflichtet uns nach dem Zeugnis der Vernunft und nach dem Brauch der gesamten Menschheit schon unsere vernünftige Natur. Das Christentum hat sich in diesem Punkt wie so oft bloß als die echte Religion der Natur und der Vernunft erwiesen, indem es mit neuem Nachdruck die Lehre einschärfte, daß ein Dienst Gottes im Kopf und im herzen allein nicht genügt, sondern daß er in einer unserer Natur angemessenen, also sinnfälligen Weise zum Ausdruck gebracht werden muss. Wer also die Forderung der christlichen Religion verwirft, der kann dies nur um den Preis tun, daß er zugleich die Stimme der Vernunft, das heißt die menschliche Natur verleugnet.

3. Unsterblichkeit der Seele

Fürs dritte sagt uns die Vernunft, daß die nach dem Bilde des unvergänglichen, unveränderlichen, ewigen Gottes geschaffene Seele ebenfalls ewig und unsterblich ist.
Auch die Unsterblichkeit der Seele ist eine von jenen Wahrheiten, welche die menschliche Vernunft aus sich selber finden kann und finden muss, eine von jenen Wahrheiten, an denen sie tatsächlich allenthalben und zu allen Zeiten fest gehalten hat.

4. Grundlagen der Sittlichkeit

Das vierte, was die Vernunft dem Menschen zu erkennen lehrt, sind die Grundlagen der Sittlichkeit, der Unterschied von gut und böse und die Verpflichtung, das Gute zu tun und das Böse zu meiden.
Indem die Vernunft Gott als das vollkommenste Wesen kennen lehrt, stellt sie uns das Ideal unseres Lebens vor Augen, Ziel, Vorbild und Richtschnur zugleich. Ziel und Vorbild muss für uns natürlich das sein, was wir als das Vollkommenste erkennen. Dadurch wird eben dieses Wesen aber auch für uns zur Richtschnur, nach der wir unser Verhalten zu bestimmen haben. Als dieses Wesen hat uns die Vernunft Gott gezeigt. Darum sagt sie auch, daß das, was mit seinem Wesen und Willen übereinstimmt, gut, daß das, was ihm widerspricht, böse ist.
Daß in diesem Stück oft Irrtümer und schwere Irrtümer unterlaufen, darf nicht wundernehmen. Vergeht sich doch der menschliche Geist so leicht in rein abstrakten Dingen, die ihm keinerlei Verpflichtung und Opfer auferlegen. Wie selbstverständlich ist dann erst das Irren, sobald es sich um Fragen praktischer Natur handelt, die seinen Leidenschaften so nahe treten! Darum können wir hier, wenn wir den Menschen nehmen, wie er in Wirklichkeit ist, kaum anderes als vielfache und große Verdunklungen der Wahrheit erwarten.
Um die Stimme der Vernunft zu übertäuben in Dingen, bei denen die bösen Neigungen des Herzens ein so entscheidendes Wort mitsprechen, dazu waren auch die Alten gebildet und gewandt genug. Schon die Sophisten vertraten den Satz unserer modernen Libertiner, die Unterscheidung von gut und böse und die darauf gegründeten Gesetze seien nicht objektiv fest stehende und allgemein verpflichtende Maßstäbe, sondern lediglich willkürliche Annahmen, gesellschaftliche Abmachungen, Nützlichkeits-Rücksichten und künstlich fortgepflanzte und anerzogene Vorurteile…

Auch wenn einer das Gesetz des Christentums weggeworfen hat, bleibt nichts desto weniger das Gesetz auf ihm, ja mehr noch, in ihm, jenes Gesetz, das ihm seine Vernunft verkündigt, jenes Gesetz, dessen er so lange nicht los wird, als es ihm nicht gelingt, seine Vernunft zu verleugnen. Was hat er also gewonnen? Er hat das Gesetz Christi von sich gewiesen, jenes Gesetz, das ihm vor dem Richter hundertmal die Ausrede erlaubte: Das habe ich nicht gewußt, das habe ich nicht so genau begriffen. Denn jedes positive Gesetz läßt viele Entschuldigungen zu. Aber hat ein sein eigenes Gesetz bewahrt, von dem es nie eine Ausflucht gibt. Welche Entschuldigung kann einer auch vorbringen, wenn er gerichtet wird nach dem Gesetz, das er unvertilgbar in seiner eigenen Vernunft mit sich herum trägt? So wird auch über gut und böse die Vernunft gerade denen, die sich mit so viel Stolz auf sie allein berufen, das strengste Gericht zuziehen. Wenn ihr blind wäret, wird der Herr sprechen, hättet ihr keine Schuld; so aber sagt ihr selber: Wir sehen, darum bleibt euch eure Schuld. (Joh. 9, 41)

5. Vergeltung im Jenseits

Das fünfte endlich, worüber uns die Vernunft unwidersprechliches Zeugnis gibt, ist die Vergeltung im jenseitigen Leben. Wenn es eine Gerechtigkeit und Macht in Gott gibt, wenn der Mensch mit Freiheit und folglich mit Verantwortung handelt, wenn zwischen gut und böse ein Unterschiede ist, den nicht die Willkür der Menschen, sondern das ewige göttliche Gesetz festgestellt hat, und wenn die Seele nach dem Tode fortdauert, so muss es drüben im jenseitigen Leben so gut ein Gericht und eine Vergeltung geben wie hier auf Erden. Denn daß in diesem Dasein das Gute keineswegs immer seinen Lohn und das Böse selten seine ganze Strafe findet, das ist eine Wahrheit, die durch die ewigen Klagen und Vorwürfe der Menschen so allgemein bezeugt ist wie selten eine andere…

Läßt sich also eine größere Schuld und Verantwortung denken, als wenn man der Vernunft Trotz bietet aus Hass gegen den Glauben? Kann es einen schwereren Missbrauch der Vernunft geben, als wenn man sich auf sie beruft, aber nur unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie dem Glauben Hohn spreche, und sie verwirft in dem Augenblick, da sie mit dem Glauben zusammen stimmt? Heißt das nicht der Vernunft Fesseln anlegen und Schranken stecken und ihr die freie Bewegung verbieten?
Für den Glauben ist das keine Schande. Im Gegenteil, es spricht nicht wenig zu seinen Gunsten, wenn die, welche ihn bekämpfen, das mit Erfolg nur unter der Bedingung können, daß sie der Vernunft die Freiheit nehmen und das Wort entziehen müssen. Aber auf welcher Seite sind dann die Kämpfer für die Rechte der Vernunft? Können wir da bei jenen vergeblichen Vernunft-Freunden an Ernst und an aufrichtige Liebe zur Wahrheit glauben? Nein, es fehlt ihnen an beidem.. –
aus: Albert M. Weiß, Apologetik, Bd. 1, 1905, S. 68 -85

Tags: Apologie

Verwandte Beiträge

Heilige Lioba Äbtissin von Tauberbischofsheim
Buch mit Kruzifix
Die ersten Nachkommen Kain und Abel