Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Traditionalismus
Traditionalismus, der von katholischen Gelehrten im 19. Jahrhundert unternommene Versuch, die gesamte sittliche und religiöse Erkenntnis einzig auf die in einer ununterbrochenen Überlieferung der Menschheit kund werdende Uroffenbarung Gottes zurück zu führen, unter scharfer Kritik an aller natürlichen philosophischen Erkenntnis. In seiner strengerenForm sprach er der menschlichen Vernunft Besitz- und Erwerbs-Möglichkeit selbst der Gottesidee ab; auch diese stamme aus einer förmlichen Anrede Gottes an die Urmenschheit, gelange durch Überlieferung bzw. den Gemeingeist in die Gegenwart und werde vom Menschen nicht mit menschlichen, natürlichen, sondern mit göttlichem Glauben, als der einzigen Quelle der Gewißheit über das Dasein Gottes, aufgenommen. Gemäßigtere ließen wenigstens die Gottesidee natürlichen Besitz der menschlichen Gesellschaft sein; über die Gesellschaft werde diese dann ein mit menschlichem Glauben aufgenommenes Erbe auch des einzelnen, dessen Vernunft nun Beweise und Bestätigungen beizubringen vermöge. In beiden Formen ist es nicht die innere Evidenz der Gottesbeweise, welche Gotteserkenntnis als natürliche Voraussetzung übernatürlicher Offenbarung schafft, sondern die äußere Autorität der Uroffenbarung oder der Gesellschaft, deren sittlicher oder religiöser Besitz auf dem Wege der Tradition wirksam wird. – Der Traditionalismus, hauptsächlich in Frankreich und Belgien (auch in England und Deutschland gab es parallele Strömungen), war einerseits Reaktion gegenüber dem im 18. Jahrhundert herrschend gewordenen Rationalismus mit seinem Kult des Individualismus, den eben erst die große Revolution kompromittiert hatte, anderseits war er bedingt durch den neu erwachten Sinn für „Geschichte“, welche Korrektiv zu sein schien gegenüber dem in der „Menschheit“ liegenden Willen zur Schrankenlosigkeit. „Geschichte“, „Volksgeist“,„Gemeinschaft“, Tradition waren die Mittel durch welche auf religiös-ethischem wie national-bürgerlichem Gebiet die Vergangenheit eines Volkes für die Gegenwart wirksam schien. Solche Ideen, von Montesquieu († 1755) in Frankreich längst formuliert, fanden jetzt aufnahmebereite Herzen (schon J. de Maistre). De Bonald führte die Sprache auf eine förmliche Offenbarung Gottes zurück und erklärte sie zur Mutter aller Begriffe von Gott, Seele, Unsterblichkeit und Tugend. Den Hauptanstoß aber gab de Lamennais mit dem berühmten „Essai“ (1818). Darin erneuert er einerseits wie Pascal die Argumente der Pyrrhonäer gegen die Zuverlässigkeit der Einzelvernunft und wird so „der Begründer des Skeptizismus im 19. Jahrhundert“ (K. Oestereich); anderseits macht er die raison générale oder den sens commun des Menschen-Geschlechtes zum Hort aller wahren Erkenntnisse, erklärt aber die Kirche als die geschichtliche Überlieferin und autoritative Lehrerin dieser Menschheits-Erkenntnisse. Der „Essai“ hat Bautain, Bonnetty, Ubaghs, Ventura beeinflußt und Maret in seine anti-traditionalistische, übertrieben augustinische Richtung gedrängt. Bautain setzt an die Stelle von Lamennais` Sens commun das in der Kirche und Schrift lebendige Wort der Offenbarung als einzige Quelle aller wissenschaftlichen Erkenntnis und läßt der Vernunft nur Fähigkeit und Recht zur Nachprüfung. Bonnetty hat dann zwar die metaphysischen und ethischen Wahrheiten auf Uroffenbarung und Tradition zurück geführt dagegen Wahrheiten der materiellen Ordnung der Erkenntnis-Möglichkeit der Vernunft überlassen, unabhängig von Sprache und Unterricht (Semi-Traditionalismus) Nach Ventura bildet der Verstand sogar die Stammbegriffe (Sein, Substanz, Kausalität), jedoch sei ihre fruchtbare Anwendung auf Gott, Welt und Seele allein von Uroffenbarung und Tradition abhängig. Zwiespältig ließ Ubaghs, das Haupt der Löwener Schule, die natürliche Gotteserkenntnis von der Naturbetrachtung ausgehen und dennoch den zur Erlangung des vollen Vernunftgebrauchs unentbehrlichen Gottesbegriff (beim Kinde) letztlich auf die paradiesische Uroffenbarung zurück gehen.
Im berechtigten Kampf gegen den Rationalismus, der zuletzt pantheisierend die menschliche Vernunft mit der göttlichen gleich setzte und sie von jedem ursächlichen Einfluß Gottes lostrennte, fiel der Traditionalismus ins andere Extrem und huldigte einem unkirchlichen Skeptizismus bezüglich der menschliche Vernunft. Sein Grundfehler lag in der falschen Voraussetzung, daß die Sprache die Begriffe erzeugt, statt umgekehrt das Denken die Sprache (vgl. Augustin, De magistro c. 11). Allerdings spielen Sprache und Unterweisung bei der Begriffsbildung des Kindes eine wesentliche Rolle, wie auch die Tradition für das geistige Leben der Menschheit ihren hohen Wert behält; aber beides doch nur insoweit, als dadurch die eigene Denktätigkeit des Individuums angeregt, gelenkt und gefördert wird. Die Kirche legte Bautain 18.11.1835 und nochmals 8.9.1840 (Denz. 1622/27) 6 Thesen zur Unterschrift vor; die Indexkongregation verurteilte 11.6.1855 Bonnettys Lehre (Denz. 1649/52) und stellte fest, daß zwar der Glaube höher als die Vernunft steht, der Vernunftgebrauch aber dem Glauben voran geht. Das Vatikanum (sess. III cap. 4 u. can. 1: Denz. 1795 u. 1806) hat dann prinzipiell den Traditionalismus als philosophische Spekulation unmöglich gemacht; es bewahrte damit die Philosophie der Katholiken vor vernichtendem Vernunft-Skeptizismus uner erhielt der Theologie die natürlichen Grundlagen des Glaubens, wie sie Röm. 1, 19f; 2, 5; Apg. 14, 14ff; 17, 22ff bestätigt sind. – Mit der Lehre der Väter von „eingegossener“ Gotteserkenntnis, die an der Hand der Naturbetrachtung zur Reife komme, hatte der Traditionalismus als Irrung nichts gemein.
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. X, 1938, S. 248-249