Liberalismus als Gefahr für die Katholiken

Der Liberalismus als Gefahr für den Katholizismus

Der Liberalismus als Gefahr für die Katholiken

Der Liberalismus ist eine ernstliche Gefahr für den Katholizismus, wenn auch nicht der augenblickliche Tod, so doch die Einleitung eines langsamen Siechtums, das zuletzt mit dem Tode zu endigen droht.

8. Es ist doch um das Christentum eine ernste Sache. Wäre es eine Weltanschauung, ein von Menschen gebildetes System der Philosophie, so vertrüge es Lücken und Inkonsequenzen, sie wären fast nicht vermeidlich. Nun aber ist es eine Religion, und zwar nicht eine von Menschen erdachte, sondern eine von Gott gegebene Religion, d. h. ein System von Lehren und von Lebensvorschriften, die sich nicht nach unserem Einsehen und Belieben richten, noch mehr, eine von Gott auferlegte Religion deren Annahme und Befolgung uns als heilige Pflicht obliegt. Daraus folgt, daß sie uns als Autorität, und zwar als göttliche Autorität entgegentritt und daß sie deshalb von unserer Seite Unterwerfung verlangt, jene Unterwerfung, die wir für unser Denken Glauben nennen.
Alles also, was zum Christentum gehört, läuft in Glauben und in Gehorsam aus, noch besser gesagt, geht aus Glauben und aus Gehorsam hervor. Alles, was dem Christentum entzogen wird, verletzt entweder den Glauben oder den Gehorsam, oder auch beides zugleich. Alles, wodurch dem Glauben oder dem Gehorsam etwas abgebrochen wird, greift an die Wurzel, an die Seele, an das Leben des Christentums. Der Glaube ist nicht eine philosophische oder religiöse Spekulation, sondern eine Tugend, eine übernatürliche, noch mehr, eine göttliche Tugend. Er ist die Unterwerfung des Geistes unter Gott, um Gottes Willen, und mit Beziehung auf Gott, die Hingebung des ganzen Menschen an Gott. Er ist also nicht die Summe gewisser religiöser und geschichtlicher Kenntnisse, sondern eine unteilbare, geistige Einheit, die durch jede Verletzung vernichtet wird. Es handelt sich also nicht bloß darum, was und wie viel einer glauben muss, sondern vor allem darum, wie und warum einer glaubt. Wer das nicht berücksichtigt, versteht nie, was der Glaube ist.
Daher die Lehre des Christentums, daß eine bewußte Verletzung des Glaubens in einem Stück den ganzen Glauben untergräbt. Daher die Tatsache, daß in dem, der einmal Gott oder der von ihm gesetzten Autorität den Gehorsam gekündigt hat, ein Einbruch auf den andern folgt, und daß einer, der auf einem Gebiet mit der Autorität gebrochen hat, immer gemeinsame Sache macht mit allen Ansichten, die auf den entlegensten, ihm völlig unbekannten Gebieten der gesunden, traditionellen Lehre die Gefolgschaft aufkündigen. Daher die geschichtliche Erfahrung, daß das christliche Leben Stück um Stück zusammenbricht, sobald man einmal angefangen hat, zwischen unbedingt Notwendigem und Überflüssigem zu unterscheiden und das angeblich Nebensächliche über Bord zu werfen. Der Katholizismus ist durch all das in der Wurzel beschädigt, er fängt an zu kränkeln, einzuschrumpfen, bis er zuletzt verdorrt, nachdem er ohnehin nur noch das Gefühl der Geringschätzung oder des Mitleids hervorgerufen hat.

9. Das alles wird durch die Geschichte vollauf bestätigt. Denken wir an jene jansenistischen Gotteshäuser mit den leeren Ziegel- oder Bretterwänden, in denen nur Sonntags an einem Tisch mit zwei Kerzenstümpchen eine Messe gelesen wurde, aus denen Sakrament und Kommunion verbannt, in denen alle Bilder und Statuen vernichtet waren. Denken wir an jene Katechismen und Erbauungsbücher aus der Aufklärungszeit, die allen „scholastischen“ Wust gründlich ausgefegt hatten, um für salbungsvolle Phrasen über Menschenliebe, Bürgertugend und Toleranz Platz zu schaffen. Denken wir an jene traurigen Hirtenbriefe, welche alle Bruderschaften, allen Prozessionen, allen Wallfahrten, allen dem Volk teuren Andachten den Krieg ansagten. Was Wunder, daß Frankreich – zum Teil auch aus Italien und den übrigen katholischen Ländern – geworden ist, was der große Umsturz dort noch vorfand, mit andern Worten, daß der Katholizismus aus der Öffentlichkeit nahezu verdrängt, und daß dieser angeblich religiöse Katholizismus nahezu tot war? Was Wunder, daß die Säkularisation einfach für die Welt in Beschlag nahm, was ohnehin schon weltlich geworden war? Was Wunder, wenn der Unglaube dachte, er tue ein Werk der Barmherzigkeit, wenn er die Welt von dem Anblick dieser jammervollen Trümmer befreie?

10. Und was Wunder, daß sich allenthalben solche Verachtung gegen den Katholizismus und solcher Haß gegen ihn eingenistet hat bis heute? Wem ist diese Stimmung zuzuschreiben? Wir entschuldigen gewiß die Welt nicht. Aber ungerechte Vorwürfe dürfen wir auch nicht auf sie häufen. An diesem Ergebnis hat der Liberalismus einen guten Anteil. Wer den Jansenismus und die Aufklärung kennt, weiß, warum wir dies sagen. Giftigere, boshaftere, schlauere Feinde als die Anhänger dieser Richtungen hat die Kirche nie gehabt, auch nicht in den Zeiten des Arianismus noch in denen der Reformation. Sie allein waren im Besitz des rechten Glaubens, der erleuchteten Religionsübung, des wahren Verständnisses für die Aufgabe des Christentums und für die Bedürfnisse der Zeit, kurz, sie allein die wahren Christen. Was aber ihnen nicht gefiel, Beichten, Kommunizieren, die tägliche heilige Messe, eine Wallfahrt nach Rom, das war nach ihren Reden Aberglaube, übergebirgische Heuchelei, Tod der wahren Religion. Und selbst was die Kirche und ihre angeblich hyperreligiösen Hirten sagten und taten, um dem Verderben zu steuern, das wurde als lächerlich, verächtlich und als Untergang des Christentums gebrandmarkt. Man denke nur, wie sie den edlen Kardinal Migazzi, diesen unblutigen Märtyrer, behandelten. Den Zweck, den sie zunächst verfolgten, haben sie gründlich erreicht, der Welt das Christentum zum Ekel und das Christentum selber siech zu machen bis zum Tod.

11. Da fragt man dann: Wie ist es denkbar, daß ein ganzes Land wie Frankreich sozusagen über Nacht vom Glauben in den Abgrund hinabgestürzt ist! Man könnte dieselbe Frage auch von Deutschland zu Anfang des 16., zu Ende des 18. Jahrhunderts stellen, und ebenso von andern Ländern. Sie ist aber überall grundlos. Wer kann denn sagen über Nacht? Das war alles lange und wohl vorbereitet. Der Jansenismus, jener radikale Liberalismus, war es, der die eisige Kälte gegen allen Gottesdienst, den Verzicht auf die Gnadenmittel unter dem Namen des wahren, des geläuterten Christentums in die Herzen gepflanzt hat. Der Gallikanismus war es, der seit Jahrhunderten den Gehorsam gegen die Kirche und ihre Gesetze und die Achtung vor der höchsten Autorität in den Herzen untergraben, der das katholische Leben in die Bahnen eines verkehrten Nationalismus getrieben hatte. Der Liberalismus, der sich Humanismus nannte, war es, der den Glauben an das Übernatürliche und an die Kirche dermaßen zerstört hatte, daß die Reformation innerlich nichts mehr zu zerstören vorfand. Der Liberalismus der Aufklärung war es, der alles frische katholische Leben ertötet, der unter dem Vorwand des Kampfes gegen die Auswüchse den Baum des christlichen Tugendlebens zum Verdorren gebracht, die Achtung vor Dogma und Kirchengesetz vernichtet, die Hochschätzung des Askese, der Frömmigkeit, der Ordensgelübde lächerlich gemacht, den Empfang der Sakramente abgestellt hatte. Mit dem Abschaffen des angeblich Nebensächlichen, mit der Zurückführung des Katholischen auf das reine Christentum, mit de Einschränkung der angeblich entarteten Religion auf das apostolische Leben, auf das unbedingt Notwendige, mit der Reinigung der Theologie von der scholastischen Wut, mit dem Kampfe gegen den Hyperorthodoxismus war es in Deutschland zu Anfang des 19. Jahrhunderts dahin gebracht, daß man das Ende des Katholizismus so gut wie besiegelt halten durfte, und daß es gewaltige Erschütterungen bedurfte, um ihn wieder empor zu richten. Nein, das alles waren keine plötzlichen Umstürze, sondern die Ergebnisse langen, langsamen Siechtums, die Früchte des Liberalismus.

12. Aus allem ergibt sich eine neue Erkenntnis über die wahre Natur des Liberalismus. Hier sieht jedermann klar, daß er nicht bloß ein Wurm ist, der den Baum des Christentums krank macht, sondern ein Übel, das die Wurzel selber angreift, nicht bloß eine Krankheit, die den Organismus der Kirche schwächt, sondern ein schleichendes Gift, das ihrem Leben Gefahr bringt. Es handelt sich hierbei gar nicht einmal darum, ob seine Vertreter mit Wissen und Absicht auf den Untergang des Christentums hinarbeiten. Seine großen Vorgänger, Sarpi und Febronius, Quesnel und Gerberon, Ricci und Rautenstrauch behaupteten, sie wollten nicht die Religion abschaffen, sondern das von aller Hyperreligiosität geläuterte, das echte Christentum, das Christentum Christi wieder herstellen. Warum sollen wir ihnen das nicht glauben? Aber da handelt es sich nicht um die Personen, sondern um die Sache, nicht um das, was der Liberalismus durch sein Treiben erreichen will, sondern darum, was sich aus seinen Prinzipien notwendig ergibt. Es ergibt sich aber daraus notwendig der Tod des Katholizismus. Und dieser folgt mit Notwendigkeit, weil der Liberalismus – davon wird später die Rede sein – die Fundamente des Katholizismus selber angreift. –
aus: Albert Maria Weiß O.Pr., Liberalismus und Christentum, 1914, S. 31 – S. 38

Gesamter Text: Der Liberalismus als Gefahr für den Katholizismus auf: Über den Liberalismus

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