Das Zeitalter des Abfalls von der Kirche
31. Oktober 1517 – Der Ablass-Streit
Zu den Vorbedingungen für die Ausbildung der neuen Lehre Luthers gehört, daß er in seinen Studienjahren sowohl als später die echte Scholastik kaum kennen lernte, während der Nominalismus der Schule Ockham`s in negativer und positiver Hinsicht seinen Entschluss auf die Richtung seines Denkens ausübte. Einfluss übte weiter die deutsche Mystik auf ihn, soweit er sie kennen lernte, der von ihm teilweise mißverstandene Tauler und besonders das Büchlein ‚Theologia deutsch‘, das er zuerst nach einer unvollständigen Handschrift 1516 in Wittenberg mit einer Vorrede herausgab (seine erste Veröffentlichung), dann vollständig 1518 unter dem Titel ‚Ein deutsch Theologia‘. Dazu kommt das Studium des hl. Augustinus, dem er sich eifrig hingab, ohne bei seiner mangelhaften theologischen Vorbildung dem Verständnis des großen Kirchenlehrers gewachsen zu sein; es ist zum Teil eine ‚unklare und verworrene Mystik‘, die er sich auf den Spuren Augustins zurecht legte…
Luthers Lehre, die er damals mit Berufung auf die vermeintliche Übereinstimmung mit dem hl. Augustinus sein ‚Augustinisches Bekenntnis‘ nannte, beherrschte, wie er schrieb, wenigstens schon im Frühjahr 1517 die ganze Wittenberger Universität. Daß er nicht nur als akademischer Lehrer für die Verbreitung derselben wirkte, sondern daß er auch in seiner Eigenschaft als Distriktsvikar einen gewaltigen Einfluss auf die ihm unterstellten Klöster im Sinne einer freieren Richtung des Ordenslebens und zur Verbreitung seiner neuen theologischen Ideen, der ‚augustinischen und paulinischen Bewegung‘, ausgeübt haben muss, das geht aus dem nachmaligen, ganz auffällig raschen Abfall der Augustinerklöster zur lutherischen Neuerung hervor. In Erfurt wirkte in seinem Sinn Johann Lang als Prior seit 1516, in Wittenberg der Prior Wenzeslaus Link bis zu seinem Weggang 1516. Von besonderer Bedeutung für später, für die Gewinnung des Kurfürsten, wurde Luthers Freundschaft mit dem kurfürstlichen Hofkaplan Georg Spalatin.
Es fehlte nur noch an einer äußeren Veranlassung, um die neue Lehre über die Kreise der Wittenberger Universität und der sächsischen Augustinerklöster hinaus in die weiteste Öffentlichkeit zu tragen und in Deutschland zu verbreiten. Das ist die Bedeutung des 31. Oktober 1517.
Tetzels Ablasspredigten
An diesem Tage schlug Luther auf Veranlassung der Ablasspredigten des Dominikaner-Mönches Tetzel an der Schlosskirche zu Wittenberg 95 Thesen zum Zweck einer Disputation über die Kraft des Ablasses an.
Tetzel, ein beliebter Volksredner (1), war nämlich vom Erzbischof Albrecht von Mainz zum Unterkommissar ernannt worden, um im nördlichen Deutschland den vom Papst Leo X. für den Bau der Peterskirche ausgeschriebenen Ablass zu verkündigen; er predigte allenthalben unter großem Zulauf des Volkes.
Die irrigen Anschauungen, welche über diese Ablass-Predigten noch immer herrschen, entspringen hauptsächlich dem Umstand, daß man sehr verschiedenartige Dinge nicht sorgsam genug auseinander gehalten hat. Vor allem muss der Ablass für die Lebenden genau unterschieden werden von dem Ablass für die Verstorbenen. (2) Wer für sich selbst den Ablass gewinnen wollte, musste reumütig beichten,, andächtig die Kirche besuchen und zum Bau der Peterskirche eine von den Vermögens-Verhältnissen entsprechende Geldsumme beisteuern. Ausdrücklich war den Ablass-Predigern eingeschärft, „niemanden ohne die Gnade zu entlassen, da hier nicht weniger das Heil der Christgläubigen als der Nutzen des Baues der Peterskirche gesucht werde. Jene, welche kein Geld haben, sollen ihren Beitrag durch Gebet und Fasten ersetzen, denn das Himmelreich soll den Reichen nicht mehr als den Armen offen stehen. Bezüglich dieses Ablasses für die Lebenden hat Tetzel durchaus korrekt gelehrt, und der Vorwurf, er habe die Sündenvergebung um Geld verkauft, ohne Reue zu fordern, ist unberechtigt. (3) Anders steht es mit der Anpreisung des Ablasses für die Verstorbenen; daß Tetzel wenigstens dem Inhalt nach die Lehre vorgetragen:
Sobald das Geld im Kasten klingt,
Die Seele aus dem Fegfeuer springt,
hat man zwar oft in Abrede zu stellen gesucht, doch allem Anschein nach mit Unrecht. Um sich ermächtigt zu fühlen, diese Lehre zu verkündigen, brauchte der Ablass-Prediger bloß zu glauben, daß der Ablass für die Verstorbenen durch die vorgeschriebene Geldspende sicher gewonnen werden könne und daß der gewonnene Ablass dieser oder jener Seele sicher zugewandt werde.
Anmerkungen:
(1) Über Tetzel überhaupt vgl. vor allem die (…) Monographie von Paulus, Johann Tetzel der Ablassprediger (Mainz 1899) und dessen Deutsche Dominikaner 1-9. Vgl. auch die ruhigen und sachlichen Ausführungen des prot. Theologen O, Michael, Johann Tetzel in Annaberg. Ein Beitrag zu seinem Lebensbild und seiner Beurteilung, in der Beilage zur Allgem. Zeitung 1901, Nr. 87 u. 88. Michael urteilt über das Buch von Paulus (Nr. 87, S. 5 Anm.): „Sicherlich ist das Buch das Beste, was über Tetzel geschrieben worden ist. Ich freue mich, daß ich dort eine Bestätigung meiner geschichtlichen Untersuchungen – wenigstens im wesentlichen – finde, mehr noch, daß das, was ich von protestantischer Seite aus versuche, dort auch von katholischer gebracht wird: ein gerechtes Urteil über den viel gehaßten Mann.“
(2) Für das Folgende vgl. die ausgezeichnete Monographie von Paulus, Johann Tetzel der Ablassprediger; Pastor, Geschichte der Päpste 4, 1, 237ff.
(3) Um zu beweisen, daß Tetzel bei Anpreisung der Jubiläums-Gnade keinen bloßen Nachlass der Sündenstrafen, sondern auch Vergebung der Sündenschuld verheißen, beruft man sich bekanntlich auf die Ablass-Instruktionen Arcimbolds und Albrechts von Brandenburg; jedoch, wie Paulus (Tetzel 91ff) zeigt, mit Unrecht. In beiden Anweisungen ist allerdings nicht bloß von einem Erlass der Sündenstrafen, also von einem gewöhnlichen Ablass die Rede, sondern auch von einer Vergebung der Sündenschuld, von einer Wiedererlangung der heiligmachenden Gnade (Kapp, Sammlung 143; Nachlese 3, 182). Nur darf man nicht übersehen, daß, was hier von einer Vergebung der Sündenschuld gesagt wird, ’nicht auf den Ablass, sondern auf die der Gewinnung des Ablasses voraus gehende Reue und Beichte zu beziehen‘ ist und daß dadurch auf eine ausgedehntere Vollmacht der Priester zur Lossprechung von einzelnen sonst vorbehaltenen Sünden hingedeutet wird; ‚denn das ist ja eben der Unterschied zwischen einem gewöhnlichen vollkommenen Ablass und dem Jubiläum, daß anläßlich des letztern den Beichtvätern besondere Vollmachten erteilt werden‘. In diesem Sinne spricht sich denn auch das Dekret Leos X. vom Jahre 1518 über den Ablass aus. Ganz dasselbe lehrt Tetzel: Der Ablass „Dient allein wider die Pein der Sünden, die bereut und gebeichtet sind“. Paulus a.a.O. 88.
Die Mainzer Instruktion
Nun wird aber in der Mainzer Instruktion, nach welcher sich die Prediger zu richten hatten, zur Gewinnung des Ablasses für die Verstorbenen einzig und allein eine Geldspende für den Bau der Peterskirche erfordert; ausdrücklich wird erklärt, daß zur Gewinnung dieses Ablasses Reue und Beichte nicht von Nöten seien. Hatte man aber auch eine Gewissheit darüber, daß der gewonnene Ablass der Seele, für welche das Geld gespendet worden, zugewendet werde? In der Mainzer Instruktion wird diese Frage entschieden bejaht. Und hierbei konnte der Verfasser dieses Schriftstückes sich auf eine Schulmeinung stützen, die von hervorragenden Theologen vertreten wurde. Es war aber nur eine Schulmeinung, nicht kirchliche Lehre, daß der Ablass dieser oder jener Seele ganz sicher zuteil werde. Die päpstlichen Ablass-Bullen enthalten die Lehre nicht, Silvester Prierias hat dieselbe allerdings verteidigt (4); aber Kardinal Cajetan bezeugt, daß man im Rom Leos X. doch nicht allgemein solche Übertreibungen guthieß. Den Theologen wie Predigern, welche solche übertriebene Dinge lehren, sei darin kein Glaube zu schenken. „Die Prediger“, betont Cajetan, „treten im Namen der Kirche auf, sofern sie die Lehre Christi und der Kirche verkünden; lehren sie aber nach ihrem eigenen Kopf oder aus Eigennutz Dinge, die sie nicht kennen, so können sie nicht als Stellvertreter der Kirche gelten; daher darf man sich nicht wundern, wenn sie in solchen Fällen irre gehen.“ Es hätte besser um die katholische Sache gestanden, wenn die deutschen Ablass-Prediger sich in einer so heiklen Frage einer ähnlichen Zurückhaltung befleißigt hätten wie der genannte Kardinal. Da aber selbst die Ablass-Kommissare in einem offiziellen Schriftstück eine höchst zweifelhafte Schulmeinung als sichere Wahrheit hinstellten, was war da von den gewöhnlichen Ablass-Predigern zu erwarten? (5) Es kamen schwere Missbräuche vor, und das Auftreten der Prediger, die Art der Darbietung und Anpreisung des Ablasses erregten mancherlei Ärgernisse; speziell Tetzel ist von Schuld keineswegs freizusprechen. (6)
Anmerkungen:
(4) Paulus, Tetzel 146ff. O. Michael (…) bemerkt (Nr. 88, S. 5) im Hinblick auf Prierias über die Verwechslung einer Schulmeinung mit der von der Kirche anerkannten Wahrheit durch Tetzel: ‚Konnte dies einem Professor begegnen, wie vielmehr einem ganz in der Praxis stehenden Prediger!“
(5) Paulus, Tetzel 164f. Während Paulus die tatsächlich vorgekommenen Missbräuche offen bespricht und die Ergebnisse seiner Forschungen über Tetzels Ablass-Lehre ohne irgend welche ängstliche Rücksicht (die auch durchaus nicht angebracht wäre) mitteilt, weist er gleichzeitig mehrere schiefe Auffassungen und Irrtümer von protestantischer Seite schlagend zurück. Vgl. die Besprechung in der Beilage zur Allgem. Zeitung 1900, Nr. 110, S. 1-3. Ganz vortrefflich ist seine in dem früheren Aufsatz ‚Zur Biographie Tetzels‘ im Histor. Jahrbuch 16 (1895), 59-61 gegebene Abfertigung der massiven Angriffe, welche der Altkatholik Stucksberg in der Schrift‘ Pseudo-Isidorus redivivus oder eine literarische Urkunden-Fälschung des neunzehnten Jahrhunderts im Interesse der römischen Kirche. Offenes Sendschreiben an den Prälaten designierten Kardinalarchivar J. Janssen (Gießen 1891)‘ gegen Gröne und Janssen wegen einer Stelle über die sog. Beichtbriefe richtete.Zu der immer wiederholten protestantischen Fabel, Tetzel und andere Ablass-Prediger haben Ablässe für zukünftige, erst noch zu begehenden Sündene rteilt, vgl. Paulus, tetzel 100 ff und dessen Aufsätze: ‚Der Ablass als angebliche Befreiung von zukünftigen Sünden‘, in der Lit. Beilage der Kölnischen Volkszeitung 1904, Nr. 52, S. 405F und ‚Gibt es Ablässe für zukünftige Sünden?‘ ebd. 1905, Nr. 43, S. 327f.
(6) Daß jedoch die so lange und neuerdings sogar auch in der Allgem. Deutschen Biographie 37 (1894), 605ff wiederholten Vorwürfe, als sei Tetzel ein Ehebrecher oder ein unsittlicher Mensch gewesen, als habe er anstößig über die Mutter Gottes gepredigt, ganz unerwiesene Anschuldigungen sind, hat Paulus a. a. O. 56ff unwiderleglich gezeigt. Es ist charakteristisch für gewisse protestantische Historiker, zu welchen auch Köstlin gehört, daß sie solche Anschuldigungen trotz der vielen Unwahrscheinlichkeiten, die sie dabei in den Kauf nahmen mussten, kritiklos wiederholten. Auch die Hist. Zeitschrift 75 (1895), 370 stimmt Paulus zu, indem sie bemerkt: „Paulus weist einige schon seit langer Zeit gegen Tetzel erhobene schwere sittliche Vorwürfe als historisch unbegründet zurück, n. E. Mit Recht.‘
Luther über den Ablass
Aber nicht vorzugsweise diese Missbräuche waren es, welche Luther zu seinem Vorgehen gegen den Ablass veranlaßten, sondern die Lehre von dem Ablass selbst, überhaupt die seinen Anschauungen über Rechtfertigung und Unfreiheit des menschlichen Willens entgegen stehende kirchliche Lehre von den guten Werken. Christus, sagte er in seinen Fastenpredigten von 1517, setze ‚die Genugtuung‘ ins Herz, ‚also daß du nit darfst gen Rom, noch zu Jerusalem, noch zu St. Jakob, noch hin und her laufen umb Ablass‘. Christi Ablassbrief laute: ‚Wenn ihr vergebet euren Schuldigern, so wird euch mein Vater auch vergeben; werdet ihr aber nit vergeben, so wird euch mein Vater auch nit vergeben.‘
So hatte die Kirche auch immer gelehrt; sie wies stets auf die Notwendigkeit wahrer Herzens-Besserung und des würdigen Empfanges der heiligen Sakramente hin für jeden, der sich des Ablasses, das heißt des Nachlasses zeitlicher Sündenstrafen, teilhaftig machen wollte.
Luther aber erklärte: Der besagte ‚Ablassbrief‘ Christi, ‚mit Christi Wunden selbst versiegelt und durch seinen Tod bestätigt, ist gar nahend verblichen und verwesen durch die großen Platzregen des römischen Ablasses‘. Christus spreche nicht: ‚Du sollst für deine Sünden so viel fasten, so viel beten, so viel geben, dies oder das tun‘, sondern verlange nur, daß man alle Schuld nachlasse und dem Beleidiger verzeihe. ‚Solch Ablass würd nit St. Peters Kirchen, die der Teufel wol leiden mag, sondern Christi Kirchen, die der Teufel gar nit leiden mag, bauen.‘ Solche Auslassungen konnten ihre Bedeutung nicht verlieren dadurch, daß er hinzu fügte, er wolle ‚römischen Ablass‘ nicht verwerfen. (7) Es seien, sagte er einmal in einem ‚Bedenken‘ für den Kurfürsten von Sachsen, ‚gar große Missbräuche der Geistlichen‘ in der Kirche gewesen, die Stände des Reiches hätten sich darüber beklagt, der Papst habe Abhilfe versprochen; da aber die Missbräuche ’nicht geändert wurden durch die, so es billig tun sollten‘, so begannen ’sie von sich selbst allenthalben in deutschen Landen zu fallen‘; die Geistlichen seien darüber verachtet und für ‚ungelehrte, untüchtige, ja schädliche Leute gehalten worden‘ … ‚Solches Abfallen und Untergehen der Missbräuche war bereits des mehren Teil im Schwang, ehe des Luthers Lehre kam, denn alle Welt war der geistlichen Missbräuche müde und feind.‘ Auf diese seine ‚Lehre‘ legte Luther das eigentliche Gewicht; durch sie sei, meinte er, die ganze Religion gerettet worden. (8)
Anmerkungen:
(7) Sämtl. Werke 21, 212 – 213… Was Luther später an den todkranken Tetzel schrieb, um ihn zu trösten: ‚Er solle sich unbekümmert lassen, denn die Sache sei von seinetwegen nicht angefangen, sondern das Kind habe viel einen andern Vater‘ (vgl. Paulus, Tetzel 81), ist jedoch nicht von dem tieferen Grund von Luthers Auftreten zu verstehen, wie man es oft verstanden hat, sondern will wohl nur sagen, er mache für die Missbräuche und für das, was er als solche betrachte, nicht Tetzel, sondern die kirchlichen Behörden, den Papst und den Erzbischof von Mainz verantwortlich.
(8) Bei de Wette 3, 439. Sämtl. Werke 54, 63-64.
Tetzels Antithesen zu Luther
Gegen Luthers Thesen schlug Tetzel an der Universität zu Frankfurt an der Oder, wo er zum Doktor der Theologie promovierte, am 20. Januar des Jahres 1518 eine lange Reihe von Antithesen an (9), deren erster Teil aus 106 Sätzen besteht. Bündig und klar wird in diesen von dem Frankfurter Professor Konrad Wimpina verfaßten Thesen die kirchliche Lehre über den Ablass dargelegt und besonders hervor gehoben: Die Ablässe tilgen nicht die Sünden, sondern lediglich die den Sünden folgenden zeitlichen Strafen, und selbst diese nur dann, wenn die Sünden aufrichtig bereut und gebeichtet sind; die Ablässe schmälern nicht die Verdienste Christi, sondern setzen eben an die Stelle der genugtuenden Strafen das genugtuende Leiden Christi. „Im heiligen Konzil zu Kostnitz“, schrieb Tetzel, „ist auf`s Neue beschlossen worden: Wer Ablass verdienen will, der muss zu der Reue nach Ordnung der heiligen Kirche gebeichtet haben, oder sich vorsetzen, es noch zu tun. Solches bringen auch mit alle päpstlichen Ablass-Bullen und Briefe.“ „Denn die Ablass verdienen, sind in wahrhaftiger Reue und Gottesliebe, die sie nicht faul und träge lassen bleiben, sondern sie entzünden, Gott zu dienen und zu tun große Werke ihm zu Ehren. Denn es ist am Tage, daß christliche, gottesfürchtige und fromme Leute, und nicht lose, faule Menschen mit großer Begier Ablass verdienen.“ „Denn aller Ablass wird erstlich gegeben von wegen der Ehre Gottes. Derhalben wer ein Almosen gibt um Ablass willen, der gibt es vornehmlich um Gottes willen, angesehen, daß Keiner Ablass verdient, er sei denn in wahrhaftiger Reue und in der Liebe Gottes, und wer aus Liebe Gottes gute Werke tut, der ordnet sie zu Gott in seinem Leben.“ „Nicht durch die von uns vollbrachten Werke der Gerechtigkeit“, sollten seiner Weisung nach die Ablass-Verkündiger den Gläubigen ans Herz legen, „macht Gott uns selig, sondern durch seine heilige Barmherzigkeit.“
Zu den ‚päpstlichen Ablass-Bullen und Briefen‘, worin das Wesen des Ablasses deutlich hervor gehoben wurde, gehörte insbesondere das am 9. November 1518 von Leo X. erlassene Dekret. Der Papst habe, besagte dasselbe, als Nachfolger des Schlüsselträgers Petrus und als Statthalter Christi auf Erden kraft der ihm übertragenen Schlüsselgewalt die Macht, den Christgläubigen „sowohl die Schuld hinweg zu nehmen als auch die für die begangenen Sünden verdienten Strafen: und zwar die Schuld vermittelst des Sakramentes der Buße, die zeitliche Strafe aber, welche man für die begangenen Sünden von der göttlichen Gerechtigkeit verdient hat, vermittelst des kirchlichen Ablasses“.
Bedeutung des Ablass-Streites
Mit klarer Einsicht erkannte Tetzel im Verlauf der Wirren, daß der von Luther angeregte Streit nicht, wie vielfach angenommen wurde, ein bloßes Schulgezänk sei, sondern ein tief gehender, bedeutungsvoller Prinzipien-Kampf über die Grundlagen des christlichen Glaubens und die Autorität der Kirche. Schon im Jahre 1518 sagte er in seiner Widerlegung des von Luther heraus gegebenen ‚Sermon von Ablass und Gnade‘: Diese Artikel dienen zur Verachtung des Papstes und der Kirche; man werde inskünftig den Kirchenlehrern nicht glauben wollen und die Heilige Schrift nach eigenem Gefallen auslegen. „Derhalben die gemeine Christenheit in große der Seelen Fährlichkeit kommen muss; denn es wird ein Jeglicher glauben, was ihm wohl gefällt.“
Auch Kaiser Maximilian durchschaute die ganze Tragweite des Streites. Luthers Neuerungen, erklärte er in dem bedeutungsvollen Schreiben an den Papst vom 5. August 1518, würden, wenn man ihnen nicht ernsthaft entgegen wirke, die Einheit des Glaubens gefährden, und man werde ‚an Stelle der überlieferten Heilswahrheiten bald Privatmeinungen gesetzt sehen.‘ –
aus: Johannes Janssen, Zustände des deutschen Volkes, Bd. 2, Die Revolutionspartei und ihre Erfolge bis zum Wormser Reichstage von 1521, besorgt von Ludwig von Pastor 1915, S. 97 -S. 108