Der Philosophismus als Geist des Irrtums

Der Protestantismus in seiner Entwicklung

5. Teil: Der Philosophismus als Geist des Irrtums

Der Philosophismus, – ich verstehe darunter jene schlechte Philosophie, welche unter dem Vorwand, sich von allen Vorurteilen zu befreien, alle Prinzipien zerstört, – war also nichts Anderes, als ein entwickelter Protestantismus.

Was wurde nun aus ihm selbst?

Vorab wollen wir noch bemerken, dass er so wenig, wie seine Väter, eine feststehende Lehre hatte. Die übernatürliche, sogar die offenbarte Ordnung wurde nicht immer von ihm zurückgewiesen, ebenso wenig, wie der Atheismus zurückgestoßen wurde.

„Diejenigen, welche den Glauben aufgaben (so spricht ein Mann, der sich in der Gesellschaft jener Zeit bewegte), und ihre Zahl war zum Erschrecken, gelangten, da sie nicht mehr in ehrwürdigen Überlieferungen irgend einen Halt- und Vereinigungspunkt fanden, und nachdem sie sich alle zusammen von dem gemeinsamen Glauben getrennt hatten, alsbald auch dahin, sich voneinander zu trennen; so dass ein jeder in verschiedenen Abständen, ohne irgend eine Aufrichtung fester Grenzen, seine Stellung nahm.

Einige, immer noch von der Heiligkeit des Evangeliums ergriffen, erkannten fortwährend die Göttlichkeit in der Moral Jesu Christi, während sie es als eine Gottlosigkeit betrachteten, in dem Sohne Maria einen Gott zu sehen; andere, alle Bibeln schließend, um den Schöpfer nur in der Schöpfung und die Moral nur in den zarten und erhabenen Anmutungen des menschlichen Herzens zu suchen, hielten sich von allen Altären und allen Priestern fern, um Gott nur in ihrem Herzen und durch ihre Tugenden zu dienen.

Noch andere, ohne Zaum und ohne Zagen, bekleiden, in dem Glauben, dass das bloße Wort Gott allen Wahnwitz der Unduldsamkeit und alle Wut des Fanatismus entfessele, die Materie mit den Attributen der Bewegung und des Gedankens, wie mit denen der Ausdehnung, achten ihre Ordnung und ihre Unordnungen für ebenso notwendig, wie ihr Dasein und verlangen, dass man durch Beobachtungen sie erforsche, durch Erfahrungen sie befrage, und dass, statt auf den Knien ihre Macht anzubeten, der Geist des Menschen dieselbe bewältige und handhabe.“ (Garat, Memoire sur Suard et le dix-huitième siècle. t.I. p. 202)

Alle diese Zersplitterungen der philosophischen Ansicht trafen in zwei Punkten wieder zusammen; gemeinsam war ihnen das Prinzip des Irrtums, das sie der Auflösung entgegentrieb; gemeinsam war ihnen die Inkonsequenz dieses nämlichen Irrtums, die ihm das Dasein fristete.

Das gemeinsam Prinzip war die zur Zerstörung der Glaubenssätze verwandte Freiheit des Denkens; die gemeinsame Inkonsequenz war die Bekennung, das ist nicht genug gesagt, der Apostolat der zur Förderung der Humanität in reichem Maße angewandten christlichen Moral.

Dieses Bekenntnis der Sittenlehre des Evangeliums ohne seine Glaubenssätze und gegen seine Glaubenssätze war für den Philosophismus das, was für den Protestantismus das Bekenntnis des Glaubens an die heilige Schrift ohne die Autorität und gegen die Autorität des kirchlichen Lehramtes gewesen war.

„Ich weiß nicht, sagte Rousseau, warum man dem Fortschritt der Philosophie die schöne Moral unserer Bücher zuschreiben will. Diese, aus dem Evangelium geschöpfte Moral war christlich, ehe sie philosophisch war. Nur das Evangelium ist immer sicher, immer wahr, immer einzig und immer sich selbst gleich.“ –

Man weiß im übrigen, was Rousseau über das Evangelium dachte; wie dem auch sei, mochte man damit dem Evangelium huldigen oder nicht, die Moral des Evangeliums in ihren großen Anwendungen der Gerechtigkeit, der Humanität und der Duldsamkeit, wurde wie aus einem Munde von dem Philosophismus gepredigt. Wie zügellos dieser auch sein mochte, bis zum Atheismus und dem gröbsten Materialismus ausschweifend, die doch augenscheinlich die logische Grundlage aller Moral vernichten: zu dieser Moral des menschlichen Mitgefühls, der gesellschaftlichen Duldsamkeit, der Verteidigung und Unterstützung der Kleinen und Schwachen bekannte man sich, und dieses Bekenntnis stand im umgekehrten Verhältnis zu dem seiner Grundlagen.

Sie predigen ein Quasi-Christ, wie Vauvenargues oder Thomas; sie predigte noch mehr ein Quasi-Deist, wie Rousseau; ein Quasi-Atheist, wie Voltaire, predigte sie noch eifriger, aber wer sie überall mit Wut, mit Raserei predigte, das waren die erklärten Atheisten und Materialisten, das waren Diderot, von Holbach und Naigeon, welcher sich damit den Beinamen eines rasenden Hammels (mouton enragé) verdient hatte.

Der Philosophismus glich darin dem Protestantismus, welcher die Verehrung für die heilige Schrift viel lauter kund gibt, als der Katholizismus, um so lauter, je mehr er sie dem Kultus der Vernunft anbequemt und dienstbar macht. Der Philosophismus war ergriffen vom Toleranz-Fanatismus; ihm war die Toleranz heilig, wie den Protestanten die Bibel heilig ist.

Der Grund liegt darin (ich kann es nicht zu oft wiederholen), dass nichts bestehen, nichts wirken kann ohne die Wahrheit; der Irrtum selbst kann sie nicht entbehren, und ist um so mehr gezwungen, zu ihr seine Zuflucht zu nehmen, je mächtiger er gegen die Wahrheit selbst wirken will. Je mehr er die Wahrheit von einer Seite angreifen will, um so mehr muss er, um sich zu halten, von der anderen Seite in dieser nämlichen Wahrheit seinen Stützpunkt nehmen; und dann tut er es mit einer Emphase, die sich nicht weniger gegen die Wahrheit versündigt, als seine wütenden Angriffe.

Die echten Jünger der Wahrheit, die mit ihr, wenn ich so sagen darf, in beständigem vertrautem Verkehr stehen, huldigen ihn in Wort und Tat, ohne viel Lärm und aufsehen. Oft schweigt ihr Mund, aber ihre Werke loben sie. Sie apostrophieren die Wahrheit nicht, und nehmen nicht den hoffärtigen Wahlspruch an: Vitam impendere vero; sie tun sie ganz einfach nach dem Ausdruck der Wahrheit selbst, Jesu Christi, dessen Füße sie schweigend küssen, den Pharisäern ein Gegenstand tiefer Verachtung.

Wenn du eine überschwängliche und glühende Stelle zu Gunsten der Wahrheit liest, wie z. B. die berühmte Stelle unseres Jean Jacques über das Evangelium, dann sei auf deiner Hut, und gib wohl Acht, ob nicht in dem nächsten Abschnitt etwas Böses steckt.

So hat unter jenen schönen Deklamationen von Toleranz und Humanität der Philosophismus das Werk der freien Forschung fortgeführt; er untergrub jedes Dogma versteckt, in dem Laufgraben der Moral.

Ich will gewiss nicht sagen, dass in dieser Verschwörung alles Berechnung war; nein, ich ehre zu sehr die Humanität, und halte die Macht der Wahrheit für zu groß, um nicht einzuräumen, dass auch sie einen gewissen Anteil habe an all diesen Gefühlen der Humanität und Duldsamkeit, deren Ausdruck in allen Schriften jener Zeit überfließt; aber ich behaupte, dass dieser Anteil der Wahrheit durch den Missbrauch, den man von ihm machte, nur dazu gedient hat, diejenigen selbst zu täuschen, welche die Wahrheit im Dienst des Irrtums entweihten; wer nicht völlig im Wahren ist, in dessen Munde wird die Wahrheit selbst trügerisch.

Worauf ich vorzüglich aufmerksam machen möchte, ist dieses, dass alle diese, anscheinend edlen Gefühle, im Grunde wohl mehr Hass gegen die Unterdrücker waren, als wahres Mitleid für die Unterdrückten. Selbst die Entrüstung, edler als der Hass, hatte wenig Anteil daran; ich entlehne diese treffende Bemerkung Herrn Bungener. Dazu kommt, dass dieser Hass selbst – es ist traurig, aber notwendig, es zu sagen – in dem geringen moralischen Teile, den er enthalten kann, sehr verdächtig wird, wenn man bemerkt, dass er nur bei Gelegenheiten, nach Bedürfnis der Sache, ausbricht, und dass je nach demselben Bedürfnis er sich häufig gegen die Unterdrückten selbst wendet, mit einer noch unerbittlicheren Grausamkeit, als die ihrer Unterdrücker.

Der Irrtum ist weniger die Verneinung, als die Verfälschung der Wahrheit; auch ist er immer mit und neben ihr gegangen in der Welt. Ebenso, wie es eine wahre und rechtmäßige Entwicklung der allgemeinen Vernunft gegeben hat, ebenso hat es eine falsche und strafbare gegeben; ebenso, wie es einen wahren und gesetzmäßigen Fortschritt der Freiheit und Toleranz gegeben hat, ebenso hat es auch einen unordentlichen und verderblichen gegeben. Unsere Aufgabe ist nun, das Gesetz des zwischen diesen beiden Entwicklungen bestehenden Verhältnisses zu bestimmen.

Der Geist des Irrtums, angetrieben durch das Interesse, welches er hat, durch einige Wahrheit sich einzuführen, und so seine zerstörende Wirksamkeit vor den Augen der menschlichen Natur zu verdecken, welche ihn mit offenem Visier nicht aufnehmen würde, wunderbar bedient, möchte ich sagen, durch diesen Instinkt, sucht und findet leicht die Seite, von der aus die Wahrheit sich in der Welt zu entwickeln im Begriff steht.

Kaum hat er sie gefunden, so nimmt er einen Vorsprung, bemächtigt sich dieses Punktes, macht großen Lärm damit, maßt sich die Initiative an, übertreibt ihn, indem er ihn von dem rechten Zusammenhang mit der ganzen Wahrheit trennt, ihn sogar gegen die Wahrheit wendet, bis er verfälscht und verderblich, bis die Wahrheit selbst der Wahrheit gefährlich wird, und die wahren Jünger derselben sich genötigt sehen, dieser heillosen Entwicklung sich zu enthalten, wo nicht, zu widersetzen, ja sogar zurück zu schreiten auf der von ihnen selbst gebrochenen Bahn der wohltätigen Entwicklung der Wahrheit.

Die Anhänger des Irrtums verfehlen nicht, von dieser weisen Haltung der Jünger der Wahrheit Nutzen zu ziehen, um sie der öffentlichen Meinung als Feinde des sozialen Fortschrittes hinzustellen und zu opfern. Wenn jedoch das frühere Leben dieser Letzteren in gar zu glänzender Weise diese Verleumdung Lügen straft, dann sind die Anhänger des Irrtums schamlos genug, sie ihre Vorfahren zu nennen, und nehmen nicht Anstand, einen Masillon, einen Fenelon, einen Sankt Vinzenz, die sie bei ihren Lebzeiten geschlachtet haben würden, mit den Ehren ihrer infamen Apotheose zu behängen.

Jedoch was geschieht? Da die Wahrheit in ihren Händen nur eine Waffe gegen die Wahrheit ist, so macht sie durch sie in der Tat nicht den geringsten Fortschritt; fern davon, entartet sie durch den Missbrauch, verunehrt sich durch die Übertreibung und sieht sich durch die auf ihrem Wege aufgehäuften Trümmer gehemmt.

Wenn endlich die Krisis der Zerstörung vorüber ist, dann tritt die Wahrheit wieder den Lauf ihrer gesetzmäßigen Entwicklung an; aber da sie das Programm und die Formeln dieser Entwicklung durch den Irrtum geschrieben findet, so hat sie dieselben nur auszufüllen; und indem sie dieselben ausfüllt, überlässt sie den Schein des Ursprunges ihrem Rivale, dem Irrtum, der dann auch nicht verfehlt, sich die Initiative zuzuschreiben, und für sich das Ergebnis in Anspruch zu nehmen.

Um meinen ganzen Gedanken auszusprechen, von dem Gesichtspunkt der Vorsehung, jener höheren Ordnung, die das Gute durch das Böse fördert, gemäß der Wahrheit jenes Wortes „Oportet et haereses esse“, will ich unbedenklich eingestehen, dass die Jünger der Wahrheit durch den Kampf angespornt werden, dass ohne diesen Kampf sie sich verweichlichen und auf ihrem Besitztum einschlafen würden, wie auf einem Felde, das von selbst Früchte trägt und keines Anbaues bedarf, um seinen müßigen Pächter kümmerlich zu ernähren, das aber durch diesen Mangel des Anbaues die Ehre und den nutzen einer hundertfachen Ernte entbehrt.

Den Gewinn, welchen die Vorsehung von dem Irrtum zieht, besteht darin, dass er den Schülern der Wahrheit ihre Aufgabe anweist, ihnen zeigt, wo sie im Rückstand sind, und in Hinsicht des Fortschrittes sie in Bezug setzt.

Der Geist des Irrtums ist, wie wir schon sagten, wunderbar geschickt zu diesem Dienste, weil sein Interesse ihm einen vortrefflichen Blick gibt, um die Blöße des Feindes zu entdecken, und eine unerhörte Dreistigkeit, um dieselbe an den Tag zu ziehen. Aber so geeignet er ist, die nötigen Reformen zu bezeichnen, eben so ohnmächtig ist er, dieselben zu vollführen. Das ist eine ausgemachte Sache.

Er kann sogar ihren Gegenstand nur verfälschen, nur verkehren, nur verderben, dergestalt, dass er den Dingen und den Worten das Gegenteil von dem, was diese bezeichnen, unterschiebt, so bietet er die vollständigste Zerrüttung unter dem Namen Reformation feil, die Unterdrückung unter dem Namen Duldung, die Knechtschaft unter dem Namen Freiheit, den ungeheuerlichsten Umsturz unter dem Namen Gleichheit, und unter dem süßen und heiligen Namen der Brüderlichkeit – den Tod.

Der Geist der Wahrheit allein und die, die er erfüllt, sind berufen, das Werk der Wahrheit zu fördern, und die prahlenden Programme des Irrtums bescheiden zu verwirklichen.

Das also ist der Anteil des Irrtums und der Wahrheit an dem allgemeinen Werk der Zivilisation; das insbesondere ist es, was dem Philosophismus zukommt von all dem großen Prunk von Toleranz, Gerechtigkeit, Humanität, Erleichterung der armen Volksklassen, sozialem Fortschritt, – womit er die Zerstörung aller Glaubenslehren und aller Grundsätze verhüllt hat, ohne welche nur Unterdrückung, Aufruhr, Ungerechtigkeit, Unmenschlichkeit und Barbarei bestehen können.

Anfangs schmeichelte sich der Philosophismus, die Konsequenzen seines Werkes beschwören zu können, und dachte nur die Lehren zu zerstören; jeder Philosoph machte sich eine Herzenslust daraus, losschlagend auf seine Weise, unter dem Antrieb seiner besonderen Feindseligkeiten, mit den Waffen, wie sie jedem zu Gebote standen: der Eine als Deist, der Andere als Atheist, der Dritte als Schüler Spinoza`s, alle als Feinde der „Infamen“, d. h. der Kirche, welche allein in Frankreich den Aberglauben darstellte, derselben Kirche, welche unter dem Namen einer H… bereits die ersten Schläge von Luther bekommen hatte, und welche bis an das Ende der Welt die Schläge aller derer bekommen wird, die in das Herz der Gesellschaft eindringen wollen, deren Damm sie ist.

Anfangs wollte die Zerstörung bei ihr stehen bleiben. Die zeitlichen Oberen ehrte man, wenigstens der Tat nach. Man hielt sie für unverwundbar, und sie glaubten es selbst, dergestalt, dass sie durch Worte sich angreifen ließen, und törichter Weise mit der ganzen Welt die Deklamationen wiederholten, die man gegen sie zu richten angefangen. Was sie verblendete, waren die Schmeicheleien und platten Lobreden, womit der Mund der Philosophen sie wieder beruhigte; es war vornehmlich der Wahn, dass die Zerstörung der Kirche ihnen Vorteil bringe, ihr Joch zerbrechend; den Philosophen ließen sie ihre Anmaßungen hingehen für ihre Schmeicheleien und vorzüglich für ihre Gottlosigkeiten; für die geistigen Beraubungen der Kirche, in Hinsicht deren die Philosophen ihnen ihre Huldigungen darzubringen, nicht verfehlten.

Die Großen waren dergestalt durch dieses gottesräuberische Interesse verblendet, dass sie nicht allein die Philosophen duldeten, sondern sie sogar begünstigten, das Heer derselben besoldeten und ihre Hauptführer gewissermaßen zu Mitträgern ihrer Kronen erhoben, und selbst in ihre Reihen herabstiegen, um auch von da aus die königliche Hand gegen die Kirche auszustrecken, welche doch die Schutzwache ihre Autorität war, eben so gut, wie sie die verständige Freiheit der Völker hütete. (1)

(1) Das Einverständnis der Philosophen und der Souveränen zur Teilung des geistigen Raubes an der Kirche und die hierbei herrschende Täuschung zeigt sich jeden Augenblick in dem Briefwechsel Voltaires… Der Philosophismus, in dieser wie in allen anderen Fragen, war nichts als die Wiederholung und Fortsetzung des Protestantismus. –
aus: August Nicolas, Über das Verhältnis des Protestantismus und sämmtlicher Häresien zu dem Socialismus, 1853, S. 140 – S. 144; S. 151 – S. 154

Beiträge von August Nicolas über den Philosophismus

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