Nur keine Sünde, nur keine Sünde!
„Nur keine Sünde, nur keine Sünde!“ seufzte die hl. Katharina, als der heilige Geist ihr in die Seele hinein leuchtete und mit göttlicher Klarheit zeigte, welch` ein strafwürdiges Verbrechen es ist, die Gesetze unseres höchsten Herrn wissentlich und freiwIllig zu übertreten! Später ließ Gott sie einmal in einer Verzückung die Hässlichkeit der läßlichen Sünde schauen; über diesen Anblick spricht sie sich also aus: „Wenn das Meer ein Feuer wäre, so würde die Seele sich lieber in die Tiefe dieser Feuermasse stürzen, als eine läßliche Sünde an sich dulden, und könnte sie nur unter der Bedingung heraus gehen, daß sie die Sünde anschauen müßte, sie würde lieber ewig darin bleiben.“ Das ist eine starke Sprache, und du magst dich versucht fühlen, sie für eine Übertreibung zu halten. Allein höre und betrachte die Worte Gottes selbst, und dann erst urteile über die Worte der hl. Katharina:
1. Im Buche Exodus hat Gott seinem Volk das Gesetz gegeben: „Wer seinen Vater oder seine Mutter schlägt, soll des Todes sterben.“ (2. Mos. 21,15) Wenn also ein Sohn oder eine Tochter sich erfrecht, die Hand aufzuheben wider den eigenen Vater, wider die eigene Mutter, um sie mit einem Schlage zu beleidigen, so sollen sie sogleich mit dem Tode bestraft werden: ohne alle Rücksicht darauf, wie etwa vorher der Vater oder die Mutter das Kind behandelt hat! Ja noch mehr: im Buche Deuteronomium gibt Gott das Gesetz: „Wenn Jemand einen widerspenstigen und frechen Sohn gezeugt hat, der nicht hören will auf den Befehl des Vaters und der Mutter, so soll das ganze Volk ihn steinigen, und er soll sterben, damit ihr ihn weg schaffet aus eurer Mitte, und ganz Israel erschrecke, wenn es Kunde davon erhält.“ (5. Mos. 21, 18ff.) O lies doch dieses dreifache Gesetz mit Aufmerksamkeit; denn wer ist mehr dein Vater und deine Mutter nach dem ganzen Inhalt und Umfang dieser schönen Titel als Gott selbst, den du ja im Auftrage Jesu also anredest: „Vater unser, der Du bist in dem Himmel!“ Welche Strafe verschuldet also das Kind, welches diesen heiligsten, liebwürdigsten, besten Vater beleidigt? O nur keine Sünde!
2. Die heilige Kirchenversammlung zu Trient verkündete in ihrer sechsten Sitzung die Lehre: „Christus hat durch sein heiligstes Leiden am Holze des Kreuzes uns die Rechtfertigung verdient und für uns Gott dem Vater Genugtuung geleistet.“ Diese Lehre hat den ganz gleichen Sinn mit den Worten Jesu an die hl. Katharina: „Siehe, dieses Blut habe Ich aus Liebe zu dir und zur Tilgung deiner Sünden vergossen!“ In dieser Lehre ist nun die Häßlichkeit und Fluchwürdigkeit der Sünde nach ihrer unbegreiflichen Größe ausgesprochen. Bedenke, kein noch so reiner Engel, nur der anbetungswürdige Gottmensch konnte der Gerechtigkeit des himmlischen Vaters genug tun für unsere Sünden. Aber wie, auf welche Weise? Durch seine Menschwerdung? Nein; diese war wohl für den Sohn Gottes eine unendliche Erniedrigung, aber sie genügte nicht. Zur Tilgung unserer Sünden war sein blutiger Tod am Kreuze erforderlich, dessen ersten Akt du im Stall zu Bethlehem, und dessen letzten Akt du in der zwölften Station auf dem Kalvarienberg beherzigen sollst. Wenn du dieses schmerzvolle Leiden Jesu nur mit einiger Aufmerksamkeit betrachtest, so wird dein mitleidiges Herz ganz gewiß mit Katharina seufzen: „O nur keine Sünde mehr!“ –
aus: Otto Bitschnau OSB, Das Leben der Heiligen Gottes, 1881, S. 685