P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung
Warum wir die läßliche Sünde meiden sollen
1. Weil auch die läßliche Sünde eine Beleidigung Gottes ist.
Ein Sohn beleidigt seinen Vater nicht nur, wenn er sich erfrecht, ihn ins Angesicht zu schlagen, oder wenn er ihm in wichtigen Dingen den Gehorsam verweigert; er beleidigt ihn auch, wenn er in minder wichtigen Dingen dem Willen desselben zuwider handelt. Im ersteren Fall ist die Beleidigung allerdings viel größer und kränkender, weil sie eine schnöde Verachtung des Vaters in sich schließt; allein auch im letzteren Fall muss die Beleidigung ein wohlmeinendes Vaterherz betrüben, zumal wenn sie absichtlich und mit Vorbedacht geschieht: eine solche Beleidigung ist, wenn auch nicht eine Verachtung, so doch eine Mißachtung der väterlichen Person und des väterlichen Ansehens. Dasselbe läßt sich von der Todsünde und der läßlichen Sünde sagen. Beide sind Beleidigungen Gottes, wenngleich der Bosheit und Schwere nach verschieden. Durch die erstere lehnt sich der Mensch frech und vermessen wider Gott, seinen Herrn und Vater, auf, trotzt ihm sozusagen ins Angesicht, verachtet ihn und sein heiliges Gesetz; durch die letztere verweigert der Mensch seinem Herrn und Vater den Gehorsam nur in minder wichtigen Dingen; er gibt zwar dem Geschöpf nicht den Vorzug vor der Freundschaft und dem dereinstigen Besitz Gottes, allein er zeiht zieht doch den Genuß, den er im Geschöpf findet, dem besonderen Wohlwollen Gottes vor und will lieber die Wirkungen des väterlichen Unwillens erfahren, lieber mancherlei zeitlichen Strafen sich unterziehen als auf den sündhaften Gebrauch des Geschöpfes verzichten. Das ist zwar nicht geradezu eine Verachtung, aber doch immerhin eine recht kränkende Mißachtung der göttlichen Majestät und Güte. Natürlich sprechen wir nicht so sehr von jenen läßlichen Sünden, in die auch ein eifriger Christ aus Schwachheit und Übereilung fällt, sondern vielmehr von jenen, die mit Überlegung und mehr oder weniger mit dem Gedanken begangen werden: es ist ja nur eine läßliche Sünde. – Was würde man wohl, fragt der hl. Basilius (Prooem. In reg. Fus. Disp.), von einem Sohn halten, der da sagte: Ich werde mich hüten, meinen Vater zu verraten oder ein anderes schweres Verbrechen wider ihn zu begehen, wegen dessen er mich enterben könnte; im übrigen aber werde ich meiner Laune folgen und meinen Willen tun, wenngleich ich weiß, daß mein Benehmen dem Vater mißfällig ist. Wäre das kindliche Gesinnung? – Es ist also auch die läßliche Sünde eine Beleidigung Gottes, eine Schmälerung seiner Ehre, ein sträflicher Undank und folglich nach der Todsünde das größte und einzig wahre Übel. Denn obgleich wir einen wesentlichen Unterschied annehmen zwischen schwerer und läßlicher Sünde, so wird doch, wie der hl. Hieronymus (Brief 148 an Celantia) bemerkt, „derjenige keine einzige Sünde als ein geringes Übel ansehen, welcher nicht so sehr den Befehl als vielmehr den Befehlenden, nicht so sehr die Wichtigkeit des Gebotes als vielmehr die Würde des Gebietenden ins Auge faßt.“
2. Weil die läßliche Sünde viele Gnadengeschenke, die uns Gott verleihen will, verhindert.
Gottes Vatergüte ist in sich unbegrenzt; er hat ein unaussprechliches Verlangen, uns, seine Kinder, mit jeder Art von Gnaden zu überhäufen und uns dadurch zu einer immer höheren Stufe der Vollkommenheit hienieden und der Seligkeit dort oben zu führen. Allein dieses Verlangen sieht sich gehemmt durch unsere geringe Empfänglichkeit für so kostbare Gaben, wie es die übernatürlichen Gnaden sind. Ein Herz, das am Irdischen klebt, das gleichsam angefüllt ist mit den eitlen Gütern dieser Welt, die es unordentlich liebt, hat keinen Raum für himmlische Gaben. Die läßlichen Sünden aber, besonders die vorsätzlich begangenen, heften das Herz fest an diese irdischen Dinge und beflecken es dazu in einer Weise, daß es mehr und mehr unwürdig wird, die reinen Gaben des Himmels in sich aufzunehmen. Die göttliche Weisheit und Gerechtigkeit verbietet es geradezu, daß der Allgütige dem besondere Beweise seiner Huld und Liebe gebe, der sich nicht scheut, sein Vaterherz vorsätzlich zu kränken. Empfängt ein solcher auch die zum Heile durchaus notwendigen Gnaden, so wird ihm doch jenes reichere Gnadenmaß versagt, dessen Wirkung der Psalmist schildert mit den Worten: „Den Weg deiner Gebote (o Herr) bin ich gelaufen, da du mein Herz erweitert hast.“ (Ps. 118) Der Psalmist will sagen: während ich mit der gewöhnlichen Gnadenhilfe auf dem Wege der Gebote Gottes nicht ohne Mühe voran schritt, wurde mir durch die außerordentlichen Gnaden, die ich empfing, alles so leicht, daß ich wie in fröhlichem Laufe auf dem Wege der Tugend dahin eilte und in kurzer Zeit große Fortschritte machte. Wenn nun jedem Schritt, den wir hienieden auf dem Wege der Tugend machen, im Himmel ein höherer Grad der Herrlichkeit entspricht, wer bemißt dann den ewigen Schaden, den wir uns durch die läßlichen Sünden zuziehen?
3. Weil die läßliche Sünde manche Strafe Gottes nach sich zieht.
Jede läßliche Sünde, die nicht durch freiwillige Buße völlig gesühnt wird, hat neben dem Verlust mancher kostbaren Gnade auch noch besondere Strafen Gottes im Gefolge. Mögen diese Strafen auch im Vergleich mit denen der Hölle gering erscheinen, so sind sie doch keineswegs gering in sich. Dieselben treffen uns zuweilen schon in diesem Leben, vorzüglich jedoch und unfehlbar jenseits im Fegefeuer. In der Tat, wie schwer Gott schon in diesem Leben Vergehungen, die uns nur gering scheinen, gezüchtigt habe, ließe sich aus mehr als einem Beispiel der Hl. Schrift nachweisen. Wir erinnern bloß an das bereits früher angeführte Beispiel von Moses. Er, der hoch begnadigte Heerführer des Volkes Israel, durfte wegen eines geringen Mißtrauens gegen Gott nicht eingehen in das herrliche Land der Verheißung, sondern musste angesichts desselben sterben. (4. Mos. 20) Viel strenger noch sind ohne Zweifel die Strafen des Fegefeuers; denn hier auf Erden ist es weit mehr die Barmherzigkeit als die Gerechtigkeit Gottes, die uns züchtigt; im andern Leben dagegen ist es, wenn auch nicht ausschließlich, so doch vorzüglich die Gerechtigkeit, welche die Zuchtrute führt. Wehe dem, an welchem sie viel zu züchtigen findet!
4. Weil sie nach und nach zu schweren Sünden führt.
„Gleichwie eine Wunde, die man unbeachtet läßt, Fieber und Fäulnis und endlich den Tod nach sich zieht“, sagt der hl. Joh. Chrysostomus (In epist. Ad Gal. c. 1), „so verfällt die Seele, welche kleine Sünden nicht achtet, in immer größere.“ Durch die läßlichen Sünden gehen wir nämlich, wie schon vorhin gezeigt, mancher göttlichen Gnade verlustig. Namentlich sind es die gewohnheitsmäßig begangenen Fehler, welche uns jener besondern Erleuchtungen und Anregungen der Gnade, jenes Eifers und Mutes berauben, ohne welche wir bei schweren Versuchungen nur gar zu leicht unterliegen. Sodann wird durch die wiederholten kleinen Untreuen gegen Gott die Liebe zu ihm immer lauer, die Furcht vor ihm nimmt ab, der Haß der Sünde wird immer schwächer, und es tritt nur zu bald ein, was der Heiland sagt: „Wer im Kleinen untreu ist, der ist auch untreu im Größeren.“ (Luk. 16,10) Dazu kommt noch, daß durch häufiges Begehen läßlicher Sünden die ungeordneten Neigungen und verkehrten Gewohnheiten gestärkt werden. Unter solchen Umständen bedarf es aber nur noch einer besonderen Gelegenheit oder einer etwas heftigeren Versuchung, und die Todsünde ist da.
Wie sehr sollen wir demnach die läßliche Sünde hassen, wie sorgfältig sie meiden, sie, die uns nicht nur der besonderen Huld und Gnade Gottes beraubt uns unzähliger Verdienste, die wir uns sonst erworben hätten, und dadurch eines höheren Grades himmlischer Glorie auf ewig verlustig macht, sondern auch gleichsam unvermerkt uns in die Schlingen der schweren Sünde führt und so den Weg zur ewigen Verdammnis anbahnt!“
Quelle: P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Bd. 2, 1912, S. 342-344