Katechismus Was ist die Sünde?

Das Bild zeigt die Sünde und ihre Folgen

P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung

Von der Sünde überhaupt

Die Sünde ist eine freiwillige Übertretung des göttlichen Gesetzes.

1. Das „göttliche Gesetz“ wird hier im ausgedehntesten Sinne genommen und bezeichnet den gebietenden und verbietenden Willen Gottes, gleichviel auf welche und durch wen uns derselbe kund gegeben ist. Es umfaßt also nicht bloß die auf Sinai und durch Christus gegebenen Gebote und Vorschriften, sondern auch alle jene, die Gott von Anbeginn dem Menschen ins Herz geschrieben hat und durch die Stimme der Vernunft uns kund macht (das Naturgesetz); ferner die Gebote der Kirche und die Befehle, die von andern Vorgesetzten, sowohl weltlichen als geistlichen, ausgehen. Alle rechtmäßige Obrigkeit vertritt ja ihren Untergebenen gegenüber Gottes Stelle, und Gott selbst verlangt kraft des vierten Gebotes, das man ihnen in allem, was recht ist, gehorche.

Man übertritt das göttliche Gesetz, wenn man tut, was es verbietet, oder nicht tut, was es gebietet. Der Ausdruck „übertreten“ deutet nämlich an, daß man durch die Sünde die durch das göttliche Gesetz vorgezeichnete Richtschnur überschreitet. „Die Sünde“, sagt der hl. Augustin (Rede 51), „ist eine Übertretung, indem der Mensch durch dieselbe die Richtschnur der Gerechtigkeit überschreitet.“

2. Damit jedoch eine Übertretung des göttlichen Gesetzes dem Menschen zur Sünde angerechnet werde, muss dieselbe freiwillig sein. Eine Handlung, an welcher der freie Wille keinen Teil hat, kann ja eine Schuld nicht in sich schließen. „Die Sünde“, sagt der hl. Augustin (Retract. 1.1. c. 13. n. 5), „ist dergestalt ein frei gewolltes Übel, daß sie gar keine Sünde ist, wenn sie nicht frei gewollt ist.“ – Damit aber eine Übertretung des göttlichen Gesetzes freiwillig sei, ist erfordert, daß sie mit Wissen und Willen geschehe, d. h. es muss erstens die Erkenntnis des Bösen, zweitens die Zustimmung des Willens vorhanden sein.

a) Die erforderliche Erkenntnis des Bösen besteht darin, daß man bei Übertretung des Gesetzes weiß und wenigstens einigermaßen daran denkt, man tue Unerlaubtes, man handle dem Gesetz zuwider. Denn etwas, wovon man gar keine Kenntnis hat oder woran man im Augenblick des Handelns gar nicht denkt, kann auch nicht gewollt sein. Wenn also jemand etwas Unerlaubtes tut, ohne zu wissen oder daran zu denken, daß seine Handlung unerlaubt ist, dem kann dieselbe nicht als Sünde angerechnet werden. Ein Katholik z. B. begibt sich aus einem Bistum, wo es erlaubt ist, am Samstag Fleisch zu essen, in ein französisches, wo das allgemeine kirchliche Abstinenzgebot noch in voller Kraft ist, und genießt daselbst Fleischspeisen, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, es möchte dies verboten sein. Dieser Katholik übertritt allerdings das kirchliche Abstinenzgebot; allein er macht sich vor Gott und seinem Gewissen keiner Sünde schuldig, weil er die Gesetzwidrigkeit seiner Handlung gar nicht erkennt. –

Ganz anders verhält es sich aber in jenen Fällen, wo die Unkenntnis des Gesetzes oder die Unbedachtsamkeit verschuldet ist. Wer das Gesetz nicht kennt, weil er es nicht kennen will, obschon er es kennen könnte und sollte, der ist für die Folgen seiner Unkenntnis verantwortlich. „Etwas anderes ist das Nichtwissen“, sagt der hl. Papst Gregor (Moral. 1. 15. cap. 25), „und etwas anderes das Nichtwissen-Wollen. Denn wer sein Ohr von der Stimme der Wahrheit abwendet, um etwas nicht zu wissen, der ist kein Nichtwisser, sondern ein Verächter des Gesetzes.“ Wäre in dem eben bezeichneten Falle dem Katholiken ein Zweifel aufgestiegen, ob nicht in dem Bistum, wo er sich befindet, das Abstinenzgebot zu beobachten sei, und hätte er aus Gleichgültigkeit oder aus Besorgnis, im Genuss von Fleischspeisen beunruhigt zu werden, es vernachlässigt, sich zu erkundigen, so hätte er sich gegen das Abstinenzgebot versündigt. – Desgleichen bildet die Unbedachtsamkeit keinen Entschuldigungs-Grund für den, der auf das Unerlaubte einer Handlung nicht achtet, weil er sich von irgend einer bösen Leidenschaft zum unüberlegten Handeln hinreißen läßt, oder weil er gegen das Böse gleichgültig geworden ist.

b) Die Zustimmung des Willens, die zu einer Sünde erfordert ist, besteht nicht etwa darin, daß man sich irgendwie zum Bösen hingezogen fühlt, Erst wenn man diesem Zuge freiwillig nachgibt, wenn man sich trotz des warnenden Gewissens für das Böse entscheidet, hat der freie Wille zugestimmt. Alle Handlungen sowohl als Gemütsbewegungen, bei denen eine solche Zustimmung fehlt, können nicht als Sünde betrachtet werden. Zur Zeit der Christenverfolgung geschah es, daß man Bekenner des hl. Glaubens mit Gewalt vor die Götzenbilder hinschleppte, Weihrauchkörner in ihre Hand legte und dieselbe über die Opferflamme ausgestreckt hielt, um sie auf diese Weise zu zwingen, den Göttern Weihrauch zu opfern. Wer möchte wohl solche Christen der Sünde beschuldigen, die vom körperlichen Schmerz überwältigt, aus der zuckenden Hand den Weihrauch in die Glut fallen ließen, während sie sie mit Herz und Mund den falschen Gottheiten fluchten? Wegen Mangels an freier Zustimmung sind auch die ersten Regungen von Ungeduld, Zorn, Rachsucht, die bei schweren Beleidigungen plötzlich aufsteigen und jeder Überlegung zuvorkommen, nicht für Sünde zu halten, eben weil sie unwillkürlich sind, weil das Entstehen oder Nicht-Entstehen derselben nicht von unserm freien Willen abhängt. Solche Regungen hören aber auf unfreiwillig zu sein, sobald die Vernunft sich ihrer bewußt wird und der Wille sich dessen ungeachtet nicht bemüht, sie zu unterdrücken.

Wie es nun einerseits keine Sünde gibt ohne freie Zustimmung zum Bösen, so ist doch anderseits zur Sünde nicht erfordert, daß man das Böse an und für sich wolle; man kann auch dadurch sündigen, daß man etwas will, wovon man weiß, daß leicht Böses daraus entstehen kann. So will z. B. einer, der dem Trunk ergeben ist, durch den Genuss geistiger Getränke wohl nicht geradezu die Berauschung, noch die Gotteslästerungen, Rohheiten und Ausschweifungen, deren er sich im Zustand der Trunkenheit leicht schuldig macht; weil er aber aus Erfahrung weiß, das er im Trinken nicht Maß zu halten versteht, und voraus sieht, daß er in der Trunkenheit verschiedene andere Sünden begehen wird, so macht er sich durch Teilnahme an Trinkgelagen nicht nur der Berauschung, sondern auch aller aus derselben entspringenden Sünden schuldig. Dasselbe gilt auch von solchen, die aus Jähzorn oder aus Gewohnheit sündhaft zu reden oder zu handeln pflegen. So lange sie es versäumen, die bösen Gewohnheiten zu bekämpfen, sind nicht nur diese Gewohnheiten selbst als freiwillig anzusehen, sondern auch die Fehler, die daraus hervorgehen. Man sage also nicht: „Ich war meiner nicht Herr, der Zorn hat mich überwältigt, die Macht der Gewohnheit war zu stark.“ Warum hast du es so weit kommen lassen, daß du ein Sklave deiner blinden Leidenschaft geworden? Und warum bist du so nachlässig, ihr diese Herrschaft wieder zu entreißen? Wäre es dein rechter Ernst, die Sünde zu meiden, so würdest du vor allem deren Quellen verstopfen, d. h. deine Leidenschaften abtöten, deine bösen Gewohnheiten ausrotten.

Wie dem Gesagten zufolge eine an sich unerlaubte Handlung dem Menschen nicht zur Sünde angerechnet wird, wenn er ohne Verschulden nicht weiß, daß dieselbe unerlaubt ist, so kann hinwiederum der Fall eintreten, daß etwas an sich Erlaubtes vor Gott dennoch zur Sünde wird, weil man irrtümlich meint, es sei Sünde, und es trotzdem tut. Glaubte z. B. jemand am Donnerstag irrtümlicher Weise, es sei Freitag, und äße er dennoch Fleisch, so würde er sündigen, weil er den Willen hätte, das kirchliche Abstinenzgebot zu übertreten. Wie man hieraus sieht, besteht die Sünde wesentlich darin, daß man gegen sein Gewissen handelt und Böses will. In allen Umständen halte man sich demnach an die allgemein gültige Regel: „Handle niemals gegen dein Gewissen“, gegen jene innere Stimme, welche dir bei deinen einzelnen Handlungen sagt, was erlaubt und was unerlaubt ist. Mag auch der Ausspruch derselben zuweilen irrig sein, so muss man sich dennoch danach richten, so lange man ihn mit Bestimmtheit für richtig hält. Deshalb sagt der hl. Paulus: „Alles, was nicht in gutem Glauben geschieht, ist Sünde.“ (Röm. 14,23) Und der weise Sirach (32,27) gibt die Mahnung: „Bei allen deinen Werken folge treulich deinem Gewissen; denn das heißt in Gottes Geboten wandeln.“

Wenn an dieser Stelle gesagt wird, der Ausspruch des Gewissens könne ein irrtümlicher sein, und an einer andern behauptet wurde, die Stimme des Gewissens sei gleichsam Gottes Stimme, so ist dieser Widerspruch nur scheinbar und leicht zu lösen. Das Gewissen ist unsere Vernunft, insofern dieselbe uns sagt, was gut und was böse ist, und uns mahnt, das eine zu tun und das andere zu lassen. Diese unsere Vernunft ist uns ohne Zweifel von Gott gegeben und ist gleichsam ein Abglanz der göttlichen Vernunft. Deshalb kann man in Wahrheit sagen, daß Gott durch sie zu uns spricht. Daß sie auch irren kann, ist kein Beweis, daß sie nicht von Gott kommt, es beweist nur, daß sie eine unvollkommene Fähigkeit ist wie alle andern Fähigkeiten der Geschöpfe. Spricht sie die Wahrheit, so ist dies ein Ausfluss der Vollkommenheit, die sie von Gott erhalten hat: darum ist in diesem Falle ihre Stimme gleichsam Gottes Stimme. Irrt sie dagegen, so ist das eine Folge der Unvollkommenheit, die sie aus sich hat; deshalb ist ihre Stimme in dem Falle nicht mehr als Stimme Gottes zu betrachten, sondern als unsere eigene.

Solche, deren Gewissen von vielfachen Zweifeln angefochten wird, die auch da Sünden fürchten, wo andere gute Christen ohne alles Bedenken voran gehen, die bald meinen, was sie getan, sei Sünde, bald wieder, es könne doch keine Sünde sein, mit einem Wort, Skrupulanten sollen vor allem darauf bedacht sein, den Weisungen ihres Beichtvaters gleichsam blindlings zu gehorchen. Ihr eigenes Geistesauge ist eben für die Unterscheidung, was Sünde und was nicht Sünde ist, mehr oder weniger erblindet. Deshalb müssen sie sich nach einem zuverlässigen Führer umsehen und diesem einfach folgen. Die hl. Katharina von Bologna ward aufs schrecklichste von Skrupeln gequält, aber dessen ungeachtet gehorchte sie in allem ihrem Beichtvater. Bisweilen hatte sie Angst zu kommunizieren; aber auf einen Wink ihres Beichtvaters begab sie sich trotz all ihrer Furcht zur Kommunionbank, wo sie das hl. Abendmahl empfing. Deshalb erschien ihr denn auch eines Tages Christus und sprach zu ihr, um sie noch mehr zum Gehorsam zu ermuntern, sie solle sich freuen, daß sie ihm durch diesen Gehorsam die größte Freude bereite. –
Quelle: P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Bd. 2, 1912, S. 323 – S. 326

Verwandte Beiträge

Buch mit Kruzifix
Was eine christliche Mutter vermag
Der heilige Papst Stephan IV. (768-772)