P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung
Die den Hauptsünden entgegen gesetzten Tugenden
Über die Kardinaltugend der Gerechtigkeit
Die Gerechtigkeit besteht darin, daß wir stets bereit sind, einem jeden das Seinige zu geben und zu lassen.
„Jedem das Seine“, ist der kurze Ausdruck dessen, was die Tugend der Gerechtigkeit von uns verlangt. Jedem sollen wir geben, was er mit Recht von uns beanspruchen kann, und was er mit Recht besitzt, das sollen wir ihm lassen. Sind wir dazu stets bereit, so sind wir gerecht. Die Ansprüche nun, die andere uns gegenüber haben, gründen sich teils auf ein strenges Recht, teils auf eine gewisse Billigkeit. Hat uns jemand etwas verkauft, so hat er ein strenges Recht auf Bezahlung. Hat uns dagegen jemand einen Freundschaftsdienst geleistet, so ist es zwar keine strenge Rechtspflicht, wohl aber eine Pflicht der Billigkeit, daß wir ihm bei gegebener Gelegenheit einen entsprechenden Gegendienst leisten. Die Tugend der Gerechtigkeit nun, wie sie hier als Kardinaltugend zu verstehen ist, verlangt, daß wir nicht bloß die Ansprüche strengen Rechtes, sondern auch die der Billigkeit erfüllen, daß wir einem jeden geben, was recht und billig ist.
Jedem sollen wir geben, was recht und billig ist, sowohl Gott wie den Menschen. „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“, spricht der Heiland. (Matth. 22, 21) Gott schulden wir jene Verehrung, von der beim ersten Gebote die Rede war: unerschütterlichen Glauben an sein Wort, festes Vertrauen auf seine Verheißungen, eine unbegrenzte Liebe und Hingabe an ihn, unsern unendlich guten und liebenswürdigen Vater; ferner Anbetung seiner höchsten Majestät, Dank für seine zahllosen Wohltaten, demütige und kindliche Unterwürfigkeit gegen seinen heiligsten Willen. Das alles können wir ihm nicht erzeigen in dem Grade, in welchem es ihm gebührt. Um so dringender fordert die Gerechtigkeit, daß wir es tun, soweit wir es vermögen. Ähnliche Pflichten legt die Gerechtigkeit uns auf gegen unsere Mitmenschen. Sie verlangt von uns, daß wir den Vorgesetzten Gehorsam, Ehrfurcht und Liebe, unsersgleichen Achtung, Liebe und Treue, den Untergebenen Schutz, Wohlwollen und Fürsorge, allen ohne Ausnahme Anerkennung und Heilighaltung ihrer Rechte und aufrichtige Teilnahme an ihrem Wohl und Wehe bezeigen. Von dieser Gerechtigkeit gegen unsere Mitmenschen spricht der Apostel im Römerbrief (13, 7. 8): Gebt jedermann, was ihr ihm schuldig seid: Steuer, wem Steuer, Zoll, wem Zoll, Ehrfurcht, wem Ehrfurcht, Ehre, wem Ehre gebührt.“ Hieraus ist es klar, warum die Gerechtigkeit zu den Grund- oder Kardinaltugenden gehört: die verschiedensten andern Tugenden beruhen auf ihr und gehen aus ihr hervor.
O möchte doch die Gerechtigkeit, diese herrliche Tugend, von den Christen gebührender maßen geliebt und geübt werden; die Erde, dieses Tränental, würde bald zum Paradies Gottes sich umgestalten! Wo Gerechtigkeit blüht, wo sie Geist und Herz dem Allerhöchsten unterwirft und den Weihrauch der Anbetung zum Himmel empor sendet, da strömt Gottes Segen auf die Erde herab, und Friede und heilige Freude erfüllt alle Herzen. Wo Gerechtigkeit unter Brüdern das Urteil spricht, wo sie unter Bürgern im Handel und Wandel Maß und Ordnung wahrt, wo sie die Bande der ehelichen Treue heilig hält, wo sie den Eltern die Richtschnur für die Liebe und Erziehung ihrer Kinder leiht, die Kinder Gehorsam und Dankbarkeit lehrt, wo sie die Herrschaft zu wohlwollender Milde und Güte gegen die Dienstboten bereit macht, den Dienstboten Treue, Unterwürfigkeit und Ehrfurcht gegen ihre Herrschaft einflößt; wo die Gerechtigkeit vom Throne der Fürsten herab Gesetze gibt, das wahre Verdienst belohnt, das Laster bestraft; wo sie die Untertanen lehrt, dem Fürsten die geschworene Treue zu halten, die von Gott aufgestellten Obrigkeiten zu achten, Kirche und Vaterland zu lieben: da muss Glück und Himmelssegen, Friede und Eintracht wohnen und ungetrübte Freude die Herzen erfüllen.
aus: P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Ein Hilfsbuch für die Christenlehre und katechetische Predigt, 2. Band Lehre von den Geboten, 1912, S. 381-382