P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung
Die den Hauptsünden entgegen gesetzten Tugenden
Über die Kardinaltugend der Mäßigung
Die Mäßigung besteht darin, daß wir die sinnlichen Neigungen und Begierden, die uns vom Guten abhalten, bezähmen.
Was den Willen des Christen am häufigsten von der Bahn der Tugend ablenkt, sind die ungezähmten sinnlichen Neigungen und Begierden. Dieselben trüben das Auge des Geistes wie Dunstwolken das Sonnenlicht; sie machen den Willen träge und widerspenstig, dem Zuge nach dem Höheren und Geistigen hin zu folgen, und verleiten ihn sogar, sein letztes Ziel in den Sinnengenuß zu setzen. Diese sinnlichen Triebe und Leidenschaften, welche durch die Sünde der Stammeltern entfesselt wurden und bei gar vielen durch eigene Sünden und böse Gewohnheiten noch gesteigert sind, weist die Tugend der Mäßigung in die gebührenden Schranken zurück. Dieselbe wird dadurch geübt, daß man den sinnlichen Begierden nur so weit nachgibt, als ein Vernunft gemäßes Bedürfnis dies fordert. Das kostet allerdings manche Selbstüberwindung; allein es ist zu einem christlichen Leben durchaus notwendig; denn als Kardinaltugend ist die Mäßigung die Mutter und Beschirmerin vieler anderen christlichen Tugenden. Sie erzeugt die Enthaltsamkeit, wodurch die Eßlust, die Nüchternheit, wodurch der Hang zum Genuß berauschender Getränk bezähmt wird; die Keuschheit, wodurch die Gelüste des Fleisches im Zaume gehalten werden. Unter ihrem Schutz gedeiht die Tugend der Eingezogenheit, welche den gebrauch der Sinne, namentlich der Augen, regelt; die Tugend der Sittsamkeit, welche durch stete Selbstbeherrschung in allen Worten und Handlungen Maß und Anstand beobachtet; die Tugend der Sanftmut, welche die Aufwallungen des Zornes und der Rachsucht dämpft und unterdrückt.
Darum mahnt der hl. Petrus (1. Br. 2, 11) die Christen: „Enthaltet euch der fleischlichen Lüste, welche wider die Seele streiten“; und der hl. Paulus ruft uns zu: „Ich beschwöre euch, Brüder, daß ihr euern Leib als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer darbringen möget.“ (Röm. 12, 1) Kommen wir dieser dringenden Aufforderung nach; suchen wir durch Gebet und Selbstüberwindung unsere sinnlichen Triebe mehr und mehr der Herrschaft des Geistes zu unterwerfen, damit wir in dieser verdorbenen Welt, wie einst die gottesfürchtige Esther am üppigen Hof des Königs Assuerus, sittsam, gerecht und gottselig leben (Tit. 2, 12) und uns so würdig machen, einst zu den himmlischen Freuden zugelassen zu werden.
aus: P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Ein Hilfsbuch für die Christenlehre und katechetische Predigt, 2. Band Lehre von den Geboten, 1912, S. 383