Vater unser der du bist im Himmel

P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung

§ 1. Von dem Gebet des Herrn

Erklärung der Anrede im Vater Unser

„Vater unser der du bist im Himmel“

Woran erinnern uns die Worte der Anrede: „Vater unser, der du bist im Himmel“?

1. Das Wort „Vater“ erinnert uns daran, daß wir Kinder Gottes sind und darum mit kindlicher Ehrfurcht, Liebe und Zuversicht zu ihm beten sollen.

Ja, Gott ist dein Vater, mein Christ! Niemand gebührt der süße und ehrwürdige Vatername mehr als ihm. Oder sag an, „ist er nicht dein Vater, der dich gemacht und erschaffen hat“ (5. Mos. 22,6), der Tag für Tag dich ernährt und so liebreich für alle deine Bedürfnisse sorgt? Ist er nicht dein Vater, der dir in der hl. Taufe ein neues, dem seinigen ähnliches Leben gegeben, der dich an Kindes Statt angenommen und zum Erben seines himmlischen Reiches bestimmt hat? „Sehet“, spricht darum der hl. Johannes (1. Br. 3,1), „welche Liebe uns der Vater erwiesen hat, daß wir Kinder Gottes heißen und sind!“ Und der hl. Leo (Rede 6 über die Geburt Christi) trägt kein Bedenken, die Kindschaft Gottes eine Gabe zu nennen, „die alle andern Gaben übertrifft“. „O welches Übermaß der göttlichen Menschenfreundlichkeit und welche Fülle der Ehre für uns!“ ruft der hl. Chrysostomus (Homilie 3, Mauriner Ausgabe Bd. III) aus. „Erwäge es und staune, Geliebter, über den unaussprechlichen Reichtum der Güte Gottes, indem er uns gestattet, ihn Vater zu nennen! Der Irdische darf den Himmlischen, der Sterbliche den Unsterblichen, der Zeitliche den Ewigen, der, welcher gestern noch Staub war, darf den Vater nennen, der von Ewigkeit her Gott ist.“

Wozu nun sollen wir uns besonders zu Anfang des Gebetes dieser tröstlichen Wahrheit erinnern?

Damit wir in dem Augenblick, wo wir beginnen, Gott unsere Bitten vorzutragen, dies in der rechten Stimmung tun. Und in welcher Stimmung sollen wir im Gebete vor Gott erscheinen? Zunächst in heiliger Ehrfurcht wegen der Größe und Erhabenheit der göttlichen Majestät. Der Gedanke, daß jene furchtbare Majestät ist, vor der selbst die Fürsten des Himmels erzittern, wäre an sich geeignet, uns mit heiligem Schrecken zu erfüllen; allein das Wort „Vater“ flößt uns Vertrauen ein und mahnt uns, daß unsere Furcht vor Gott eine kindliche sein soll. Der Vatername erinnert uns zugleich an die Liebe, die der Allerhöchste zu einem jeden aus uns trägt, und an die zahllosen Wohltaten, mit denen er uns beständig überhäuft. Dadurch weckt er in unserem Herzen unwillkürlich Gegenliebe und kindliche Zuversicht auf die Erhörung unserer Bitten. Eine bessere Stimmung aber als diese könnten wir schmerzlich besitzen, um Gott den Herrn unsern Bitten geneigt zu machen.

2. Das Wort „unser“ erinnert uns daran, daß Gott der Vater aller Menschen ist und wir darum alle wie Brüder füreinander beten sollen.

Ist Gott, wie eben erklärt worden, dein Vater, weil er als Schöpfer dir das natürliche Leben verliehen hat und als Erhalter dasselbe fristet, so ist er auch der Vater aller deiner Mitmenschen, da er ja alle, wie dich, erschaffen hat und durch seine Vorsehung erhält. „Haben wir nicht alle einen Vater“, fragt daher der Prophet Malachias (2,10): „hat nicht ein Gott uns erschaffen? Warum verachtet also unter uns einer den andern?“ Und ist Gott in noch weit ausgezeichneter Weise dein Vater, weil er dir in der Taufe das Leben der Gnade mitgeteilt und dich dadurch zu seinem Kinde in einem höheren Sinne und zum Erben seines Reiches angenommen hat, so haben auch die übrigen Christen gleich wie du Gott in besonderer Weise zum Vater, da sie alle bei ihrer Taufe der nämlichen Gnade teilhaftig geworden sind. (*) Die hl. Väter pflegen den Ausdruck „Vater unser“ zwar nicht ausschließlich, aber doch vorzüglich in diesem Sinne zu nehmen. Darum wurde auch das Vaterunser mit dem Namen „Gebet der Gläubigen“ bezeichnet und war es von jeher wie auch heute noch Sitte, bei der gottesdienstlichen Feier das Vaterunser nur still zu beten, ausgenommen in der sog. „Messe der Gläubigen“, welcher bekanntlich die Katechumenen nicht beiwohnen durften. Aus demselben Grunde pflegten auch die Katechumenen, bevor sie zur hl. Taufe zugelassen wurden, das Vaterunser nicht zu beten.

Darum heißt es von den Christen insbesondere: „Ihr alle seid Brüder“, und „ihr habt nur den einen Vater, der im Himmel ist.“ Matth. 23, 8.9.) – Wenn nun aber alle Menschen und in besonderer Weise die Christen Kinder ein und desselben Vaters sind, so folgt notwendig, daß alle und besonders die Christen als Brüder füreinander zum gemeinsamen Vater um Segen und Gnade bitten sollen.

Wie schön und erhebend ist der Gedanke, daß alle Menschen die Glieder einer großen Gottesfamilie, daß vorzüglich alle Christen untereinander Brüder sind, daß alle, mögen sie reich oder arm, niedrig oder vornehm, gelehrt oder unwissend sein, als Kinder Gottes und Brüder Jesu Christi dieselben Güter und Rechte besitzen! Das ist eine Gleichheit und Brüderlichkeit, die in Gott, nicht in der Lüge wurzelt, die zu Frieden und Ordnung, nicht zu Kampf und Umsturz alles Bestehenden führt.

3. Die Worte, „der du bist in dem Himmel“ erinnert uns, –

a) daß Gott, obgleich allgegenwärtig, doch besonders im Himmel wohnt, wo wir ihn dereinst von Angesicht zu Angesicht schauen werden. (1. Kor. 13,12)

Wie wir alle wissen, ist Gott wegen seiner Unermeßlichkeit an allen Orten zugleich gegenwärtig. Desungeachtet stellt die Hl. Schrift gewöhnlich den Himmel als die Wohnung Gottes dar, wo der Allerhöchste, umgeben von den Chören seliger Geister, über den Sternen thront, wohin auch Jesus Christus nach seiner Auferstehung im Glanze der Verklärung auffuhr, um Besitz zu nehmen von seinem Reiche und auch uns eine Wohnung zu bereiten. Der Grund dieser Darstellungsweise liegt besonders darin, daß der sichtbare Himmel, der sich über unserem Haupte wölbt, der herrlichste und schönste Teil der sichtbaren Schöpfung und folglich auch das trefflichste Bild jenes Ortes der Majestät und Herrlichkeit des Allerhöchsten zu geben und uns, wenn wir zu ihm beten, mit heiliger Ehrfurcht und mit den Gesinnungen tiefster Demut und Unterwürfigkeit zu erfüllen. Deshalb wollte Christus, daß wir uns im Gebete Gott, unsern Vater, als im Himmel thronend vorstellen. – Durch diese Worte werden wir auch erinnert,

b) daß wir auf Erden nur Pilger sind und daß unser wahres Vaterland der Himmel ist.

Unser wahres Vaterland ist offenbar da, wo unser wahres Vaterhaus sich befindet; dieses Vaterhaus ist aber der Himmel. Hienieden haben wir also keine bleibende Stätte, wir suchen alle eine zukünftige, in der wir ewig wohnen dürfen. Nach dieser bessern, ewigen Heimat, wohin uns schon so viele unserer Brüder voran gegangen sind, sollen wir uns sehnen. Was immer die Erde bietet, vermag unser Herz nicht zu befriedigen; die Wonnen des himmlischen Vaterhauses allein vermögen seine Durst nach endloser Seligkeit zu stillen. – Die Worte: „Der du bist in im Himmel“ erinnern und noch ganz besonders daran,

c) daß wir bim Beten unser Herz vom Irdischen losreißen und zum Himmel erheben müssen.

Wie die Worte: “Empor die Herzen“, womit der Priester beim hl. Meßopfer die Gläubigen auffordert, das irdische außer Acht zu lassen und nur auf das zu vollziehende himmlische Geheimnis zu merken: so enthalten auch die Einleitungsworte des Vaterunser eine dringende Mahnung, im Augenblicke, wo wir zu Gott reden, alle irdischen Sorgen zu vergessen, um einzig an das Himmlische denken und mit frommer Sammlung dem Vater im Himmel unsere Bitten vortragen zu können.

aus: P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Bd. 3, 1912, S. 428-431

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