Verschiedene Phasen der messianischen Frage im Schoße des jüdischen Volkes seit der Zerstörung Jerusalems
Drittes Kapitel.
Statt des Studiums der Bibel das Studium des Talmud
IV.
Wie es scheint, hätte sich nach einer solchen gänzlichen Umkehrung der Prophetien der Rabbinismus beruhigen können. Wenn es sich aber um Vorsichtsmaßregeln handelt, so erschöpft die hebräische Umsicht alle. Folgen wir nun allen Stufen dieses Unterdrückungsprozesses.
Durch die Anathemas hat man dem Volk die Zutritte zu der Frage verwehrt; durch die Verdrehung der Prophezeiungen verwirrt man diejenigen, welche sich damit befassen; es blieb noch eine letzte, höchste, endgültige Maßregel, nämlich die, auf ihre gänzliche Vergessenheit hinzuwirken. Dem Rabbinismus gelang dies, indem er an die Stelle des Studiums der Bibel das Studium des Talmuds setzte.
Wenn man diese ungeheure Kompilation, welche den Namen Talmud trägt, vom Gesichtspunkt der Philosophie der Geschichte aus betrachtet, so entdeckt man darin einen doppelten Zweck. Der erste ist augenfällig: es ist der Zweck der Erhaltung. Die jüdischen Traditionen, welche lange Zeit von Mund zu Mund gegangen waren, weil es verboten war, sie aufzuschreiben, waren dem ungeachtet in einem einzigen Kodex gesammelt worden, weil man bei der sich immer mehr in die Länge ziehenden Zerstreuung fürchtete, sie könnten verloren gehen. Dieses zu Anfang des zweiten Jahrhunderts durch Judas den Heiligen in Palästina angefangene Sammelwerk wurde zu Anfang des sechsten in Babylon vollendet und erhielt den Namen Talmud, was Belehrung, Übertragung besagen will.
Unter diesem Zweck des Sammelns und des Erhaltens birgt sich aber ein anderer, den die einen nicht kennen, den die andern nicht zugestehen, der aber aus der Anlage, der Zusammenstellung und der Anwendung der talmudischen Schriften hervorgeht – es ist der Zweck der Ablenkung.
Was enthält in Wirklichkeit der Talmud in seinen zwölf Foliobänden? Und welches ist seine Rolle im Schoß der jüdischen Schule gewesen?
Kraft dessen, was wir in diesem Buch und in der Geschichte gelesen haben, stellen wir, ohne fürchten zu müssen, der Lüge überführt zu werden, folgende zweifache Behauptung auf:
Erstens, der Talmud ist ein Buch voll wissenschaftlicher, zeremonieller und kasuistischer Fragen, aber leer oder doch nahezu leer an dogmatischen und namentlich an messianischen Fragen.
Zweitens: auf dieses Buch wurden das ganze Mittelalter hindurch die jüdischen Schulen beschränkt, ja sie wurden gleichsam in dessen Blätter eingeschlossen, und zwar in dem Grad, daß das Programm der Studien in dem berühmten Satz sich formulierte: „Die Bibel ist das Wasser, die Mischna ist der Wein und die Ghemara ist der duftende Würzwein. Wer sich mit der Bibel beschäftigt, tut etwas Gleichgültiges; wer sich mit der Mischna beschäftigt, verdient Belohnung; wer sich mit der Ghemara beschäftigt, tut von allen Handlungen die verdienstvollste.“ (1)
(1) Cod. Sopherim. c. 15. – In gem. Jerosoly., Massechoth Berachoth. c. 1.f. 3. col. 2. – Buch Caphtor f. 121. – Chagiga. f. 10.1. – Rabbi Salomon in Glossa ad Gittin. c. 5. f. 57, 1.
Der Talmud besteht aus zwei Teilen: aus der Mischna und aus der Ghemara; die Mischna enthält den Text der Traditionen, die Ghemara den Kommentar dazu. Deshalb heißt es, daß derjenige, welcher nur den Text oder die Mischna liest, nur eine gewisse Belohnung verdiene, während derjenige, welcher den Kommentar oder die Ghemara liest, die verdienstvollste aller Handlungen vollziehe.
Ja, es gab eine Zeit in unserer Geschichte, in welcher, das Lesen der Thora (2) ausgenommen, die Beschäftigung mit der Bibel etwas Gleichgültiges war. Es gab eine Zeit, da man, unter dem unaufhörlichen Druck der Talmudisten, den wissenschaftlichen Genius des hebräischen Volkes, diesen schönen Genius, der sich Isaias, Amos, Joel genannt hatte, plötzlich die Richtung verändern, gleich einem großen Strom, den man trocken legen will, das majestätische Bett, welches Gott ihm bereitet hatte und in dem er seit vierzig Jahrhunderten seinem Lauf gefolgt war, verlassen,, von den gesegneten Ufern der Bibel, von den Hügeln von Gabaa und von den Feldern von Saron scheiden sah, um sich in die dürre Trockenheit der Sandwüsten, in die Schwindel erregenden Fragen des Talmud zu verlieren. Kein weiter Horizont, kein heiliger Schauer auf den Höhen mehr!
Das Volk wird sich künftighin nur noch mit Fragen über reines oder unreines Fleisch, über das Zuziehen oder Abwaschen von Befleckungen, über kleinliche Sabbat-Bestimmungen und über den Kalender beschäftigen. Die Kirchenväter haben dies alles beobachtet und ihr Mitleid war groß. „Statt euch den Sinn der Prophezeiungen auszulegen“, sagt einer von ihnen, „erniedrigen sich eure Lehrer durch Albernheiten; sie quälen sich, zu wissen, warum in dieser oder jener Stelle von männlichen Kamelen gesprochen, warum gerade diese oder jene Quantität Mehl oder Öl in euren Opfern verwendet wird. Sie forschen mit gewissenhafter Sorgfalt, warum dem ursprünglichen Namen Abrahams ein Alpha und jenem Sarah`s ein Rau hinzugefügt wurde. Dies ist der Gegenstand ihrer Forschungen. Was wichtige und des Studiums wahrhaft würdige Dinge betrifft, so wagen sie nicht, euch davon zu sprechen; sie unternehmen es nicht, sie zu erklären und sie verbieten euch, uns zuzuhören, wenn wir sie erklären.“ (Dial. S. Just. c. Tryphon.)
(2) Die Thora oder das Gesetz besteht aus den fünf Büchern Moses.
Man urteile nach den Fragen, die man behandelt. Dreht es sich um die Händewaschung, so bemerkt man, daß jeder, der sich die Hände wäscht, auf vier Dinge achten soll:
Auch das Wasser selbst: daß es kein für die Händewaschung unerlaubtes sei;
Auf das Maß: daß es für beide Hände ein Viertel betrage;
Auf das Gefäß: daß das Wasser, womit man sich wäscht, in einem Gefäß sei;
Auf den, welcher wäscht: daß derjenige, welcher das Wasser ausgießt, es kräftig ausgieße (Hilchoth, Berachot. VI. 6.)
Diese Vorschriften erheischen neue Erklärungen: Vier Dinge machen das Wasser unrein, so zum Beispiel: wenn es schon zu einer Verrichtung gedient hat. Dies nötigt zu andern Forschungen, um das Wort „Verrichtung“ zu bestimmen. Hierauf folgen Anweisungen in Betreff der Ausdehnung der Händewaschung, der Haltung der Hände, ob man sie hoch oder niedrig halten und auf welche Weise man sie abtrocknen soll usw.
Handelt es sich um Verbote am Sabbat, so prüft man:
Ob man aus Furcht, ein Körnchen aus der Furche zu entfernen und es anders wohin zu versetzen, indem man mit dem Fuß daran rührt – was gleichbedeutend mit Säen sei – nicht verbieten solle, an Sabbat-Tagen einen Gang durch ein frisch besätes Feld zu machen.
Ob man, wenn man an diesem Tag seinen Esel zur Tränke führen wolle, ihn besteigen oder sich begnügen solle, ihn am Halfter zu führen?
In die Windungen solcher endloser und lächerlicher Spitzfindigkeiten ließ man die Geister sich verwickeln. Man begreift, wie sie dadurch herabgezogen wurden. „Die jungen, in einer solchen Schule erzogenen Rabbiner erhalten ein unauslöschliches Gepräge. Aus dieser unbarmherzigen Walkmühle geht ihr Geist platt gedrückt, aber verhärtet hervor, so wunderlich verdreht, daß sie nicht mehr wie andere Menschen zu denken und zu fühlen vermögen. (3)
(3) Albert Reville: Le peuple Juif et le Judaïsme au temps de la formation du Talmud.
So konnte sich auch mit vollem Recht noch in jüngerer Zeit ein israelitischer Schriftsteller über unseren intellektuellen Zustand im Mittelalter in Kürze folgendermaßen äußern:
„Den Talmudisten verdanken die Juden in ihrem Exil die Erstickung jedes Funkens geistiger Unabhängigkeit, philosophischen Denkens… seitdem der Talmud, dieses Buch von Blei, auf den Juden lastet, haben die Juden keine Geschichte mehr.“ (Moïse et le Talmud, par Alexandre Weil. p. 338.)
Um vollständig zu sein, hätte er hinzufügen müssen: haben sie namentlich keine messianische Frage mehr. Ja, seitdem dieses Buch von Blei auf Israel lastet, haben die Juden keine messianische Frage mehr. Was der Ghetto für unsern Leib gewesen ist, ist der Talmud für unsere Intelligenz gewesen: er hat sie erdrückt. Es galt, zu verhindern, daß das Volk zu den Prophezeiungen zurückkehre; und dies ist gelungen. Eine traurige, wenn auch gelehrte Ablenkung – im Ganzen und Großen genommen, weiter ist der Talmud nichts.
Die Bibel war zu klar; die siebzig Wochen Daniels waren zu klar; der zweiundzwanzigste Psalm Davids war zu klar; das dreiundfünfzigste Kapitel des Isaias war zu klar: auf alle diese Klarheit, o Israeliten, haben Eure Rabbiner die Last ihres Talmuds geworfen.
V.
Und über den Messias herrscht tiefes Schweigen. Wenn dann und wann eine jüdische Feder diese Frage wieder aufgreift, so geschieht es nur vorübergehend und gleichsam außerhalb der Synagoge, einzig um die allzu drängende Dialektik irgendeines Christen zu widerlegen. Innerhalb aber, im Innern der Ghettos, herrscht das Schweigen und mit ihm jene Art von Trauer, welche gegenseitige Mitteilung ausschließt. Man könnte von einer Religion in Trauer sprechen, von einer Melancholie, die nicht ihren Grund in einer Wiege hat, welche zu erscheinen zögert, sondern in einem Grab!
Merkwürdig: unter allen diesen so bei Seite geschobenen Prophezeiungen gab es eine, welche gerade diesen Zustand der Erstickung mit seinen Resultaten, dem Vergessen und Nichtwissen, vorausgesagt hat. „Alle ihre, der Propheten, Gesichte sind euch wie die Worte eines versiegelten Buches; man gibt es einem, der lesen kann und sagt: Lies das!“, aber er antwortet: „Ich kann nicht, denn es ist versiegelt.“ (Is. 29, 11)
Ja, das versiegelte Buch, das ist die letzte Konsequenz des Talmuds, der Verfluchungen und aller der Maßregeln der Rabbiner. Das Buch verschlossen, die Bibel unmöglich gemacht, unmöglich für uns – o Gott, welche Demütigung! Und welches Unglück für dich, armes Volk Israel! Ein Buch haben, welches Licht, Auferstehung, Unabhängigkeit, Ruhm enthält, und es nicht öffnen können – o Siegel der Rabbiner, wie seid ihr grausam! Wundert euch nicht, wenn wir euch zu brechen suchen! –
aus: Gebr. Lémann, Die Messiasfrage und das vatikanische Konzil, 1870, S. 36 – S. 41
Fortsetzung Kapitel 4 Teil 1: Der Messias als Mythos betrachtet
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