Die Macht der Rabbiner im Mittelalter

Die Skulptur des jüdischen Gelehrten Maimonides in Cordoba

Verschiedene Phasen der messianischen Frage im Schoße des jüdischen Volkes seit der Zerstörung Jerusalems

Drittes Kapitel.

Periode der Verzweiflung und des Schweigens

Die Macht des  Rabbinismus im Mittelalter

I.

Wenn man sich von einer Epoche eine richtige Idee machen und mit Unparteilichkeit die Menschen und die Gebräuche einer andern Zeit beurteilen will, muss man sich vor allem in jene Zeit versetzen; man muss vermittelst der Einbildungskraft den Kreis, in welchem man lebt, verlassen und vergessen und sich in jenen Kreis zurück versetzen, in welchem man damals lebte. Diese Wiederherstellung historischer Kreise ist die notwendige Bedingung einer unverfälschten Kritik.

Wir sind im Mittelalter. Welche Sonderstellung nehmen zu dieser die Kinder Jakobs ein? Drei Bemerkungen werden uns helfen, dem Geist unserer Leser den Kreis, in dem sie sich bewegten, wieder zur Anschauung zu bringen.

Erstens: die Zerstreuung ist vollendet. Sie ist mit der Erscheinung der europäischen und christlichen Nationen zusammen gefallen, welche, aus dem romanischen und aus dem germanischen Stoff gebildet, im Romanismus und im Germanismus für Jahrhunderte ihre herrliche Bildungsarbeit beginnen. Der Sturm der Zerstreuung hat die Juden mitten unter alle geworfen, so daß jede von ihnen sich bildet mit einem Kern von Juden in ihrem Schoß.

Zweitens: indem jede Nation sich bildet, weist sie die Juden als mitwirkenden Teil zurück; man will sie nicht in der Organisation und im Aufblühen der neuen Gesellschaft. Ebenso wollen auch sie sich nicht in die allgemeinen Verhältnisse der Gesellschaft des Mittelalters fügen, aus Furcht, dadurch ihre Gebräuche, ihre Gesetze, ihre Traditionen zu verlieren. Auf beiden Seiten will man für sich sein. Daher rühren die Ghettos oder Judenviertel, die eben sowohl die Juden, als die Christen positiv gewollt haben.

Wir haben uns soeben des Ausdruckes bedient: jede Nation bildete sich mit einem Kern von Juden in ihrem Schoß. Dieses Bild stellt ihre neue Rolle dar. Eingehüllt in die Frucht, welche sich färbt und welche reift, während er verborgen bleibt, ist der Kern der harte, starre Teil, der sich nicht mit dem Übrigen assimilieren will; der dagegen Schätze für die Zukunft in sich bewahrt hält. So verhielt es sich mit den Juden; um sie herum reifte und entwickelte sich die junge christliche Gesellschaft; dieselbe hielt sie in ihrem Schoß eingeschlossen; aber gleich dem Kern blieben sie hart, undurchdringlich, der Zukunft vorbehalten.

Drittens – und das ist der Zentralpunkt des historischen Kreises, den wieder herzustellen wir versuchen – bei Seite geschoben, zieht sich jeder Kern von Juden in eine Art verzweifelter Organisation zusammen, die sich im Rabbiner konzentriert. Man würde mit Unrecht glauben, die Juden wären in ihren Ghettos einer Blättermasse gleich gewesen. Erstlich lebten sie darin, wie man im Mittelalter lebte, das heißt: als eine eigentliche Korporation, mit ihrer Autonomie, ihren Richtern, ihren Gesetzen, ihren Privilegien; der Rabbiner war in jedem Ghetto das Haupt der Gemeinschaft; man hatte sich in verschiedenen Vorkommnissen des bürgerlichen Lebens an ihn zu wenden und der König verschaffte seinen Dekreten nötigenfalls Achtung.

Aber diese Macht der Rabbiner, welche ihre erste Begründung in dem allgemeinen Zustand der Gesellschaft zu jener Zeit fand, erhielt dafür einen zweiten, in anderer Weise bedeutenden Grund durch den besonderen Zustand der Zerstreuung, in welchem sich die Juden befanden. So lange man Palästina bewohnt hatte, war man sorgsam auf die Teilung der Gewalt bedacht gewesen. Jede der drei großen Institutionen: das Priestertum, der hohe Rat, die Schule hatte ursprünglich ihre besonderen Befugnisse. Als man aber zerstreut war, bewirkten teils der Instinkt der Selbsterhaltung, teils die Verwirrung und die Gewohnheit, daß die Trümmer dieser dreifachen Macht in die Hände eines einzigen Mannes gelegt wurden, der jedoch weder Priester, noch Richter, noch Lehrer war; auf diese Weise gelangte der Rabbiner, der übrigens seines Wissens und seiner persönlichen Eigenschaften wegen in freier Wahl von seinen Religionsgenossen ernannt wurde, zu seiner hohen Bedeutung.

Nun zeigte sich aber im Ghetto, was überall vorkommt, wenn alle Gewalt in einen Einzigen vereinigt ist: die rabbinische Autorität wurde übertrieben und zwar oft in lächerlicher Weise. Man liest mit Erstaunen, wie die Rabbiner selbst von ihrer Autorität sprechen: „Lerne, mein Sohn, lerne den Worten der Weisen eine größere Aufmerksamkeit schenken, als den Worten des Gesetzes.“ (Buch-Caphtor. f. 121) „Schwerer ist die Sünde gegen die Worte des Weisen, als gegen die Worte des Gesetzes.“ (Mischna, Tract. Sanhedr. c. X. §3.) Und die Bewohner des Ghetto dachten nicht daran, dem zu widersprechen. „Alles, was unsere Rabbiner in ihren Lektionen gelehrt haben“, schreibt einer von ihnen, „soll ebenso angenommen werden, wie das Gesetz Mosis. Und käme es vor, daß das, was sie sagen als hyperbolisch oder gegen die Natur oder über unsere Intelligenz hinaus gehend erschiene, so müsste man dies nicht ihren Worten, sondern der Schwerfälligkeit und Armseligkeit unseres Geistes zuschreiben.“ (Isaak Aboab, in seinem Candelabrum lucis, zitiert bei Buxtorf: Proben des Talmud. 70) Dem zu Folge überrascht es nicht, wenn Basnage, der die Sache gründlich studiert hat, sagen konnte: „Die Rabbiner versäumen nichts, um ihrer Autorität Geltung zu verschaffen. Sie behaupten, man könne ihre Gesetze nicht übertreten, ohne sich dem Tod auszusetzen. Sie führen dafür Furcht erregende Beispiele an.“ (Basnage, t. III. c. 30. Nr. 16)

So erscheint der Rabbinismus in dem von uns soeben angegebenen Zeitpunkt als der Knoten, in welchem sich alle zerstreuten Kräfte der Synagoge sammeln, zusammen ziehen und verdichten. –
aus: Gebr. Lémann, Die Messiasfrage und das vatikanische Konzil, 1870, S. 25-27

Fortsetzung Kapitel 3 Teil 2: Die Messiasfrage der Juden im Mittelalter

Bildquellen

  • sculpture-maimonides-3092121_640: pixabay
Tags: Judentum

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