III. Das Königreich Jerusalem
Kaum hatte Gottfried von Bouillon die Regierung des neuen christlichen Staates von Jerusalem angetreten, als der Bestand desselben durch ein gewaltiges Heer in Frage gestellt wurde, mit welchem Afdal, der Wesir des Kalifen von Kairo, zur Wiedereroberung des verlorenen Landes heranrückte.
Die Schlacht bei Askalon
Nach der geringsten Angabe zählte dasselbe 140.000 Mann, und Gottfried konnte demselben nur ein Heer von 5.000 Reitern und 15.000 Fußgängern entgegenführen; dennoch errang er den Sieg durch die kluge Umsicht, mit welcher er den Heldenmut der Seinigen zu leiten wusste. Das feindliche Heer wurde am 14. August bei Askalon vollständig zersprengt, und aus dem erbeuteten feindlichen Lager brachten die Sieger reichliche Lebensmittel für die Soldaten, Waffen und Pferde für die Ritter und zahlreiche Last- und Zugtiere für die christlichen Ansiedler zurück.
Die Standarte des Kalifen, die ein Pilger dem erschlagenen Fahnenträger abgenommen, wurde zum Gedächtnis des durch den Beistand des Erlösers errungenen Sieges in der Kirche des heiligen Grabes aufgehängt.
Nach der Schlacht bei Askalon kehrten viele Fürsten und Herren, denen sich 20.000 andere Pilger anschlossen, in ihre Heimat zurück, da sie mit der Befreiung des heiligen Grabes ihr Gelübde für erfüllt erachteten und nach der Gründung des Königreiches Jerusalem von den Ungläubigen für die Sache des Kreuzes im Morgenland nichts mehr befürchten zu müssen glaubten.
Verfassung und Gesetzgebung des Königreichs Jerusalem
Nachdem Gottfried durch den glänzenden Sieg bei Askalon den Bestand seines Reiches gesichert, war seine erste Sorge darauf gerichtet, demselben eine den inneren Frieden schützende Verfassung zu geben. Da die Bevölkerung desselben aus beinahe allen europäischen Nationen und verschiedenen morgenländischen Völkerschaften gemischt war, hielt er es für nötig, den heimatlichen Rechten aller einzelnen so viel als möglich Rechnung zu tragen.
Er berief daher den Patriarchen und die höhere Geistlichkeit von Jerusalem, sowie die Fürsten und Barone zusammen, um unter ihrer Mitwirkung aus den verschiedenen Gesetzgebungen des Abendlandes dasjenige auszuwählen, was für die Verhältnisse des neuen Staates am geeignetsten schien. So entstand eine Reihe von Satzungen – Assisen und Gewohnheiten genannt – die in den „Lettres du st. sépulcre ou livre des assises et bons usages du royaume de Jérusalem“ zusammengetragen wurden.
Nach dieser Verfassung bildete das Königreich Jerusalem ein unteilbares Erbreich, dessen Krone in Ermangelung männlicher Erben auf die Töchter überging. Bei dem Aussterben der herrschenden Dynastie wählten die höheren geistlichen und weltlichen Herren einen neuen König.
Die Aufgabe des Königs von Jerusalem
Vor der Krönung, die in der Auferstehungskirche durch den Patriarchen von Jerusalem vollzogen wurde, musste der König durch einen feierlichen, auf das Evangelienbuch abgelegten Eid geloben, mit aller ihm zu Gebote stehenden Macht die Kirche, die Witwen und Waisen in ihren Rechten gegen jedermann zu erhalten und zu beschirmen, die Gerechtigkeit zu handhaben und alle Gewohnheiten, Satzungen und Ordnungen des Reiches aufrecht zu erhalten und zu erfüllen. Hierauf setzte ihm der Patriarch, unter der Zusicherung seiner Treue und seines Beistandes, die Krone auf, überreichte ihm die übrigen Abzeichen der königlichen Würde: Ring, Schwert, Zepter und Reichsapfel, und stellte ihn dem versammelten Volk als König vor, worauf ihm die anwesenden Lehensträger den Eid der Treue leisteten. –
Der König war Oberrichter und Feldhauptmann, in allen wichtigen Fragen aber an den Rat der Großen gebunden. Die unmittelbaren Vasallen, die Barone, bildeten die erste, ihre Lehensträger, les hommes du royaume, die zweite und ihre Untervasallen, les hommes liges, die dritte Klasse des Lehensadels. Die Lehen erbten in männlicher und weiblicher Linie. Alle Großen und Barone waren verpflichtet, dem Landesherrn auf dem Schlachtfeld, wie im Rat, zu dienen, ihn an Leib und Ehre zu beschützen und zu rächen und sich für ihn als Geisel zu stellen, falls er in Feindeshände fiel.
Die Verpflichtung zum persönlichen Lehensdienst hörte auf, wenn der Vasall das sechzigste Lebensjahr zurückgelegt hatte oder durch körperliche Gebrechen zum Kriegsdienst unfähig geworden war. Die Nichterfüllung der Lehenspflicht galt als Treuebruch und hatte für den Schuldigen, je nach der Schwere seines Vergehens, den zeitweiligen oder dauernden Verlust seines Lehens zur Folge.
Die vier Kronbeamten des Königreichs Jerusalem
Der oberste der vier Kronbeamten des Königreichs Jerusalem war der Seneschall, der die Verwaltung der königlichen Einkünfte innerhalb und außerhalb des Landes leitete, die Aufsicht über die königlichen Schlösser und Festungen führte, die königlichen Beamten als ihr Vorgesetzter in Eid und Pflicht nahm und in Abwesenheit des Königs dessen Stelle vertrat.
Ihm zunächst im Rang standen der Connetable oder Kronfeldherr, der nach dem König die erste Stelle im obersten Gerichtshof und die höchste Gewalt im Heer hatte, und der Marschall, dem hauptsächlich die Schlichtung der Streitigkeiten zwischen den Herren und den Waffenknechten, sowie die Verteilung der Beute oblag. Das unbedeutendste Amt war das des Großkammerherrn (Chamberlain), dessen Funktionen auf den Ehrendienst um die Person des Königs bei feierlichen Gelegenheiten beschränkt waren.
Wie der König im obersten Gerichtshof, der haute cour, zu Gericht saß über die Barone, so sprachen diese wieder Recht über ihre Vasallen und übten in ihren Territorien auch alle anderen Hoheitsrechte ganz selbständig aus. Für die Städte bestanden, als richterliche Behörden, Bürgerhöfe, cours des borges oder bourgeois, auch basses cours genannt, in welchen, je nach ihrer Lage in königlichen oder lehnbaren Territorien, teils Beamte des Königs, teils Stellvertreter der Barone den Vorsitz führten. Die einheimischen Christen behielten ihre früheren Rechte bei.
Die vollständige Unabhängigkeit der Kirche
Die Kirche erhielt eine ähnliche Organisation wie im Abendland, doch genoss sie eine noch größere Selbständigkeit. Vollständig unabhängig von der weltlichen Macht, hatte sie nur in Fällen der Not das Kriegsheer durch Subsidien zu unterstützen. An ihrer Spitze stand der Patriarch von Jerusalem, unter welchem fünf Erzbischöfe und eine große Anzahl von Bischöfen die kirchlichen Angelegenheiten des Reiches leiteten.
Die von Gottfried erlassenen Satzungen wurden in einen großen Kasten verschlossen, der nur in Gegenwart des Königs oder eines der hohen Barone an seiner Statt, sowie des Patriarchen oder seines Stellvertreters und verschiedener anderer hoher Personen geöffnet werden durfte, und in der Kirche des heiligen Grabes aufbewahrt, weshalb sie auch Briefe des heiligen Grabes hießen. Sie wurden von Gottfrieds Nachfolgern, je nach den Bedürfnissen der Zeit und der Umstände, erweitert und verbessert. Als Jerusalem im Jahr 1187 wieder in die Hände der Türken fiel, wurden die Lettres du st. sépulcre nach Zypern gebracht, wo sie gleichfalls als Gesetzbuch galten.
Die Regierung von König Gottfried war nur von kurzer Dauer
Gottfried waltete seines Herrscheramtes mit Umsicht, Gerechtigkeit und Milde; er schützte die Grenzen, förderte Handel und Gewerbe und genoss auch bei den Ungläubigen eines so hohen Ansehens, dass sogar arabische Häuptlinge ihres Stammesstreitigkeiten vor seinen Richterstuhl brachten.
Leider war die Regierung dieses trefflichen Fürsten nur von kurzer Dauer; denn er starb schon am 28. August 1100. Seine Leiche wurde in der Auferstehungskirche beigesetzt, wo auch seine Nachfolger auf dem Thron von Jerusalem ihre Ruhestätte fanden.
Seine Nachfolger Balduin I. und Balduin II.
Da Gottfried keine Nachfolger hatte, folgte ihm sein Bruder Balduin von Edessa, der den königlichen Titel annahm und achtzehn Jahre regierte. Unter ihm wurde das Königreich Jerusalem durch äußere Gefahren und innere Zwistigkeiten an den Rand des Verderbens geführt und würde schwerlich dem Untergang entronnen sein, hätten nicht die italienischen Freistatten Pisa, Genua und Venedig, deren Handelsinteresse durch die christliche Herrschaft in den Küstenländern des Orients mächtig gefördert wurde, den König in der Aufrechterhaltung seiner Macht unterstützt. Mit ihrer Hilfe wurden nach und nach die wichtigen Hafenstädte Cäsarea, Akkon (auch Acre und Ptolemais genannt), Tripolis, Berytus und Sidon für das Königreich Jerusalem gewonnen.
Nach dem Tode Balduins I. (1118) kam, da auch er kinderlos war, die Krone von Jerusalem an seinen Vetter Balduin von Bourges, der bei Balduins I. Thronbesteigung die Grafschaft Edessa als Lehen erhalten hatte. Unter Balduin II. (118 bis 1131) erreichte das Königreich Jerusalem seine höchste Blüte.
Die vier Hauptteile des christlichen Gebietes
Das der christlichen Herrschaft unterworfene Gebiet erstreckte sich von Tarsus in Cilicien ostwärts bis Edessa und von da südwärts bis in die Gegend von Gaza und zerfiel in vier Hauptteile:
Das Fürstentum Syrien oder Jerusalem, dessen Fürst der König von Jerusalem war, das Fürstentum Antiochien, die Grafschaft Edessa und die Grafschaft Tripolis, deren Inhaber zu dem König in dem gleichen Verhältnis standen, wie die großen Vasallen der französischen Krone zu dem König von Frankreich, und sich im Laufe der Zeit ihrem Lehnsherrn immer selbständiger gegenüberstellten. Unter den vielen kleineren Lehen war das aus der Landschaft Galiläa bestehende und von Tankred gegründete Fürstentum Tiberias das bedeutendste.
Unter Balduin III. kam Edessa unter die Herrschaft der Türken
Nach dem Tode Balduins II. (1131), welchem sein Schwiegersohn, der bereits sechzigjährige Graf Fulco von Anjou, auf dem Thron folgte, kamen stürmische Zeiten über das Königreich Jerusalem, und die Gefahren für den christlichen Staat mehrten sich, als nach Fulcos Tod (1143) sein dreizehnjähriger Sohn Balduin III. den Thron bestieg. Während der vormundschaftliche Regierung seiner Mutter Melisende, die dem Reich mit Umsicht und männlicher Entschiedenheit vorstand, wurde Edessa, die Vormauer Jerusalems, durch Emadeddin Zenki, den Beherrscher von Mossul, der mit Zustimmung des in Ispahan residierenden seldschukischen Großsultans Mahmud II. aus den kleineren von ihm unterworfenen türkischen Herrschaften ein mächtiges Reich gegründet, den Christen entrissen (1144).
Als Zenki zwei Jahre später von einem Sklaven ermordet worden, gelang es zwar den Christen, sich wieder in den Besitz der Stadt zu setzen; allein Zenkis Sohn und Nachfolger Nureddin, der seinem Vater an Tatkraft und Herrschertalent nicht nachstand, eilte sogleich mit einem zahlreichen Heer herbei, und die zur Verteidigung der Stadt zu schwachen Christen sahen kein anderes Mittel der Rettung, als sich den Abzug durch das feindliche Heer zu erkämpfen. Die meisten erlagen dabei der Übermacht, und diejenigen, welche den Türken lebend in die Hände fielen, wurden unter schweren Misshandlungen gefesselt in ferne Gegenden abgeführt.
Die Stadt selbst ließ Nureddin zur Strafe für ihren Abfall von Grund aus zerstören, und Jahrhunderte lang bot das einst so reiche und prachtvolle Edessa nur noch das Bild eines wüsten Trümmerhaufens. –
aus: F. J. Holzwarth, Weltgeschichte, 3. Bd., 1885, S. 551 – S. 555
siehe auch die Beiträge:
- Die Veranlassung der Kreuzzüge
- Der erste Kreuzzug (1095 bis 1100)
- Der dritte Kreuzzug (1189 bis 1192)
Bildquellen
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