II. Der erste Kreuzzug (1095 bis 1100)
Der voreilige Beginn des Kreuzzugs
Auf der Kirchenversammlung von Clermont war der Aufbruch der Kreuzfahrer auf den Himmelfahrtstag des kommenden Jahres festgesetzt worden; aber der glühende Eifer Peters vom Amiens konnte diesen Zeitpunkt nicht erwarten, und da auch unter dem Landvolk die Sehnsucht nach der in Aussicht stehenden Befreiung von dem Joch der Knechtschaft eine stürmische Bewegung hervorgerufen, welche die Gutsherren nicht zu bewältigen vermochten, brach der begeisterte Einsiedler schon im Frühjahr 1096, ohne die Kriegsbereitschaft der Fürsten abzuwarten, an der Spitze einer ungeordneten Schar von Landleuten, denen sich zahlreiches beutelustiges Gesindel angeschlossen, nach dem Osten auf.
Das Gleiche tat der französische Ritter Walther von Pexejo, unter dessen Fahnen 15.000 Franzosen zusammengeströmt waren; seine Scharen wurden jedoch auf ihrem Zug durch Ungarn und Bulgarien teils durch Hunger und Elend, teils durch die Angriffe der über ihre Raubsucht erbitterten Bevölkerung zum größten Teil aufgerieben, und Walther selbst fand in Bulgarien den Tod.
Sein Neffe Walther, von seinen Landsleuten wegen seiner Armut Gauthier de Senzavoir (Walther von Habenichts) genannt, führte die Überbleibsel des Heeres nach Konstantinopel, wo der Kaiser Alexius sich ihrer annahm. Peter von Amiens, der auf seinem Zug nicht minder schweres Ungemach erfuhr, erreichte Konstantinopel mit einem Heerhaufen von 40.000 Mann, die gleichfalls von Alexius die erbetene Unterstützung erhielten.
Das leichte Spiel der Türken gegen die voreiligen Christen
Der Kaiser riet den beiden Heerführern, die ihre Scharen vereinigt hatten, in der Nähe von Konstantinopel die Ankunft der größeren Kreuzheere abzuwarten, da sie allein gegen die Türken zu schwach seien; aber die Pilger achteten keiner Vorstellung und baten so dringend um die zur Überfahrt nach Kleinasien nötigen Schiffe, dass der Kaiser ihrem Verlangen nachgab und die kampfbegierigen Scharen nach Bithynien übersetzen ließ.
Hier erlagen die meisten dem Schwert der Türken, die um so leichteres Spiel gegen sie hatten, als unter ihnen selbst Zwistigkeiten entstanden waren. Mit dem halbverschmachteten Überrest, der nur noch 3000 Mann zählte, kehrte Peter nach Konstantinopel zurück. Walther hatte in einem Treffen den Tod gefunden.
Gottfried von Bouillon
Gottfried von Bouillon und Barone im kaiserlichen Palast von Alexios I. Komnenos
Unterdessen hatten die Fürsten und Ritter ihre Rüstungen beendet und zogen ihre Scharen zusammen, um auf verschiedenen Wegen nach Konstantinopel aufzubrechen, von wo der Zug gemeinsam fortgesetzt werden sollte.
Unter der großen Zahl tapferer Helden, die an der Spitze des Unternehmens standen, ragte besonders der hochherzige Gottfried von Bouillon hervor, der zu den ererbten Gütern seines Oheims, des Herzogs Gottfried V., des Buckligen, von Niederlothringen, auch dessen Herzogtum von Heinrich IV. erhalten hatte. Als einem der kriegstüchtigsten Anhänger dieses Monarchen in dem Kampf desselben mit seinem Gegner Rudolf von Schwaben war ihm in der Schlacht bei Merseburg der Oberbefehl über Heinrichs Heer anvertraut worden, und von seiner Hand hatte Rudolf die Todeswunde empfangen. Wie er zu den tapfersten Fürsten des Reiches zählte, so war er auch hoch angesehen und allgemein beliebt wegen seines biederen Sinnes, seiner Rechtschaffenheit, Leutseligkeit und Frömmigkeit.
Schon lange hatten die Erzählungen der aus Palästina zurückgekehrten Pilger von dem Wüten der Türken gegen die Christen sein Herz mit tiefem Unmut erfüllt, und er folgte der Mahnung des Papstes mit umso größerer Beteiligung, als ihm der heilige Krieg Gelegenheit bot, seine Beteiligung an dem Schisma durch ritterliches Kämpfen für den christlichen Glauben zu sühnen.
Nachdem er sich durch den Verkauf der meisten seiner Besitzungen und die Verpfändung seines Stammschlosses Bouillon die nötigen Geldmittel zu umfassenden Rüstungen verschafft und seine beiden Brüder Balduin und Eustach sich ihm angeschlossen, sah er sich bald an der Spitze eines glänzenden Heeres von 80.000 Fußgängern und 10.000 Reitern, mit welchem er im August 1096 aufbrach, um durch das südliche Deutschland, Ungarn, und Bulgarien nach Konstantinopel zu ziehen.
Bei ihm hatte sich auch der tapfere Graf Robert von Flandern, der einen großen Teil seines bedeutenden Vermögens zur Ausrüstung unbemittelter Kreuzfahrer verwandt, mit vielen Bischöfen, Rittern und andern Herren aus Flandern, Hennegau und Lothringen eingefunden, die mit ihren Scharen den gleichen Weg einschlugen.
Graf Hugo von Vermandois
Eine andere Heersäule, an deren Spitze der durch Rittersinn und Tugend ausgezeichnete Graf Hugo von Vermandois, der Bruder Philipps I. von der Normandie, Wilhelms des Eroberers Sohn, standen, wandte sich nach Italien, von wo sie im Verein mit dem Fürsten Boemund von Tarent, Robert Guiscards gleichgeartetem Sohn, und dessen Vetter, dem kühnen, ruhmbegierigen Ritter Tankred, über das adriatische Meer setzte, um durch Albanien und Griechenland Konstantinopel zu erreichen.
Graf Raimund von Toulouse
Mit einer dritten Schar Kreuzfahrer aus dem südlichen Frankreich zog der durch Reichtum, Milde und Frömmigkeit gleich ausgezeichnete Graf Raimund von Toulouse, der schon auf der Kirchenversammlung zu Clermont seine ganze Macht dem Papst für den Dienst des Kreuzes zur Verfügung gestellt, in Begleitung des Bischofs Ademar von Puy, über die Alpen durch Friaul und Dalmatien dem gleichen Ziel zu.
Die Hinterlist des griechischen Kaisers Alexius Komnenus
Obgleich der griechische Kaiser Alexius Komnenus selbst die Hilfe des Abendlandes gegen die ihn bedrängenden Türken angerufen, erschrak er doch vor der Menge der Kreuzfahrer, deren wohlgerüstete Heere von drei Seiten her gleich einem gewaltigen Völkerstrom gegen Konstantinopel herangezogen; denn er fürchtete für den Bestand seines morsch gewordenen Reiches, das in der Tat für die abendländischen Fürsten, wenn sie sich zu einem gemeinsamen Angriff auf dasselbe geeinigt hätten, eine leichte Beute gewesen sein würde. Daher suchte er den Kreuzfahrern durch Hinterlist Schwierigkeiten aller Art zu bereiten und war sogar treulos genug, den Grafen Hugo von Vermandois, der an der griechischen Küste Schiffbruch gelitten, nach Konstantinopel bringen zu lassen, um ihn dort als Gefangenen zurückzuhalten.
Gottfried, der inzwischen mit seinem Heer in die Nähe der byzantinischen Hauptstadt gekommen, suchte durch gütliche Vorstellungen den Kaiser zur Freilassung des Grafen zu bewegen; da er jedoch auf diesem Wege nicht zum Ziel gelangte, ließ er, um den Kaiser einzuschüchtern, die Umgebungen von Konstantinopel verwüsten. Im Bewusstsein seiner Schwäche beeilte sich Alexius, die Hand zur Versöhnung zu bieten.
Gottfried, dem es vor allem darum zu tun war, möglichst rasch nach Asien zu kommen, um ungesäumt den Kampf für die Befreiung des heiligen Landes beginnen zu können, ließ sich bewegen, den von Alexius geforderten Vasalleneid für die im Morgenland zu machenden Eroberungen zu leisten, und bewog auch Boemund, der bereits Pläne zum Sturz des griechischen Reiches entworfen, das Gleiche zu tun. Auch die später eintreffenden Fürsten traten dem zwischen Gottfried und Alexius abgeschlossenen Vertrage bei, kraft dessen alle diejenigen morgenländischen Städte, die vordem zu dem griechischen Reich gehört, demselben wieder zufallen sollten, sobald sie von den Kreuzfahrern erobert worden.
Nur Raimund von Toulouse konnte zu keinem anderen Eid bewogen werden als dem, nie etwas gegen des Kaisers Leben und Ehre zu unternehmen.
Die Belagerung von Nikäa
Im Mai 1097 trafen endlich alle Kreuzfahrer vor Nikäa zusammen, wo sich auch Peter von Amiens bei ihnen einfand. Ehe die Belagerung von Nikäa begonnen wurde, nahmen die Fürsten eine allgemeine Musterung ihrer Streitkräfte vor, und es wurden bei derselben über 100.000 wohlgerüstete Reiter, zum größten Teil aus dem Ritterstand, und mehr als 500.000 auserlesene Kämpfer zu Fuß gezählt, zu welchen noch viele Tausende von Priestern, Mönchen, Knechten, Weibern und Kindern kamen. Auch jetzt wurde kein allgemeiner Heerführer gewählt, sondern wie bisher, die selbständige Führung der einzelnen Scharen den Fürsten überlassen, unter deren Fahnen sie sich zusammengefunden.
Das stark befestigte Nikäa gehörte dem Sultan von Ikonium, Kilidsch Arslan, der seit dem Tod Malek Schahs, des größten unter den seldschukischen Herrschern, unter welchem Jerusalem erobert worden war und die seldschukische Macht ihren Höhepunkt erreicht hatte, in den inneren Ländern Kleinasiens eine vollständig unabhängige Herrschaft behauptete.
Die geheimen Unterhandlungen der Griechen mit den Türken
Obgleich die Stadt mit einer starken Besatzung und ausreichenden Lebensmitteln versehen war, hätte dieselbe den vereinigten Anstrengungen der Kreuzfahrer, die den zu ihrer Bekämpfung herbeigeeilten Kilidsch Arslan siegreich zurückgeschlagen hatten, erliegen müssen, wäre es nicht den Griechen gelungen, insgeheim mit den Bewohnern von Nikäa Unterhandlungen anzuknüpfen, in folge deren die Truppen des griechischen Kaisers am 20. Juni in die Stadt aufgenommen wurden. Mit Staunen sahen die Kreuzfahrer die Fahnen der Griechen von den Mauern herabwehen; aber so groß auch ihr Unwille über die Schlauheit der Griechen war, sie konnten an dem Geschehenen nichts ändern.
Die Kampf der Kreuzfahrer mit den Türken
Sieben Tage nach der Übergabe von Nikäa an die Griechen setzte das Kreuzheer, in zwei Abteilungen getrennt, seinen Zug nach Palästina fort, den Weg durch das Innere Kleinasiens einschlagend, um sich mit den christlichen Armeniern in Verbindung zu setzen. Die eine Abteilung, von Boemund geführt, wurde bei Doryläum von einem 150.000 Man starken, meist aus Reiterei bestehenden Heere unter Kilidsch Arslan angegriffen und geriet bald, durch eine verstellte Flucht der Türken zu einer ungeordneten Verfolgung derselben hingerissen, in die äußerste Bedrängnis. Schon begannen die aufgelösten Reihen sich zur Flucht zu wenden, als die zweite Abteilung, aus deutschen und französischen Kreuzfahrern bestehend und von Gottfried geführt, zur guten Stunde anlangte.
Unter dem Ruf Gott will es! stürzten sich die muterfüllten Scharen auf die von wilder Siegeslust berauschten Türken; rasch waren auch die bereits zersprengten Reihen Boemunds wieder geordnet, und nach einem kurzen heißen Kampf suchte das aufgelöste türkische Heer in verworrener Flucht das Weite.
Nach diesem teuer erkauften Sieg setzten die Kreuzfahrer, die bei dieser Gelegenheit in den Seldschuken einen ebenso tapferen als verschlagenen Feind kennengelernt, ihren Weg durch Phrygien fort. Da die Türken in diesem ohnehin unfruchtbaren Land alle Vorräte weggeschleppt, hatten die Christen bald mit dem äußersten Mangel zu kämpfen, dessen verheerende Wirkungen noch durch eine erdrückende Sonnenglut erhöht wurden. Rosse und Lasttiere sanken verschmachtet zu Boden; von den Kreuzfahrern erlagen oft mehrere Hunderte an einem Tag dem Hunger oder den ausgebrochenen Krankheiten.
Die Eroberung von Edessa
Noch verhängnisvoller drohte für die Kreuzfahrer ein Streit zu werden, der zwischen Gottfrieds Bruder Balduin und Tankred um den Besitz der eroberten Stadt Mamistra ausbrach. Da Tankred sich durch seine Milde und ritterliche Kühnheit mehr Freunde in dem Heer erworben hatte, als der stolze, herrschsüchtige Balduin, trennte sich dieser von seinen bisherigen Waffenbrüdern und zog nach dem Euphrat, um für sich selbst Eroberungen zu machen.
Bald hatte er Edessa, die Hauptstadt von Mesopotamien erreicht, und nach kurzem Widerstand erlag dieselbe seinem von dem christlichen Teil der Bevölkerung unterstützten Angriff, worauf er seine Herrschaft auch über die umliegenden Städte ausdehnte. So wurde Balduin der Gründer des ersten unabhängigen Fürstentums im Orient, das sich über die reichsten Provinzen des alten Assyriens erstreckte und in der Folge für die christliche Herrschaft im Morgenland eine große Bedeutsamkeit erlangte.
Die Belagerung von Antiochia
Unterdessen hatten die übrigen Kreuzfahrer das uralte, in einem anmutigen, wasserreichen und daher überaus fruchtbaren Tal an den Ufern des Orontes gelegene Antiochia erreicht. Da die günstige Lage der Stadt am Fuß eines Berges und ganz in der Nähe des Meeres, sowie ihre starken, mehrere Hügel umfassende Befestigungswerke den Kreuzfahrern die Belagerung derselben fast unmöglich zu machen schienen, waren mehrere Fürsten der Ansicht, man müsse, bevor man dieselbe beginne, die erschöpften Kriegsleute sich erholen lassen und einen neuen Zuzug aus Europa abwarten, der für das kommende Frühjahr in Aussicht stand,
Raimund von Toulouse gab ihnen jedoch zu bedenken, dass ein Aufschub der Belagerung nur dem Feind zu gut kommen werde, der dadurch Zeit gewinne, die Stadt noch mehr zu befestigen und Verstärkungen aus dem Innern des Landes heranzuziehen, und da die meisten Fürsten dieser Ansicht beitraten, wurde der Beschluss gefasst, die Belagerung von Antiochia sofort zu eröffnen. Da das christliche Heer jedoch nur noch 300.000 streitbare Männer zählte, konnte die Stadt nicht vollständig eingeschlossen werden; von den fünf Toren mussten zwei, zu welchen der die Mauern der Stadt umspülende Orontes den Weg versperrte, unbesetzt bleiben.
Anfangs hatte es den Anschein, als habe die Einschließung der Stadt die Belagerten eingeschüchtert. Kein Türke ließ sich auf den Mauern sehen; nur durch die in denselben angebrachten Gitter schauten sie aus nach dem zahlreichen Heer, das die Stadt umlagerte, und staunten die Kleidung, die Waffen und das Lager ihrer Feinde an. Diese Ruhe im Innern der Stadt wiegte die Kreuzfahrer in eine trügerische Sicherheit. Während viele sich in die benachbarten, von ihren Bewohnern verlassenen Burgen zerstreuten und von denselben Besitz nahmen, überließen sich die im Lager Zurückgebliebenen, in der sicheren Erwartung einer baldigen Übergabe der Stadt, einem verschwenderischen Wohlleben.
Hunger und Elend der Kreuzfahrer
Indessen verstrichen zwei Wochen, ohne dass die Eingeschlossenen Miene machten, sich zu ergeben; sie begannen vielmehr, die Belagerer durch häufige Ausfälle zu beunruhigen, durch welche sie denselben große Verluste zufügten. Zu spät erkannten die Kreuzfahrer, dass ihre Hoffnung auf die Übergabe der reichlich mit Vorräten aller Art versehenen Stadt eine trügerische gewesen, und da die leichtsinnig vergeudeten Lebensmittel nicht ersetzt werden konnten, entstand in dem Lager der Christen bald ein solcher Mangel, dass nur die Reicheren noch in der Lage waren, die notwendigsten Lebensmittel zu kaufen, die Ärmeren dagegen sich von Leder, Baumrinde und noch widrigeren Dingen nähren mussten und viele derselben dem Hunger erlagen.
Das Elend der Kreuzfahrer wurde erhöht durch die Ungunst der Jahreszeit. Bei dem anhaltenden Regen verfaulten Zelte und Kleider, und so fehlte den Kreuzfahrern jeder Schutz gegen die wachsende Kälte. Der Tod raffte daher so viele dahin, dass die Lebenden kaum Zeit hatten, ihre Toten zu begraben. Auch von den Pferden erlagen die meisten dem Hunger und der Erstarrung. Vollständig entmutigt, verließen viele Kreuzfahrer das Lager, um sich entweder zu Balduin nach Edessa zu begeben oder in anderen Gegenden günstigere Verhältnisse zu suchen. Auch Peter von Amiens, der alles für verloren hielt, entfloh im Dunkel der Nacht; er wurde jedoch von dem ihm nacheilenden Tankred eingeholt und in das Lager zurückgeführt.
Endlich ging der traurige Winter zu Ende, und mit dem zurückkehrenden Frühling gestalteten sich die Verhältnisse günstiger für die Belagerer von Antiochia. Es langten bedeutende Zufuhren von Lebensmitteln an, und mit der Beseitigung des Mangels und dem Aufhören der winterlichen Kälte ließen auch die Krankheiten nach.
Die Eroberung Antiochias
Kaum hatten jedoch die Kreuzfahrer Zeit gehabt, sich neuen Hoffnungen hinzugeben, als die Schreckenskunde erscholl, Korboga, der Beherrscher von Mossul, ziehe mit vielen anderen seldschukischen Häuptlingen an der Spitze eines Heeres von 20.000 Mann zum Entsatz der Stadt heran. So groß war die Bestürzung, die diese Nachricht unter den Kreuzfahrern verbreitete, dass selbst einer der Fürsten, die bis dahin alle das schönste Beispiel unerschütterlicher Standhaftigkeit gegeben, der Graf Stephan von Blois, mit viertausend der Seinigen das Lager verließ und nicht wiederkehrte.
Inzwischen war es Boemund gelungen, sich mit einem Renegaten, namens Pyrrhus, dem einer der wichtigsten Türme der Stadt vertraut war, in Verbindung zu setzen, und dieser hatte sich bereit erklärt, gegen die Zusage bedeutender Geschenke und Freiheiten die Christen in diesem Turm einzulassen. Boemund erklärte hierauf den übrigen Fürsten: wenn man ihm Antiochia überlassen wolle, so werde er die Kreuzfahrer in den Besitz der Stadt setzen; denn er habe einen türkischen Befehlshaber auf seine Seite gezogen, der zum Verrat bereit sei.
So bedenklich auch dieser Vorschlag den Fürsten erschien, entschlossen sie sich dennoch, im Hinblick auf die Größe der immer näher rückenden Gefahr, gegen welche es für sie keinen anderen Ausweg gab, die Forderung des herrschsüchtigen Boemund zu bewilligen. Nachdem derselbe mit Pyrrhus die nötigen Verabredungen getroffen, erstieg er in einer dunklen Nacht mit einer kleinen Schar Kreuzfahrer den Turm vermittelst einer Strickleiter, worauf unter Pyrrhus` Führung die Besatzungen der übrigen Türme überfallen und niedergehauen wurden.
Unter dem Jubelruf „Gott will es!“ zogen die Kreuzfahrer durch ein rasch geöffnetes Tor in die Stadt ein, unter deren Bewohnern ein schreckliches Blutbad angerichtet wurde.
Die Belagerung der Kreuzfahrer durch Korboga
Aber es war den Kreuzfahrern beschieden, innerhalb der Ringmauern der Stadt die gleichen Drangsale, von denen sie während der Belagerung so schwer heimgesucht worden, zum andern Male und in noch höherem Grade zu erdulden. Noch ehe sie die nötigen Vorkehrungen zur Erstürmung der von einer steilen Bergeshöhe drohend herabblickenden Zitadelle treffen konnten, stand Korboga mit seinen Scharen vor Antiochia, das er von allen Seiten einschloss.
Während die Besatzung der Zitadelle die Kreuzfahrer durch unausgesetzte Ausfälle Tag und Nacht in Atem hielt, brach bald in der mit Lebensmitteln nur spärlich versehenen Stadt eine so grässliche Hungersnot aus, dass im Übermaß des Elends alle Bande der Ordnung sich lösten. Viele aus dem Heer, selbst Ritter und Edle, ließen sich, um ihr Leben zu retten, an Strickleitern von den Mauern herab – weshalb sie den Schimpfnamen „Strickläufer“ erhielten -, und Einzelne verleugneten sogar ihren Glauben, um bei den Türken Schutz und Hilfe zu finden.
Von denen, die in der Stadt zurückgeblieben, saßen viele Tausende in dumpfer Verzweiflung in den Häusern oder versteckten sich in den Kellerräumen, und weder Ermahnungen noch Drohungen vermochten sie zum Kampf zu bewegen, bis endlich Boemund, dem der Oberbefehl mit unumschränkter Gewalt übertragen worden, die Stadt an mehreren Stellen anzünden ließ, um die Verzweifelnden aus den Häusern zu treiben.
Entdeckung der heiligen Lanze
Schon begann indessen selbst den Fürsten der Mut zu entsinken, als ein ungewöhnliches Ereignis die dumpfe Verzagtheit aufs Neue in todesmutige Begeisterung umwandelte. Vor dem Grafen Raimund erschien ein Priester aus der Provence, Petrus Bartholomäus, und teilte ihm mit, der Apostel Andreas sei ihm viermal im Traum erschienen und habe ihm die Stelle gezeigt, an welcher in der Kirche des heiligen Petrus die Lanze verborgen sei, mit welcher bei der Kreuzigung die Seite des Heilandes durchstochen worden; auch habe er ihm befohlen, dies den Fürsten zu verkünden.
Sogleich wurden Nachgrabungen an der bezeichneten Stelle vorgenommen, und in der Tat fand man zwölf Fuß tief unter dem Altar der Kirche eine verrostete Lanze. Mit stürmischem Jubel wurde dieselbe als ein sichtbares Zeichen des göttlichen Beistandes von den Wallbrüdern begrüßt, und einstimmig verlangte das Volk, ohne Verzug hinausgeführt zu werden zum entscheidenden Kampf.
Die entscheidende Schlacht
Drei Tage lang bereiteten sich die Kreuzfahrer durch Gebet, Fasten und feierliche Umzüge zu dem beschlossenen Ausfall vor, der über ihr Schicksal entscheiden sollte. Am frühen Morgen des vierten Tages, dem Fest der Apostelfürsten, hielt der Bischof Ademar ein feierliches Hochamt, bei welchem den Kriegern das heilige Abendmahl gereicht und allen, die tapfer zu des Heilands Ehre kämpfen würden, ein vollkommener Ablass verkündet wurde.
Dann teilte Boemund die von Hunger abgezehrten, aber mit fester Siegeszuversicht erfüllten Scharen zu Ehren der zwölf Apostel in zwölf Schlachtordnungen und führte sie vor die Tore der Stadt. Die mit Purpur umwundene heilige Lanze voran, zogen sie zu Fuß – denn die Zahl der Pferde war auf dreihundert herabgesunken – unter der Führung der Fürsten dem Feind entgegen.
Als Korboga von dem Heranziehen der Christen Kunde erhielt, blieb er ruhig am Schachbrett sitzen; denn er erachtete ihr Beginnen für Wahnsinn. „Lasst sie alle herauskommen“, sprach er zu seinen Emiren, die ihm zu einem raschen Angriff rieten, „damit keiner zurückbleibe und unserem Schwert entrinne.“ Aber seine stolze Siegesgewissheit sollte zu Schanden werden. Mit unwiderstehlicher, alles überwindender Begeisterung stürzten sich die Christen auf seine in zwei Abteilungen getrennten Scharen, und nach einem mehrstündigen heißen Kampf war das türkische Heer teils vernichtet, teils zerstreut. Korboga selbst eilte in unaufhaltsamer Flucht dem Euphrat zu, indem er sein ganzes Lager mit unermesslichen Schätzen den Christen zurückließ.
Korbogas Niederlage raubte der Besatzung der Zitadelle den Mut zu fernerem Widerstand, und sie ergab sich gegen die Bewilligung freien Abzugs mit Hab und Gut. Aber der herrliche Sieg der christlichen Waffen sollte zugleich ein Triumph des christlichen Glaubens werden; denn viele Muslime, unter ihnen selbst der Befehlshaber der Zitadelle, baten um Unterweisung in der Religion des Kreuzes, die ihre Bekenner zu solchem Todesmut begeistere, und empfingen von den hocherfreuten Priestern des Kreuzheeres unter großen Feierlichkeiten die heilige Taufe.
Zwietracht unter den Christen wegen Antiochia
Obgleich das Ansehen, das der glorreiche Sieg bei Antiochia den christlichen Waffen im ganzen Morgenland verschafft hatte, den Kreuzfahrern bei rascher Verfolgung desselben die Eroberung Palästinas sehr erleichtert haben würde, verzögerten die Fürsten den Aufbruch; denn die Frage über den Besitz der eroberten Stadt hatte Zwietracht unter sie gebracht. Graf Raimund, welcher mit Rücksicht auf die gegen den griechischen Kaiser eingegangenen Verpflichtungen der mit Boemund getroffenen Vereinbarung seine Zustimmung versagt hatte, bestand darauf, dass Antiochia dem Kaiser Alexius zurückgegeben werde, und da die Fürsten sich hierüber nicht einigen konnten, verstrichen vier volle Monate, ohne dass an die Fortsetzung des Zuges gedacht wurde.
Erst unter dem Volk, dessen Unmut über den verderblichen Streit der Fürsten durch den Ausbruch einer verheerenden Seuche erhöht worden, die Drohung laut wurde, dass es, wenn die Fürsten noch länger die Sache Gottes ihren eigenen Angelegenheiten nachsetzen wollten, Antiochia, als die Ursache ihres Zwistes, zerstören und sich selbst einen Heerführer für den Zug nach Jerusalem wählen werden, wurde im November der Aufbruch des Heeres angeordnet.
Die Belagerung Jerusalems
Noch sieben volle Monate hatten die Kreuzfahrer auf ihrem Zug durch das südliche Syrien und die öde Hochebene Palästinas Beschwerden aller Art zu erdulden und mannigfache Kämpfe zu bestehen, ehe sie das Ziel ihrer Sehnsucht erreichten. Am 6. Juni 1099 erblickten sie zum ersten Mal, von einer Anhöhe bei Emmaus herab, die Zinnen der heiligen Stadt. Kein Auge blieb tränenleer. Alle stürzten nieder auf die Knie, um den heiligen Boden zu küssen, und ein feierlicher Lobgesang stieg aus den dankerfüllten Herzen zum Throne Gottes empor. Unter lautem Singen und Beten zog das Heer von der Anhöhe herab und lagerte sich vor den Mauern der heiligen Stadt.
In Jerusalem hatte kurz vorher ein Herrscherwechsel stattgefunden. Der fatimidische Kalif von Ägypten hatte die Söhne des seldschukischen Emirs Orthok vertrieben, und sein tapferer Feldherr Istikhar war entschlossen, mit seiner 60.000 Mann starken Besatzung die Stadt auf das Äußerste zu verteidigen. Das Heer der Kreuzfahrer zählte dagegen nur noch 40.000 Mann, von denen überdies kaum die Hälfte noch kampffähig war. Zudem standen bei der eigentümlichen Lage der Stadt der Einnahme derselben die größten Schwierigkeiten entgegen; denn nur von der nördlichen Seite war ein Angriff auf dieselbe möglich, da sie von allen übrigen Seiten durch tiefe Täler vollständig geschützt war.
Trotz aller dieser ungünstigen Verhältnisse machten die Kreuzfahrer am 12. Juni, auf Raimunds Betrieb, einen Sturmversuch, der jedoch von der Besatzung der Stadt siegreich zurückgeschlagen wurde.
Die ungeahnten Schwierigkeiten bei der Belagerung
Ohne durch diesen ersten Misserfolg entmutigt zu sein, beschlossen die Kreuzfahrer, sofort zu einer regelmäßigen Belagerung zu schreiten. Hierbei hatten sie jedoch mit ungeahnten Schwierigkeiten zu kämpfen; denn das Holz zu den Belagerungstürmen, Wurfmaschinen und Sturmleitern musste, da die Umgegend von Jerusalem vollständig baumlos war, aus der Nähe von Bethlehem herbeigeschafft werden.
Dazu kam ein furchtbarer Wassermangel, indem die Ungläubigen auf weite Strecken hin die ohnehin nur in geringer Zahl vorhandenen Zisternen verschüttet und alle Quellen verstopft hatten, und schrecklicher noch als die Qualen des Hungers, die sie zu Antiochia zu erdulden gehabt, erschien den Kreuzfahrern der brennende Durst, der sie in der glühenden Sonnenhitze verzehrte. Scharenweise sanken die Lasttiere, dem Durst erliegend, zu Boden, und ihre verwesenden Körper verpesteten die Luft. Bald waren die Lebensmittel nahezu erschöpft, und noch war keine Aussicht auf die Zufuhr neuer Vorräte vorhanden.
Dieses Übermaß des Elends raubte vielen so vollständig den Mut, dass sie, nachdem sie in den Fluten des Jordans gebadet und Palmzweige geholt, das Lager verließen, um sich in Joppe nach der Heimat einzuschiffen.
Der Sturm auf Jerusalem
Endlich kam Linderung in der schrecklichen Not: genuesische Schiffe, die im Hafen von Joppe gelandet, brachten Lebensmittel und Wein, zugleich auch Zimmerleute und Werkzeuge zum Bau der Belagerungsmaschinen. Mit neuem Mut gingen alle an die Arbeit, bei welcher Fürsten und Knechte, Greise, Weiber und Kinder in den rühmlichsten Anstrengungen wetteiferten. Gottfried von Bouillon und Raimund von Toulouse errichteten zwei große viereckige Belagerungstürme, die an sieben Ellen höher waren, als die Stadtmauer, und aus drei Stockwerken bestanden, welche mit Bewaffneten angefüllt werden sollten.
Nachdem alle Vorkehrungen zu dem allgemeinen Angriff auf die Stadt beendigt waren, hielten die Kreuzfahrer, um den Beistand Gottes für das große Unternehmen zu erflehen, am 8. Juli unter Gebet und Gesang einen feierlichen Umzug um die Stadt, welchem die Ungläubigen von den Mauern herab teils mit Bewunderung, teils unter lautem Spott und Hohn zuschauten. Hierauf wurden unter unsäglichen Schwierigkeiten die Belagerungsmaschinen stückweise bis unter die Mauern der Stadt gebracht und das gesamte Lager nach der Seite verlegt, die den Kreuzfahrern durch Kundschafter als die am schwächsten besetzte bezeichnet worden.
Da die Nachricht eingetroffen, dass ein ägyptisches Heer zum Entsatz der Stadt heranziehe, tat Eile not; es wurde daher der Beschluss gefasst, am 14. Juli einen allgemeinen Sturm zu wagen.
Nachdem die Kreuzfahrer in der frühsten Morgenstunde das heilige Abendmahl empfangen, zogen die einzelnen Fürsten ihre Scharen zusammen und begannen den Angriff; aber die Belagerten fügten den Anstürmenden nicht nur durch die von der Höhe herabgeworfenen Steine schwere Verwundungen zu, sondern schleuderten auch Pfeile, die mit Schwefel, Pech und anderen brennbaren Dingen versehen waren, und brennende Balken, deren Feuer durch Wasser nicht gelöscht werden konnte, auf die Belagerungsmaschinen der Christen herab, so dass dieselben bald in Brand gerieten und die Kreuzfahrer an nichts anderes mehr denken konnten, als an deren Rettung.
Rettung durch den heiligen Georg
Am folgenden Morgen wurde der Sturm erneuert; aber auch an diesem Tag schien den Kreuzfahrern kein Sieg beschieden; denn nach einem siebenstündigen heißen Kampf hatte man noch keinen nennenswerten Erfolg errungen. Schon dachten die Fürsten daran, die Fortsetzung des Sturmes auf den folgenden Tag zu verschieben und vorher die stark beschädigten Maschinen auszubessern, als plötzlich, um die Stunde, in welcher der Heiland ans Kreuz geschlagen worden, Herzog Gottfried auf dem Ölberg einen Ritter erblickte, der, seinen strahlenden Schild schwenkend, dem Volk Gottes das Zeichen zur Fortsetzung des Kampfes gab.
Der Gedanke, dass der heilige Georg den Streitern Christi zu Hilfe komme, erfüllte alle mit neuer Zuversicht. Der Kampf wurde sogleich wieder aufgenommen, und binnen einer Stunde war die vordere Mauer niedergeworfen und des Herzogs Turm an die innere Mauer gerückt. Das auf der Spitze desselben blitzende goldene Kreuz mit des Herrn Jesu Bild, nach welchem die Ungläubigen stets vergeblich gezielt, verkündete dem Volk Gottes den Sieg Christi über Mohammed. Bald darauf wurde auch der Turm des Grafen Raimund so nahe an die Mauer gebracht, dass die in demselben befindlichen Kreuzfahrer mit ihren Lanzen die Ungläubigen auf der Mauer erreichen konnten.
Die Einnahme der Stadt Jerusalem durch die Kreuzfahrer
Noch immer setzten die Muselmänner den Anstrengungen der Christen den verzweifelten Widerstand entgegen, bis es endlich einigen Kreuzfahrern gelang, die mit Stroh und Baumwolle gefüllten Säcke, womit die Ungläubigen die Mauer zu schützen gesucht, durch brennende Pfeile in Brand zu stecken. Da der Winde den Rauch den Verteidigern der Mauern ins Gesicht trieb und sie dadurch kampfunfähig wurden, verließen sie verzweiflungsvoll ihren Posten. Sogleich wurde aus dem Turm Gottfrieds die im zweiten Stockwerk angebrachte Fallbrücke niedergelassen und über dieselbe die Mauer erstiegen.
Herzog Gottfried war einer der ersten, die über die erstürmte Mauer in die Stadt drangen. Ihm folgten sein Bruder Eustach, der Herzog Robert von der Normandie und der Graf von Flandern. Diejenigen Kreuzfahrer, welche nicht durch den Turm auf die Mauer gelangen konnten, erstiegen dieselbe mit Leitern. Während Herzog Gottfried durch mehrere Ritter das nächste Tor öffnen ließ, um den Seinigen ein rascheres Eindringen in die Stadt zu ermöglichen, drängte auch der Graf Raimund, dessen Turm in der Nähe der Burg Zion stand, die dort noch immer mit dem Mut der Verzweiflung kämpfenden Muslime von der Mauer zurück, worauf auch das südliche Tor geöffnet wurde.
Unter dem jubelnden Siegesgeschrei: „Gott hilft! Gott will es!“ strömten die freudetrunkenen Kreuzfahrer von zwei Seiten in die eroberte Stadt. So heftig war ihr Drängen, dass sechzehn Wallbrüder im Gewühl erstickten.
Blutiges Gemetzel der Kreuzfahrer
In den Straßen und Häusern der Stadt folgte jetzt ein blutiges Gemetzel; denn in ihrem Siegesrausch vergaßen die Kreuzfahrer, dass sie im Dienst des Gottes der Liebe stritten. Alles Erbarmen war untergegangen in dem einen Gefühl, Rache zu nehmen für alle Unbill, die sie selbst während der Belagerung und der christliche Name seit so vielen Jahren von den Ungläubigen zu erleiden gehabt. Herzog Gottfried, der dem Wüten keinen Einhalt zu tun vermochte, verließ während des Mordgetümmels, von drei Rittern begleitet, im wollenen Pilgerhemd und barfuß die Stadt, wallte um deren Mauern und begab sich dann nach der Kirche des heiligen Grabes, wo er sich der Andacht überließ.
Endlich erwachten auch in den siegestrunkenen Kreuzfahrern bessere Gefühle, und von der wildesten Mordlust gingen sie plötzlich zu tiefer Zerknirschung über. „Sie legten die Waffen nieder“, sagt Wilhelm von Tyrus, „wuschen sich die Hände, zogen reine Kleider an und gingen dann demütig und zerknirschten Herzens, unter Seufzen und Weinen, mit bloßen Füßen an den heiligen Orten umher und küssten dieselben mit großer Andacht. Bei der Auferstehungskirche kam ihnen der Klerus der Stadt mit Lobliedern entgegen. Mit welchem Jubel küssten sie die Stätte, wo der Herr gelitten!
Es war ein gar rührender Anblick, das Volk in so brünstiger Andacht zu sehen. Überall Tränen, überall Seufzer, aber nicht der Angst und Betrübnis, sondern aus glühender Andacht, aus der höchsten Freudigkeit des inneren Menschen Gott dargebracht. In der ganzen Stadt wurden in frommem Eifer Gott wohlgefällige Werke dargebracht. Die einen bekannten dem Herrn ihre Sünden und gelobten, sie hinfort nicht mehr zu begehen; andere schenkten alles, was sie hatten, mit verschwenderischer Großmut den Armen und Gebrechlichen; denn dass ihnen der Herr vergönnt hatte, diesen Tag zu sehen, galt ihnen für den höchsten Reichtum.“ –
Dank der in Jerusalem ansässigen Christen
Die in Jerusalem ansässigen Christen konnten des Dankes gegen die Kreuzfahrer für ihre Befreiung kein Ende finden. Die größte Ehre wurde Peter von Amiens zu Teil, welchem die Priester von Jerusalem kniend ihre Danksagung darbrachten, indem sie, nächst Gott hauptsächlich seiner Beredsamkeit ihre Rettung aus der bisherigen Trübsal zuschrieben. Bald darauf kehrte der fromme Einsiedler in seine Heimat zurück, wo er fünfzehn Jahre später in dem von ihm gegründeten Kloster Huy seine Tage beschloss.
Nachdem die Kreuzfahrer die Leichen der erschlagenen Muslime aus der Stadt gebracht und die blutigen Spuren des gräuelvollen Gemetzels getilgt, richteten sie sich in Jerusalem ein; denn wer nach der Erstürmung der Stadt zuerst ein Haus betreten und zum Zeichen der Besitznahme desselben seinen Schild an die Türe befestigt hatte, durfte es als sein Eigentum betrachten. Dann traten die Fürsten zur Entscheidung der wichtigen Frage zusammen, wem unter ihnen der Schutz und die Hut des von der schmachvollen Herrschaft der Ungläubigen befreiten Heiligtums übertragen werden solle.
Nach längeren Beratungen einigten sie sich in dem Beschluss, dass einer von ihnen zum König von Jerusalem erhoben, bei der Wahl aber nur Verdienst und Frömmigkeit, und zwar nicht nur das Verdienst glänzender Waffentaten, sondern auch das des unbescholtenen Wandels, berücksichtigt werden solle. Nachdem Raimund von Toulouse die Wahl abgelehnt, gaben die Fürsten einmütig ihre Stimmen dem Herzog Gottfried von Bouillon. Dieser nahm die Wahl an; sein bescheidener Sinn gestattete ihm jedoch nicht, eine Königskrone an dem Ort zu tragen, wo der Sohn Gottes unter einer Dornenkrone geblutet; er lehnte daher den königlichen Titel ab und nannte sich nur Beschützer des heiligen Grabes. –
aus: F. J. Holzwarth, Weltgeschichte, 3. Bd., 1885, S. 538 – S. 551
siehe den Beitrag: Die Veranlassung der Kreuzzüge
Bildquellen
- gottfried-von-bouillon: wikimedia
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