Staatsrechtliche Ordnung des Reiches

Karl der Große wird Papst Leo III. zum Kaiser gekrönt: der Papst setzt Karl, der vor dem Papst kniet, die Reichskrone aufs Haupt; Geistliche und auch Leute aus dem Volk sind bei der Krönung anwesend

Das römisch-deutsche Reich und dessen Stellung nach außen

Teil 1: Die staatsrechtliche Ordnung des Reiches

Die Verfassung des Reiches beruhte auf dessen Entstehung.

Die Deutschen

Die Deutschen traten in der Geschichte von Anfang an wohl als eine Rasse von eigentümlichem Körperbau, eigentümlicher Sprache und eigentümlichen Sitten auf, nicht aber als ein in sich zusammenhängendes Volk. Es gab nur einzelne Volksstämme, welche durch kein staatliches Band vereinigt waren, sondern vielmehr in den verschiedensten Verhältnissen zueinander standen: bald als Verbündete, bald miteinander in Krieg und Fehde, bald gar nicht umeinander bekümmert.

Manche dieser Volksstämme vermischten sich im Laufe der Jahrhunderte mit andern, meist romanischen Völkern und gingen dadurch in ihrer deutschen Eigentümlichkeit unter, wie die Vandalen in Afrika, die Westgoten in Spanien, die Ostgoten in Italien.

Andere blieben zwar unvermischt, aber für sich einzeln selbständig, wie die Dänen und die Schweden noch heute, wie die Angelsachsen bis zu der Zeit, in welcher sie sich mit den romanisierten Normannen zu den jetzigen Engländern verschmolzen.

Das Frankenreich

In der Mitte bildeten die alten Franken am Niederrhein einen Kern, der allmählich sehr verschiedene Völkerschaft, nämlich deutsche, romanische und slawische, seiner Herrschaft unterwarf und zu einem Ganzen verband. Längeren Widerstand als Schwaben und Bayern setzten den Franken die zwischen Rhein und Weser wohnenden Sachsen entgegen: sie konnten erst nach vieljährigen Kämpfen unterworfen werden. Unter Karl dem Großen wurde das Frankenreich der politische und geistige Mittelpunkt des Abendlandes. In berechtigtem Selbstgefühl begannen die Franken ihr Gesetzbuch mit jenen berühmten Versen, welche in der Übersetzung etwa lauten:

Der hehre Stamm der Franken, gepflanzt von Gottes Hand,
In Waffen ohne Wanken und stark durch Friedensband,
An Rate nie versagend durch edles reines Blut,
Durch Bau und Blüte ragend, durch frischen festen Mut.

Nach dem Zerfall der großen fränkischen Monarchie errichteten die rein deutschen Bestandteile derselben durch die Einführung eines neuen Königshauses mit Heinrich I. ein in sich geeinigtes und unteilbares Reich, dessen Grundlage die freie Vereinigung der gleichberechtigten Stämme der Franken, Sachsen, Schwaben, Bayern und Lothringer, dessen festester Kitt die Einheit der deutschen Kirchenverfassung war. Die Verfassung blieb fränkisch. Alles, was sich auf die Einheit des Reiches bezog, knüpfte sich an Franken an. Auf fränkischer Erde wurde der König gewählt und gekrönt, und war er auch selbst kein Franke, so musste er doch nach seiner Wahl fränkisches Recht annehmen und dadurch zum Franken werden. Der erste geistliche und der erste weltliche Fürst Frankens, der Erzbischof von Mainz und der Pfalzgraf vom Rhein, standen an der Spitze des ganzen deutschen Fürstentums; sie beriefen zur Königswahl.

Das Recht der Königswahl

Das Recht der Königswahl war ein nationales Recht der einzelnen Stämme. An großen Entscheidungstagen, im Jahr 1024 bei der Wahl Konrads II., im Jahr 1125 bie der Lothars III., erschienen dieselben, jeder bewaffnet in der Gesamtheit der Freien, im Herzen des Landes, am Mittelrhein zwischen Oppenheim und Mainz, und gaben durch ihre Bischöfe, Herzöge und Grafen ihre Stimme ab für die Vorwahl, die dann der Gesamtheit eröffnet und von dieser durch Zuruf, Waffengeklirr und erhobene Rechte bestätigt wurde. Solange eines der Königshäuser nicht ausgestorben, wählten die Stämme in der regierenden Familie und berücksichtigten, wo möglich, das Nachfolgerecht vom Vater auf den Sohn. Deutschland war ein erbliches Wahlreich und erlebte, während es als ein solches bestand, seine glorreichsten Zeiten.

Krönungseid und sechs Fragen

Der beredteste Ausdruck der durch die Reichsverfassung geschaffenen staatsrechtlichen Ordnung war der Krönungseid, welchen jeder König bis auf Franz II. schwur. In diesem Eid legte der Erzbischof von Mainz dem König vor der Krönung folgende sechs Fragen vor:

Erstens, ‚will Ew. Majestät den heiligen katholischen und apostolischen Glauben halten und durch gerechte Werke bekräftigen?‘

Zweitens, ‚will Ew. Majestät die Kirche und ihre Diener schützen?‘

Drittens, ‚will Ew. Majestät das von Gott verliehene Reich nach der Gerechtigkeit der Vorfahren regieren und mit Nachdruck verteidigen?‘

Viertens, ‚will Ew. Majestät des Reiches Rechte erhalten, die auf ungerechte Weise zerstreuten Güter desselben wieder erwerben und solche dem Reich zum Besten handhaben?‘

Fünftens, ‚will Ew. Majestät den Armen und Reichen, den Witwen und Waisen ein gerechter Richter und frommer Verteidiger sein?‘

Sechstens, ‚will Ew. Majestät dem Papst und der heiligen römischen Kirche die schuldige Unterwürfigkeit und ehrerbietige Treue leisten?‘

Hatte der König eine jede dieser sechs Fragen mit einem vernehmlichen ‚Ich will‘ beantwortet, so trat er bis auf die vorletzte Stufe des Altars hinauf, legte die ersten beiden Finger der rechten Hand auf das Evangelienbuch und schwur den Eid: ‚Mit Gottes Hilfe will ich allen diesen versprochenen Punkten getreulich nachleben, so wahr mir Gott helfe und sein heiliges Evangelium.‘

Nach dieser Eidesleistung wandte sich der krönende Erzbischof zu dem ‚Umstand‘, d. h. zu den versammelten Reichsständen und allen Anwesenden überhaupt, also dem Sinn nach zum ganzen Volk, und fragte mit lauter Stimme: ‚Wollet ihr euch einem solchen Fürsten und Herrn unterwerfen, sein Reich befestigen, Treue und Glauben halten und seinen Befehlen gehorchen nach dem Ausspruch des Apostels: Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat, und dem König als dem Obersten?‘ Der ganze ‚Umstand‘ erwiderte darauf: ‚Es geschehe! Es geschehe!‘

Durch die Vermittlung des Vertreters der Kirche wurden hiermit die beiderseitigen Pflichten, die des Königs und die des Volkes, festgestellt; es wurde gleichsam ein Vertrag zwischen König und Volk abgeschlossen, und dann erst die Krönung und Salbung vollzogen.

Die Kirche heiligte die weltliche Ordnung

In der Person des Königs heiligte die Kirche die ganze weltliche Ordnung und durchdrang sie mit dem Geist des Christentums. ‚Herr, der du über alle Königreiche von Anbeginn an regierst‘, so betete während der feierlichen Handlung der Erzbischof, ’segne diesen unsern König und verleihe ihm die Weisheit, sein Volk mit Sanftmut und im Frieden zu regieren. Laß ihn jetzt und immer dir untertänig sein, und gewähre ihm bei unvermeidlichen Kriegen Sieg und Ehre. Billigkeit beim Rechtsprechen zeichne ihn aus. Verleihe, daß das Volk ihm getreu bleibe. Laß ihn liebreich sein, entferne von ihm böse Begierden, laß ihn gerecht sein und der Wahrheit dienen, damit während seiner Regierung das Volk an Kräften zunehme und im Frieden sein Glück finden möge!‘

Alle öffentliche Gewalt erschien als eine in den Formen des Dienstamtes von einem oberen Herrn verliehene Herrschaft. Wie der König diese von Gott empfing, so kam sie von ihm an die Reichsvasallen, von diesen an ihre Mannen und Leute und so herab bis zu jedem einzelnen Träger auch der unbedeutendsten Gewaltrechte. Jeder Herr war zugleich Dienender eines höheren Herrn, und jeder Diener konnte umgekehrt Herr eines niederen Dienenden sein. Herrschaft und Dienst wurden für das gesamte Leben des Volkes die treibenden und formenden Gedanken. Alle Gliederung innerhalb des Gemeinwesens, alle Über- und Unterordnung hatten ihren Grund in einer besonderen Berechtigung und einer ihr gegenüber stehenden Verpflichtung: der Treudienst war das Band, welches die Gesamtheit zusammen hielt.

Die germanische Rechtsbildung im Reich

Die germanische Rechtsbildung erstrebte die ausgedehnteste Selbständigkeit der einzelnen Stände; diese ordneten und besorgten ihre Angelegenheiten aus sich selber. Alles wuchs fest ineinander greifend von unten auf. Der Hausherr schaltete frei auf seinem Eigen, die Familien einigten sich zu Gemeinden, die Gemeinden sich zu Marken, zu Gauen, zu Ländern, und in dieser Stufenfolge der Genossenschaften gab jede an die folgende, zuletzt an das Königtum, nur so viel ab, als es das allgemeine Wohl verlangte. (1) Das Königtum war der Schlussstein des germanischen Rechtsgebäudes.

Der König war nicht so fast der Herr als vielmehr der oberste Vormund des Reiches; nicht der Eigentümer, sondern der oberste Verwalter seiner Güter und seiner Machtvollkommenheit. Er war der Oberkriegsherr; der höchste Wächter und Pfleger von frieden und Gerechtigkeit; von ihm ging alle Gerichtsbarkeit im Reich aus. In Verbindung mit den geistlichen und den weltlichen Ständen sorgte er auf reichs- und Hoftagen für die nötigen Gesetze und Einrichtungen. Ihm gegenüber waren die Stände die natürlichen Träger der Landesgewohnheiten und Landesrechte, und er hatte jeden Stamm und Stand bei allen herkömmlichen Rechten und Freiheiten zu schützen. Alle Satzungen erhielten durchs eine Bestätigung eine höhere Kraft; alle Hoheitsrechte, zoll-, Münz- und Marktrechte, standen zu seiner Verfügung. Aber er war nicht schlechthin erhaben über das recht, sondern er konnte wegen Verletzung seines Krönungseides vor ein Fürstengericht gestellt und, wenn überwiesen, verurteilt, sogar abgesetzt werden.

Das alte deutsche Königtum war aufs innerste verwachsen mit dem Volkstum. Jahrhunderte hindurch faßte das Volk den König so auf, wie er in dem ältesten christlich-germanischen Heldengedicht, dem Heiland, dargestellt wird: als den Inbegriff aller Größe und Herrlichkeit des Volkes, als kühn und kräftig, reich, mächtig und milde. Im König vereinigt sich gleichsam alle Treue des einzelnen gegen die Stammesgenossen, und alle Freuden und Leiden, Kämpfe und Siege des Volkes spiegeln sich wider in ihm, der als ein herrliches Vorbild der gesamten Volkskraft glänzt.

(1) Treffend sagt Ficker, Das deutsche Kaiserreich in seinen universalen und nationalen Beziehungen 54: ‚Der germanische Staatsgedanke erstrebt (im Gegensatz zum romanischen) vor Allem möglichste Selbständigkeit in engen fest geschlossenen Kreisen; von diesen aufsteigend, soll sich das Staatsganze gestalten. Freie Bewegung des Einzelnen ist die Regel, ist der Ausgangspunkt; nur so weit darf sie beschränkt werden, als umfassendere Aufgaben, welchen der Einzelne nicht mehr gewachsen ist, es unumgänglich erfordern. Es ist nicht der Staat, welcher sich zu Gunsten des Einzelnen eines Teiles seines unbeschränkten Verfügungsrechtes entäußert, sondern dem Staat steht nur das Recht zu, auf welches die Einzelkreise zu seinen Gunsten verzichtet haben.‘ –
aus: Johannes Janssen, Zustände des deutschen Volkes, Bd. 1, Die Revolutionspartei und ihre Erfolge bis zum Wormser Reichstage von 1521, besorgt von Ludwig von Pastor 1915, S. 517 – S. 521

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