Die Messiasfrage der Juden im Mittelalter

Die Skulptur des jüdischen Gelehrten Maimonides in Cordoba

Verschiedene Phasen der messianischen Frage im Schoße des jüdischen Volkes seit der Zerstörung Jerusalems

Drittes Kapitel.

Periode der Verzweiflung und des Schweigens

Die messianische Frage der Juden im Mittelalter

II.

Nachdem wir einmal diese Macht des Rabbinismus erkannt, ist es uns leicht geworden, zu entdecken, daß unter seinem Einfluss die messianische Frage im Mittelalter in eine neue Phase getreten war, welche wir die Phase der Verzweiflung und des Schweigens genannt haben.

Einerseits war man innerhalb der Synagoge mit den Berechnungen und Kombinationen zu Ende. Andererseits begann außerhalb der Synagoge die christliche Religion nach ihren blutigen Kämpfen ihren apologetischen Kampf und ließ auf die Siege ihrer Märtyrer die Siege ihrer Lehrer folgen. Der Zustand der Doktrin in der Synagoge bezüglich des Messias war also äußerst kritisch. Es war damals, daß der Rabbinismus, um einem größeren Verfall im Innern vorzubeugen und um sich gegen die von Außen kommenden Argumente und Erleuchtungen zu schützen, den verzweifelten, aber geschickten Entschluss fasste, die messianische Frage zu verbieten, zu ersticken und gänzlich in Vergessenheit zu begraben.

Zu diesem Ende ergriff er zwei Arten von Maßregeln:

Öffentliche Maßregeln und versteckte Maßregeln.

Die öffentlichen Maßregeln waren die Bannflüche und die Verwünschungen. Alle Rabbiner verlegten sich darauf, diejenigen, welche nach dem Messias forschen würden, zu verfluchen. Man höre ihre entsetzlichen Verwünschungen, von denen wir eine Reihe zusammengestellt haben:

„Alle Zeitpunkte, welche für die Ankunft des Messias ausgegeben waren, sind vorüber“, sagt Rabbi Rava. (R. Rava, Sanhedrin, f. 97.2.)

„Verflucht seien diejenigen, welche die Zeiten des Messias berechnen“, sagt der Talmud von Babylon. (Gemar, Tract. Sanh. c. XI.)

„Möchten ihre Knochen zerbrechen“, sagt Rabbi Jochanan. (Roschamaa. c. I. f. 5, 2.)

„Ihre Seele gehe zu Grunde“, sagt Rabbi Ephraim. (R. Ephraim, Ir. Gibborim. f. 28. c. I. Nr. 54.)

„Möge die Hölle sie verschlingen“, sagt Rabbi Abarbanel. (Roschamaa, c. I. f. 5, 2.)

„Möge Gehenna sie verzehren“, sagt Rabbi Matthatia. (Rabbi Matthatia, Nozzachon. Num. 334.)

„Möge ihr Herz zerspringen und ihre Berechnungen vergehen“, sagt Rabbi Maimonides. (Iggereth Hatteman. f. 125, 4.)

„Möge ihr Geist bersten, wie ein Geschwür“, wiederholen die andern Rabbiner um die Wette. (Hal. Melach. c. 12. § 5.)

Welche Sprache! Welche Lösung! Wäre die Wahrheit da gewesen, hätte sie in solchen Lauten gesprochen? O gewiss, wenn die dunklen Geister im Schoß des Erbteils des Lichtes Finsternisse anhäufen, muss man Anathema rufen, und wie später die Kirche auf den Gipfeln des Vatikans, so hat die Synagoge auf den Gipfeln des Hebal recht gehabt gegen solche, welche den Samen der Finsternis ausstreuten, den Bannstrahl zu schleudern. Unerhört aber und Gedanken verwirrend ist es, daß man diejenigen mit dem Fluch belegt hat, welche sich abmühten, ihre Finsternisse durch ein berechtigtes Licht zu besiegen, daß man Verdammnis und Hölle auf diejenigen herab gerufen hat, welche den verheißenen und erwarteten Messias suchten. Unerhört ist es, daß man gesagt hat: Fluch über diejenigen, welche den Urheber der Segnungen suchen werden. „In Ihm werden gesegnet sein alle Nationen der Erde.“ (Gen.) – und hier ereilt diejenigen, welche ausschauen, ob Er kommt, der Fluch!

Auch fühlte man wohl, da diese Maßregeln selbst den gelehrigen Geistern des Ghettos gegenüber zu auffallend waren, das Bedürfnis, sie zu rechtfertigen. Der Rabbinismus rechtfertigte sie also, indem er sich als Grund dafür auf die allgemeine Sicherheit berief. Das Volk war beunruhigt bis zum Sterben; musste man nicht ich um jeden Preis diese tödliche Unruhe unterdrücken? „Man hat“, sagt ein jüdischer Geschichtsschreiber, „jedweden verflucht, der trachten würde, mit Hilfe von Berechnungen die Ankunft des Messias zu erfahren, weil die Geister, wenn der Messias zur bestimmten Zeit nicht kommt, alle Energie verlieren und sich wie durch Ketten in diesem Kerker einer ewigen Hoffnung festgehalten glauben.“ (Salomon-Ben-Virgä, Scheveth Jehuda. 245)

Und Maimonides, einer von denen, welche den Fluch ausgesprochen haben, schreibt in allen Briefen: „Die Weisen – gesegnet sei ihr Andenken! – haben verboten, die Zeit seiner Ankunft auszurechnen, weil das Volk ein Ärgernis daran nimmt, zu sehen, daß er nicht kommt, obgleich die Zeiten vorüber sind.“ (Maimonides, Iggereth Hatteman. f. 125, 4.)

Wirklich, man gerät von Bestürzung in Bestürzung in diesem Labyrinth, wohin wir dem Rabbinismus folgen. Wie, der Messias zögert, zu erscheinen, Ihr gesteht es selbst: „alle Zeiten sind vorüber“ – und Ihr findet es schlimm, daß das Volk aufgeregt wird und ein Ärgernis nimmt! Und diese berechtigte, diese heilsame Unruhe, wie es die Unruhe immer ist beim Herannahen der Wahrheit, Ihr nennt sie ein Ärgernis? Das Ärgernis, es liegt nicht in jener lauten Stimme des Volkes, das, gleich einer herum irrenden Hilfesuchenden murrt und von Euch seinen Gesalbten fordert, da „die Zeiten vorüber sind“ – das Ärgernis, es liegt in Euren Anathemas, es liegt in Euren Verwünschungen, welche dieser lauten Stimme des Volkes entgegengetreten sind und sie zu ersticken suchten und zwar gerade da, als Ihr sie hören solltet, als Ihr ihre Unruhe teilen und mit ihr suchen solltet.

Das Ärgernis, es liegt in jener Art von unsichtbarem Ghetto, den das Netz Eurer Verwünschungen hervorgerufen hat; die Gesellschaft hat unseren Brüdern,, indem sie sie in steinerne Ghettos absperrte, nur die reine Luft und das helle Licht des Tages entzogen; Ihr aber entzieht ihnen durch Eure Verbote und durch Eure Anathemas die Wahrheit! –
aus: Gebr. Lémann, Die Messiasfrage und das vatikanische Konzil, 1870, S. 28 – S. 30

Fortsetzung Kapitel 3 Teil 3: Zerstörung der messianischen Prophezeiungen

Bildquellen

  • sculpture-maimonides-3092121_640: pixabay
Tags: Judentum

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