Nationalismus nach dem Ersten Weltkrieg
von P. Aloys Mager O.S.B.
Es scheint mir fast Vermessenheit, an das Geheimnis rühren zu wollen, von dem Paulus oben spricht. Alle Gnadengeheimnisse Gottes aber schließen die Ordnung natürlicher Gesetze nicht aus, sondern gehen nur darüber hinaus. Wir dürfen deshalb mit heiliger Ehrfurcht den natürlichen Anteil an den Gnadenwundern Gottes zu begreifen suchen.
Wäre das Christentum – secundum hominem dico, um einen paulinischen Ausdruck zu gebrauchen – im jüdischen Sinn und Geist in das Leben der Menschheit eingeführt worden, so hätten die Heidenvölker den Zugang zu ihm kaum gefunden. Es wäre keine Welt umwandelnde Lebensmacht geworden. Ein an die heidnische Psyche angepasstes Christentum aber musste Gegenstand unversöhnlichen Hasses für die Juden werden. Für sie waren nämlich Offenbarung Gottes und äußere Formen und Gebräuche in eine unauflösliche Einheit verbunden. Wer die Form zerstörte, hob auch den Inhalt auf. In diesem Punkt waren sie mit fanatischer Blindheit geschlagen.
Christus rüttelte an dem äußeren Formengebäude, darum verfiel er tödlichem Hass. Paulus vollzog den Schnitt zwischen Judenchristentum und Heidenchristentum. Er wurde buchstäblich zu Tode gehasst. Das Christentum muss die Heidenwelt als solche durchdringen und umwandeln. So lange werden nach Paulus die Juden in blindem Hass abseits stehen. Wenn die Fülle der Heiden – das Pleroma, wie Paulus sagt, d. h. das Wesentliche – eingetreten sein wird, dann fällt die Binde von den Augen der Juden. Sie werden Christus als Messias anerkennen. Wann dieser Zeitpunkt eintrifft, ist für uns ebenso ein Geheimnis wie das Ende der Welt. Wie ein Kreis in sich selber zurückkehrt, so schließt die Heilsgeschichte dort ab, wo sie begann: bei den Juden.
Bekehrungen einzelner Persönlichkeiten aus dem jüdischen Volk
Es ist wie eine Bekräftigung des Heilswillens Gottes und seiner Vorsehung an dem auserwählten Volk, dass vereinzelt immer wieder Angehörige aus ihm den Weg zu Christus jetzt schon finden. Immer wieder stehen auf dem Weg der Kirche durch die Jahrhunderte wie Marksteine die Bekehrungen einzelner Persönlichkeiten aus dem jüdischen Volk.
Die erste typische Bekehrung war die des Saulus, die aus ihm den Völkerapostel Paulus machte. Zu den Bekehrungen, die durch das Auffallende und Wunderbare ihrer Umstände in weitesten Kreisen Aufsehen machten, gehört ohne Zweifel die Bekehrung, die in der vorliegenden Schrift von einem Zeitgenossen und Augenzeugen so unmittelbar und lebendig geschildert wird, nämlich die Bekehrung des Alphons Ratisbonne. Es ist in mehr als einer Beziehung zeitgemäß, die Erinnerung daran gerade in unseren Tagen wieder aufzufrischen.
Wir begrüßen es vor allem deshalb, weil in der Nachkriegszeit ein Antisemitismus (Anm.: nach dem 1. Weltkrieg) einsetzte, den man vom katholischen, überhaupt vom christlichen Standpunkt aus verwerfen muss. Es ist eine der betrüblichsten und zugleich unverständlichsten Erscheinungen, da selbst katholische Geistliche sich rednerisch und schriftstellerisch in den Dienst dieses Antisemitismus stellten. Der Antisemitismus ist nur der Gegenpol einer anderen Bewegung, die eine katholische Überzeugung ebenfalls auf das entschiedenste ablehnen muss: des Nationalismus.
Nationalismus und Vaterlandsliebe
Wir können nicht länger die grundsätzliche Frage zurückstellen: Was ist im Sinne des Christentums vom Nationalismus zu halten? Haben wir diese Frage beantwortet, dann ist die Grundlage für die Beantwortung der anderen Frage geschaffen: Wie muss im Sinne des Christentums der Antisemitismus beurteilt werden?
Wenn wir von Nationalismus reden, so legen wir zunächst Verwahrung dagegen ein, dass er mit Vaterlandsliebe verwechselt werde. Vaterlandsliebe ist ein Tugend, die jeder Volksgenosse zu seinem Volk und zu seinem Land haben soll. In medi virtus sagen die Alten, in der Mitte liegt die Tugend. Nach den beiden äußersten Grenzen des Zuviel und des Zuwenig hört sie auf, Tugend zu sein. Sie wird zur Sünde und kann selbst in Verbrechen ausarten. Über-vaterländische Gesinnung ist ebenso verwerflich wie un-vaterländische Gesinnung.
Über-vaterländische Gesinnung in dieser Bedeutung bezeichnen wir als Nationalismus. In der natürlichen Ordnung ist es so, dass alle Einzelwesen und alle Gemeinschaften vom Gesetz der Selbsterhaltung, vom sacro Egoismo geleitet werden. Das Recht der Selbsterhaltung des einen aber findet seine Schranken am Recht der Selbsterhaltung des anderen. Wird von dem einen Selbsterhaltung angestrebt unter Missachtung des Rechtes des anderen, anerkennt der eine als Recht und Gesetz nur sein Dasein und seine Entwicklung mit Ausschluss der Rechte der anderen, dann haben wir den Nationalismus in seiner reinsten Prägung.
Selbsterhaltungsdrang und Selbstbehauptung
Der verlorene Krieg hat unser Volk von der Höhe herabgestürzt. Es musste sich verdemütigenden Bedingungen der Sieger unterwerfen. Es war, wenn nicht auf unsere Vernichtung, so doch auf unsere bleibende Schwächung abgesehen. Das kam einer Bedrohung unseres Fortbestehens als Volk gleich. Dagegen bäumte sich von selbst ein berechtigter Selbsterhaltungsdrang auf. Indem aber dieses Aufbäumen zum ausschließlichen Recht erhoben wurde, verfiel man in einen Nationalismus, der auch in der bloß natürlichen Ordnung ein Verhängnis ist. Dadurch, daß andere Völker so handeln, wird diese Gesinnungs- und Handlungsweise in keinem Fall gerechtfertigt.
Nationalismus in seiner äußersten Form bedeutete Verewigung des Krieges und systematische Vernichtung aller Kulturwerte und allen selbständigen Volkstums. Alle Rechtsordnung sänke schließlich auf das Niveau eines Raubtier-Staates herab. Gerade aus dem Grundsatz der Selbsterhaltung heraus müsste der Nationalismus über sich selber das Todesurteil sprechen.
In der reinen Naturordnung wäre vollendete Gerechtigkeit das Ideal, an dem Selbsterhaltung und Selbstbehauptung ihre Maße holen müssten. Die reine Naturordnung aber hat in Wirklichkeit nie bestanden. Die Offenbarung lehrt uns, dass die Sünde unserer Stammeltern die Harmonie der natürlichen Schöpfung störte. Es geht wie ein klaffender Riss durch die Natur des Menschen und die Menschheit. Selbsterhaltung und Selbstbehauptung arteten in jene krankhafte Selbstsucht aus, die nur sich und ihren eigenen Vorteil kennt, ohne Rücksicht auf Dasein und Wohl der anderen. Sie scheut selbst nicht davor zurück, das größte Unrecht zum höchsten Recht zu erheben: Summa injuria summum jus.
Selbst ein Staatswesen wie das Imperium Romanum, das wie kein anderes vorchristliches das „justitia fundamentum regnorum“ zu verwirklichen schien, es kannte Gerechtigkeit nur gegenüber den eigenen Staatsbürgern, gegenüber fremden Völkern trat es das Recht mit Füßen. Es kannte nur brutale Selbstbehauptung, die keine Schranken duldet außer denen, die sie sich selber setzt.
Selbstsucht führt zur Selbstauflösung
Es liegt aber wie ein tragisches Verhängnis über der erbsündigen Selbstsucht. Sie glaubt, Selbsterhaltung zu sein. Tatsächlich aber ist sie Selbstauflösung. Die Reiche der alten Welt und die Staaten der christlichen Zeit, soweit sie in den Grundsätzen heidnischer Politik stecken blieben, verfielen in sich selber. Darum trägt jeder Nationalismus in sich selber den Todeskeim. Er zerstört, was er erhalten will. Darum kann Nationalismus niemals Vaterlandsliebe sein. Wer sein Vaterland wahrhaft liebt, muss den Nationalismus bis zum äußersten bekämpfen. Die Nationalisten sind die Totengräber von Staat und Volkstum. Überlassen wir nationalistische Völker ihrem Nationalismus. Sie lösen sich von selber auf. Es wäre die denkbar größte Unlogik, Nationalismus mit Nationalismus zu beantworten.
Es gibt nur einen Weg zur Rettung. Nur auf ihm kann jedes einzelne Volk den Platz in der Gesamtheit der Völker einnehmen, der ihm nach seiner Eigenart, seinen Anlagen und Fähigkeiten zukommt. Es ist der Weg, den die göttliche Offenbarung, das Christentum weist: die Liebe. Die Liebe ist eine seelische Einstellung, die der rein natürlichen, der Selbsterhaltung, erst recht der Selbstsucht entgegengesetzt ist. Liebe vergisst sich und gibt sich selber auf, um nur auf die Erhaltung und das Wohl der anderen bedacht zu sein.
Dieses grundsätzliche Sichselbstaufgeben aber führt nicht zur Auflösung, sondern vielmehr zu einer Selbstsetzung und Selbstvollendung, die alles Begreifen übersteigt. Dadurch, dass wir uns in Liebe selbst aufgeben, erhalten wir eine unvergleichlich höhere Seinsfülle als wir sie je hätten erreichen können auf dem Weg der Selbstsucht und Selbsterhaltung. Es ist scheinbar ein Widerspruch, der uns hier entgegentritt. Natürliches Denken vermag es nie zu fassen. Es geht darüber hinaus. Es ist übernatürlich.
Die christliche Liebe ist das neue Weltgesetz
Es musste uns geoffenbart werden. Liebe ist das neue Weltgesetz, auf das alle Wesen in ihrem Sein und Bestehen umgestellt und hingeordnet sein müssen. Alles, was in diese Ordnung sich nicht hineinfindet, ist dem Untergang geweiht, der eine Folge der Erbsünde ist. Von diesem neuen Weltgesetz sind auch die Staats- und Gemeinschaftswesen nicht ausgenommen. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass nach der Erbsünde in der Weltzeit der Erlösung die Gerechtigkeit allein das gemeinschaftserhaltende Prinzip wäre.
Der hl. Augustinus hat in seiner Civitas Dei wundervoll gezeigt, wie die natürliche Gerechtigkeit durch die Erbsünde in schwerster Weise gestört worden ist. Aus sich selber können die Gemeinschaften den Weg aus dieser Unordnung zu einer natürlich vollkommenen Gerechtigkeit nicht finden. Die Gerechtigkeit muss zur Liebe erhoben werden, so fordert es die Offenbarung. Sie ist und bleibt das alle verpflichtende neue Weltgesetz. Nichts aber widerspräche der Weltordnung der Liebe schärfer als jede Art von Nationalismus. Durch die Augen der Offenbarung, der katholischen Lehre gesehen ist der Nationalismus geradezu eine Häresie zu nennen. –
aus: Theodor de Bussières, Alphons Maria Ratisbonne, Ein neuer Bruder im Herrn, Einleitung, S. 12 – S. 19, 1926