Nationalismus und Antisemitismus

Gedanken über Nationalismus und Antisemitismus

von P. Aloys Mager O.S.B.

Ein Geheimnis umwebt das jüdische Volk. Es war das auserwählte Volk. In ihm allein blieb nach dem Fluch der ersten Sünde die Erde mit dem Himmel unmittelbar verbunden. Aus seiner Mitte erweckte Gott die Männer, durch die er fort und fort zu den Menschen sprach und ihnen seinen Willen offenbarte. Es war der Träger der göttlichen Offenbarung. Aus seinem Fleisch und Blut formte der göttliche Offenbarungswille die menschliche Natur, die der ewige Sohn des ewigen Vaters zur Einheit seiner göttlichen Person verband. Die Gnade knüpft im allgemeinen an die Gesetze der Natur an. Es hätte einen besonderen Reiz, im jüdischen Volk die Anlagen aufzuzeigen, die ihm vor allen anderen Völkern diesen Vorzug gaben.

Eine bloß natürliche Beobachtung entdeckt im Charakter der Juden so viele Züge, die es für seine göttliche Sendung wenig geeignet erscheinen lassen. Die Geschichte des Volkes Gottes liefert dafür einen ununterbrochenen Beweis. Wir fühlen, daß hier eine übernatürliche Macht im Spiel ist. Dasein; Art und Beruf des jüdischen Volkes zwingen immer wieder Anerkennung eines übernatürlichen, göttlichen Wirkens. Es unterscheidet sich von allen anderen Kulturvölkern, über die wir geschichtlich unterrichtet sind. Wir stehen hier vor einem ersten Geheimnis.

Aus dem Volk der Juden ging der Erlöser der Welt hervor

Aus diesem Volk ging der Erlöser der Welt hervor. Und gerade es lehnte Christus so radikal, so unwiderruflich ab, wie es nie ein anderes Volk tat noch je tun wird. Wir stehen hier vor einem zweiten Geheimnis. Einem hl. Paulus lastete es erdrückend auf der Seele. Es legte ihm die erschütternden Worte des 9. Kapitels im Römerbrief in den Mund:

„Ich spreche in Christus wahr und lüge nicht. Mein Gewissen bezeugt es mir im hl. Geist, wie groß meine Trauer ist und wie ununterbrochen mein Schmerz im Herzen. Denn ich wünschte, von Christus verworfen zu sein um meiner Brüder willen, die meine leiblichen Verwandten sind. Sie sind die Israeliten, denen die Gotteskindschaft, die Gottesherrlichkeit, die Gottesbundschaft, die Gesetzgebung, der gottesdienstliche Kult und die Verheißungen wurden. Ihnen gehören die Erzväter an, aus ihnen ging Christus dem Fleische nach hervor, er, der da ist über allen Gott hochgelobt in Ewigkeit. Amen.“

Nicht als ob das Wort Gottes versagt hätte. Denn nicht alle Israeliten sind wirklich Israeliten. Und nicht etwa, weil sie von Abraham abstammen, sind sie auch Kinder Gottes. Nur die Kinder der Verheißung gelten als Nachkommen. Denn also lautet das Wort der Verheißung: Um diese Zeit werde ich wiederkommen und Sara wird einen Sohn haben. Nicht sie allein, sondern auch Rebekka hatte Zwillingssöhne von dem einen, unserem Vater Isaak. Als sie noch nicht geboren, also noch nichts Gutes oder Böses getan haben konnten, wurde der Ältere dem Jüngeren unterstellt, damit so der göttliche Auserwählungswille nicht infolge der Werke, sondern infolge der Berufung zu Recht bestünde, so wie geschrieben steht: „Jakob liebte ich und Esau hasste ich.“

Noch in den beiden weiteren Kapiteln beschäftigt Paulus diese Frage. Er beschließt das 11. Kapitel mit den Worten: „Ich will euch, Brüder, dieses Geheimnis nicht vorenthalten, damit ihr euch selber nicht klug vorkommt. Eine teilweise Blindheit nämlich hat Israel getroffen, bis die Vollzahl der Heiden eingetreten ist. Erst dann wird Israel als Ganzes gerettet werden, wie geschrieben steht: Von Sion wird der Retter kommen und von Jakob die Gottlosigkeit wegnehmen. Und das ist mein Bund mit ihnen, daß ich ihre Sünden tilge. Bezüglich des Evangeliums sind sie Feinde um euretwillen, bezüglich der Auserwählung Lieblinge um der Väter willen. Denn Gott macht seine Gnadengaben und die Berufung in Reue nicht rückgängig.

Denn so, wie ihr einst an Gott nicht glaubtet, jetzt aber Barmherzigkeit euch zuteil wird infolge des Unglaubens dieser, so sind diese jetzt ungläubig infolge der euch gewordenen Barmherzigkeit, damit auch ihnen Barmherzigkeit widerfahre. In den Unglauben hat Gott alle eingebettet, damit er sich aller erbarme.“

Die Juden der nachchristlichen Zeit

In den Paulinischen Ausführungen liegt die Lösung dessen, was man mit einem Schlagwort der Zeit die Judenfrage nennt. Sie ist nicht ausschließlich, ja nicht einmal hauptsächlich eine Rassenfrage. Sie ist auch keine bloß politische oder soziale Frage. Sie ist auch nicht bloß eine Kulturfrage. Sie ist mehr.

Sie ist eine religiöse Frage und zwar eine Frage der Offenbarungsreligion. Die Juden der nachchristlichen Zeit sind eine Erscheinung, an der jede ethnologische Erklärung scheitert. Alle anderen Völker, die die Geschichte kennt, gingen politisch und kulturell in den Siegervölkern unter. Nur wenige, wie die Römer und Griechen, lebten und wirkten wohl in ihrer überlegenen Kultur weiter, aber in ihrem Volkstum verschwanden auch sie. Nach völker-psychologischen Grundsätzen kann eine Rasse ihre Eigenart nur bewahren, wenn sie irgendwie in politischer oder kultureller Einheit verbunden bleibt.

Nur die Juden bilden eine Ausnahme. Nach der Zerstörung Jerusalems und der endgültigen Auflösung ihrer politischen Einheit zerstreuten sie sich in alle Länder und unter alle Völker. Überall aber bewahrten sie ihre Rassen- und Charakter-Eigenart unverfälscht. Sie nehmen teil am staatlichen und kulturellen Leben der Völker, in die sie eingingen. Ihre Wesenshaltung aber bleibt überall dieselbe.

Sie wirken und zwar oft in führender Stellung mit an allen Kulturleistungen in Wissenschaft und Kunst, Handel und Gewerbe. Trotzdem gehen sie nicht unter in einer gemeinsamen Kulturnivellierung. Die scharfen Umrisse ihres Typus schleifen sich nirgends ab. Sie bleiben, was sie waren und sind. Ihre Rassen-Gegensätzlichkeit wird von den anderen Völkern unangenehm empfunden. Sie können sich dem Einfluss der durchschnittlichen jüdischen Geistesüberlegenheit nicht entziehen. Sie seufzen darunter wie unter einem fremden Joch. Sie suchen es abzuschütteln. Es gelingt ihnen nicht. Je mehr sie sich dagegen auflehnen, um so weniger werden sie es los.

Es ist ein tragisches Geschick, das die Israeliten durch alle Zeiten und alle Länder verfolgt. Wie ein Fluch heftet es sich an ihre Spuren. Fast überall begegnen sie Abneigung, oft bis zum blinden Rassenhass. Angehörige jedes anderen Volkes wären ähnlichem Schicksal längst erlegen. Wir stehen hier vor einem dritten Geheimnis, vor einem völker-psychologischen Rätsel.

Das Volk Israel ist Träger der Offenbarung des Übernatürlichen im negativen Sinn

Eine psychologische Analyse stößt hier ungewollt auf das Wirken einer höheren macht, die gleichsam unmittelbar das Geschick des Judenvolkes in der Hand behält. Während andere Völker den natürlichen Gesetzen der Psychologie und Soziologie unterstehen, macht dieses Volk eine auffallende Ausnahme.

Tatsächlich ist das Volk Israel auch heute noch Träger der Offenbarung des Übernatürlichen, wenn auch in einem ausschließlich negativen Sinn. Vielleicht unbewusst und gegen seinen Willen muss es in allen Ländern und unter allen Völkern Zeugnis ablegen für die weltwendende Macht, die in der Menschwerdung der zweiten göttlichen Person der Weltgeschichte für einen Augenblick Halt gebot und sie in neue Bahnen lenkte. Indem es in unbegreiflicher Verblendung den Messias mit dem giftigsten Fanatismus, den es gibt, mit dem religiösen Fanatismus verwarf, wurde ihm die seelische Haltung radikaler Ablehnung und Zersetzung gleichsam zur zweiten Natur. Diese Art innerer Wesenseinstellung wirkt als gewaltigstes, geradezu unheimliches Motiv zu Handlung und Tat.

Ein rast- und ruheloses Sehnen und Drängen treibt die Juden, ob sie wollen oder nicht, auf allen Gebieten zu einer Tätigkeit, die immer wieder in Staunen setzt. Es ist aber vielfach eine Tätigkeit, die bei aller positiven Leistung den Keim der Auflösung in sich birgt. Und doch handelt es sich hier um eine seelische Kraft, die eine Psychologie des Ressentiments nicht zu erklären vermag. Sie wurzelt nämlich im letzten und tiefsten Ende nicht in einem verneinenden, sondern in einem bejahenden Hass. Es liegt ihm, wenn auch eine einseitig überspannte und darum verkehrte Gottessehnsucht zu Grunde.

Aus Eifer für Gott hassen sie Gottes Sohn. Sobald die Blindheit einmal von diesem Volk genommen sein wird, wird es mit erleuchtetem, bisher nie dagewesenem Eifer zu Christus sich drängen. Darum betet die Kirche am Karfreitag zu Gott, daß er den Schleier des Unglaubens von den Augen der Juden wegnehme. –
aus: Theodor de Bussières, Alphons Maria Ratisbonne, Ein neuer Bruder im Herrn, Einleitung, S. 7 – S. 12, 1926

Tags: Judentum

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