5. Mai Du Mutter der göttlichen Gnade

Marianische Festreden zur Feier des Maimonats

v. Franz Xaver Weninger, S.J.

5. Mai Du Mutter der göttlichen Gnade!

„Mutter Christi“, das war der Gruß und Gegenstand unserer letzten Betrachtung zu Ehren Mariä, um zu erwägen, welch eine Fülle des Lobes in diesem Gruß und somit auch in dieser Eigenschaft und Würde Mariä eingeschlossen sei; und welch einen Beweggrund der Gruß in sich begreife, um mit Vertrauen unsere Zuflucht zur Fürbitte Mariä zu nehmen.

An diesen Gruß reiht sich nun selbst der heutige an, der nun folgt, nämlich: „Mutter der göttlichen Gnade“. Ihr erinnert euch nämlich, daß ich gesagt, wie dieser Gruß: „Mutter Christi“, uns besonders dringend mahnt, von Maria uns besonders die Stimmung des Herzens und den Charakter für unser Leben zu erflehen, dass wir ganz eigentlich so beschaffen sind, so leben, dass wir ein Recht haben, uns nach dem Vorbild, das Christus ist, Christen zu nennen, eingedenk der Worte des hl. Paulus: „Seid meine Nachfolger, wie ich ein Nachfolger Christi bin.“ Um so mehr darf Maria uns diese Worte zurufen: „Seid meine Nachfolger, wie ich eine Nachfolgerin Christi bin.“

Allein, um das wirklich zu sein, braucht es Gnaden, – Gnaden, viele, mächtige, wirksame Gnaden, und daß wir zugleich dieselben auch durch unsere Mitwirkung in der Art und Weise in unser Herz aufnehmen, bewahren und benützen, wie es bei Maria der Fall war.

Erstens: denken wir heute nach, wie billig die Kirche diesen Gruß an Maria richtet und welch ein Lob Mariä darin enthalten ist.

Mutter Christi, das ist Maria, so grüßt die Kirche Sie. Daraus folgt nach Ansicht der Gottesgelehrten der Grundsatz, „alle Gnade durch Jesum Christum, aber alle Verteilung der Gnaden durch Maria.“

Dass Christus der Schöpfer und Urheber der Gnaden ist, das erhellt daraus, weil Er seiner Person nach Gott selbst ist. Dasselbe erklärt aber auch Christus auf das Bestimmteste, wenn Er feierlich bezeugt: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben, ohne mich könnt ihr nichts“ – durchaus nichts in Ordnung des Heiles.

Allein, wenn es zwar Christus allein ist, der uns die Gnaden, die wir in Adam und Eva verloren, durch das unendliche Verdienst Seines Lebens, Leidens und Sterbens wieder erworben hat, so ist Maria doch die Aussprenderin im Reich der Gnaden. Mit anderen Worten: Jesus verdient, Maria verteilt. Siehe da, welch eine Harmonie zwischen der Ordnung der Natur und Gnade, weil der Schöpfer beider derselbe Gott ist! Der Vater im Hause verdient, die Mutter verteilt. Der Vater erhält gleichsam, was er verdient, durch die Hand der Mutter wieder zum Genuss und Gebrauch. Darauf weist auch eine Offenbarung, eine Vision, die die der hl. Gertrud einst zu Teil geworden.

Sie sah nämlich einst den Himmel geöffnet; sie sah den Thron Jesu und diesem zunächst den Thron Mariä. Sie sah einen Strom aus dem Herzen Jesu sich in das Herz Mariä ergießen und aus demselben zurück in das Herz Jesu fließen, und wieder zurück in das Herz Mariä kehren, und aus demselben alsdann durch alle Himmel auf die Erde und in das Fegefeuer strömen. Was wollte wohl diese Vision sagen? Genau das, wovon ich soeben sprach.

Der Strom der Gnade ergießt sich erstlich in seinen ganzen Fülle aus dem Herzen Jesu in das Herz Mariä. Was will das sagen? Sagen will es eben, was die Theologen von der Gnadenfülle Mariä mit Recht behaupten; nämlich: Was immer Christo seiner Natur nach gebührte, das teilt Maria mit Ihm in Ordnung der Gnade. Daher behaupten auch dieselben Gottesgelehrten mit Bernhard und Bonaventura, dass keine Gnade je einem Geschöpf, Engel und Menschen zu Teil geworden ist, die nicht auch Maria, aber in überschwänglich größerer Fülle, empfangen hätte. Gleichwie das Meer alle Ströme in sich aufnimmt, und dieselben dennoch überflutet, eben so überwogt die Gnadenfülle Mariä die aller Engel und Menschen.

Niemand fühlte dies auch mehr, denn Maria selbst, wie Sie all Ihre Erhöhung und Würde nicht sich, sondern Gott allein schulde. Sie eignet sich von all dieser Fülle kein Tröpflein in eitlem Selbstwohlgefallen zu. Der Strom kehrt bis auf den letzten Tropfen zurück zum Herzen Jesu. Sie ist die Demütigste und ist sich dessen bewusst, wie sie im Magnifikat aufjubelt: „Der Herr hat angeblickt die Demut seiner Magd.“

Allein der Herr in Seiner Güte und Weisheit bestimmte und erwählte Sie zur Verteilerin der Gnade, weil Er Sie als Mutter Christi auch zur Mutter aller von Christus zu rettenden Seelen von Ewigkeit vorbestimmte und auserwählte. Sie wäre sonst auch nicht die Allerseligste, wenn Sie nicht den Trost hätte, dass jede Gnade durch Sie demjenigen, dem sie zufließt, mitgeteilt würde. Der Engel des Herrn selbst, vom Himmel aus der Gemeinschaft aller himmlischen Chöre der hl. Engel kommend, beugt sich vor Maria und grüßt Sie voll der Bewunderung und Anerkennung: „Du bist voll der Gnade.“

Aber auch zweitens: welch ein Beweggrund für uns, Maria mit aller Kraft des Vertrauens zuzurufen: „Bitte für uns.“ Oder wie, hat Bernhard nicht recht, wenn er ausruft: „Hat Gott der Vater durch Maria uns Jesum Christum gegeben, hat Er uns nicht alles durch Maria gegeben?“

Ferner, da Er der Schöpfer der Gnade selbst ist, der Maria zur Ausspenderin der Gnaden bestellte, so hat Er Ihr dazu gewiss auch die tauglichste Stimmung des Herzens gegeben, nämlich: das heißeste Verlangen, dass wir zu Ihr eilen und zu Ihr unsere Zuflucht nehmen. Hat doch Gott selbst in Ordnung der Natur jeder Mutter das Verlangen in das Herz geflößt, sich ihren Kindern mitzuteilen. Erstlich was das zeitliche Leben betrifft, dieselben mit ihrer Muttermilch zu nähren, und auch denselben alles zu gewähren, was in zeitlicher Beziehung denselben zum Heil und Gedeihen dienen kann. Sie fühlt den Drang dieses Verlangens, besonders, wenn sie reich ist, und ihre Kinder in Nöten sind.

Mit Recht ermuntert uns daher der hl. Alphons Liguori, uns dieses Verlangen, diese Stimmung des Herzens Mariä zu Nutzen zu machen. Er sagt: „Maria auf Ihrem Himmelsthron blickt beständig auf die Erde herab und schaut, ob niemand ist, der etwas braucht und von Ihr verlangt.“

Drittens: was den Gegenstand selbst betrifft, bitten wir Sie besonders darum, dass Sie uns von Gott jene Stimmung des Herzens, jenen Charakter des Lebens erflehe, auf welchen dieser Gruß und Ihre eigene Tugendgröße hinweist, nämlich, dass die höchste Hochschätzung unser Herz für das Gut der Gnade erfülle.

Dieselbe teilt sich, wie ihr wisst, in die heiligmachende und in die tätige ab.

Die heiligmachende macht uns zu Kindern Gottes, die das Recht haben, Gott Vater zu nennen. Rufen wir oft zu Ihr: Maria, sei es auch, dass ich Dich um was immer anflehe und Deine Fürbitte anrufe, so ist doch eine Bitte, die ich vor allem an Dich richte, die, nämlich: dass Du mir beistehst, dass ich nicht in eine schwere Sünde falle und die heiligmachende Gnade verliere. Und wenn ich sie verliere, o so erbitte mir die Gnade, dass ich durch wahre Reue und den Empfang des Sakramentes der Buße sogleich wieder in den Stand der Kindschaft Gottes eintrete.

Dann aber auch, dass mir der Herr, damit ich als Kind Gottes wirklich lebe, mächtige tätige Gnaden spende zur Heiligung meines Lebens. Dass ich aber auch in einer solchen Stimmung des Herzens lebe, dass ich versammelten Geistes in der Gegenwart Gottes wandelnd, die Einsprechungen der Gnade vernehme, und auch alsdann mit der ganzen Kraft meines Willens mit derselben mitwirke und als ein wahres Kind Gottes auf Erden unerschütterlich bis ans Ende lebe.

Heil dir, Kind Mariä, wenn du bei dieser Feier des Monats Mai, dem Herrn ein Herz, ähnlich dem Herzen Mariä darbringst, dass du nämlich von nun an mit mehr Eifer und Sorge als je jede Einsprechung des hl. Geistes vernehmst und in voller Entschlossenheit und Treue zu deiner Heiligung benützest. Dies die Bedingnis und das Unterpfand, dass Maria uns als Ihr Kind anerkenne, an dem Sie Wohlgefallen trägt. – Amen!

Beispiel. Die hl. Mechthildis.

Zu Zeiten der heiligen Gertrud lebte auch mit ihr in demselben Ordenshaus die heilige Mechthildis. Auch diese Heilige war von Gott hoch begnadigt durch Offenbarungen. Christus und die seligste Jungfrau erschienen ihr zu wiederholten Malen. Eines Tages las Mechthildis im Evangelium die Worte, die Christus an Maria, Seine gebenedeite schmerzerfüllte Mutter sprach, als Er Ihr an Seiner statt Johannes zum Sohn mit den Worten übergab: „Weib, siehe Deinen Sohn.“

Da fühlte die Heilige sich mächtig angetrieben den Heiland zu bitten, dass Er sie derselben Gnade würdigen wolle, welche Er dem heiligen Johannes vom Kreuz zu Teil werden ließ, und auch in Bezug auf sie die Worte an die seligste Jungfrau und Mutter Maria richten möge: „Weib, siehe Deine Tochter.“

Kaum hatte sie diesen Wunsch vor Christus ausgesprochen, so wurde ihr Gebet auch erhört. Sie vernahm klar und deutlich, daß Christus sie mit Namen Seiner gebenedeiten Mutter empfahl, und Ihr auftrug, dass Sie für Mechthildis als Ihre Tochter Sorge trage, ob des kostbaren Blutes, das Er für Sie am Kreuz vergossen, und wegen der besonderen Huld, die Er ihr erweisen wolle.

Mechthildis, darüber ganz in Freude entzückt, bat von neuem den Herrn, Er wolle dieselbe Gnade auch allen Seelen erteilen, die Ihn darum bitten. Jesus gab ihr zu verstehen, dass Er auch diese Bitte ihr gewähren wolle.

Nun denn, Kinder Mariä, so bitten wir denn unter Anrufung der hl. Mechthildis Jesum um diese Gnade; aber bitten wir Ihn auch, dass wir in Seiner Nachfolge so leben, dass wir auch wert seien, Kinder seiner Mutter zu sein, und dass Sie für uns als Mutter sorge. – Amen! –
aus: Franz Xaver Weninger SJ, Originelle kurzgefasste praktische Marianische Fest-Reden zur Feier des Maimonats, 1882, S. 28 – S. 33

siehe auch die Beiträge von F. X. Weninger über die Unfehlbarkeit des Papstes

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