Heiligenkalender
16. November
Die heilige Gertrud die Große Äbtissin
Gertrud, die leibliche Schwester der hl. Mechtild, diese himmlisch schöne Lilie im Kranz der Heiligen des Benediktiner-Ordens, wurde um das Jahr 1262 von der hoch adeligen Familie Hackeborn zu Eisleben in Sachsen geboren und – erst fünf Jahre alt – von ihren gottesfürchtigen Eltern den Benediktiner-Nonnen von Rodersdorf zur Erziehung übergeben, wo sie auch später die heiligen Ordensgelübde ablegte. Mit ungewöhnlichen Geistesgaben ausgerüstet und wie ein Engel dem heiligen Willen Gottes gehorsam, erwarb sie sich, der lateinischen Sprache im Sprechen und Schreiben vollkommen mächtig, einen solchen Reichtum der natürlichen Wissenschaften und ein solches Verständnis der heiligen Schrift, daß die gelehrtesten Männer sie bewunderten und um Aufschluß fragten. Der vorzüglichste Gegenstand ihres Denkens und Liebens jedoch war und blieb Jesus Christus in seinem Leiden und im heiligsten Altarsakrament und seine gebenedeite Mutter Maria. So oft sie von Jesus und Maria sprach, drangen ihre Worte so geistvoll und mächtig in die Herzen ihrer Zuhörer, daß dieselben davon innigst bewegt und entzündet wurden.
Gott würdigte sie schon frühzeitig in zahllosen Verzückungen sehr vieler Offenbarungen und befahl ihr, sie aufzuschreiben. Dieselben bieten jetzt noch allen Heilsbegierigen eine köstliche Nahrung für das geistliche Leben. Diese Strahlen des göttlichen Lichtes bewirkten in ihr eine solche Selbstgeringschätzung, daß sie mit äußerster Strenge im Wachen, Fasten und verschiedenen Bußwerken ihren Leib wie in Feuerglut läuterte, und ihren Geist in fortwährendem Gebet beschäftigte. Sie bekannte oft: „Ich halte das für ein vorzügliches Wunder, daß die Erde mich, die unwürdigste Sünderin, noch trägt.“
Wegen ihrer liebenswürdigen Bescheidenheit, dienstfertigen Demut und pünktlichsten Beobachtung der heiligen Regel, war sie die Freude der ganzen Schwesterschaft und wurde auch – erst dreißig Jahre alt – zur Äbtissin erwählt. Im folgenden Jahre zog sie mit ihren Schwestern in das Kloster Helfta und blieb dort bis zu ihrem Tode. Sie waltete ihres Amtes mit solcher Liebe, Umsicht und und Sorgfalt für die klösterliche Zucht, daß ihr Haus wahrhaft ein Haus Gottes war, in welchem nur Engel im Fleische wohnten; von allen Nonnen wurde sie mit kindlichster Liebe als Mutter verehrt, weil sie für alle die zärtlich besorgte Magd war.
Gertrud`s Liebe und Güte verbreitete Segen weit über Mauern des Klosters. Den Armen spendete sie reichliche Almosen, den Kranken liebreiche Hilfe, den Bedrängten wirksamen Trost. Das Volk der Umgegend hatte ein merkwürdiges Zutrauen zu ihr. Als einst die Leute im Frühling des vielen Eises und Schnees wegen ihre Äcker nicht bestellen konnten und voll des Jammers einer großen Teuerung entgegen sahen, baten sie Gertrud um Hilfe. Sie flehte inbrünstig zu ihrem himmlischen Bräutigam um Erbarmen, und sogleich trat das günstigste Wetter zum Anpflanzen ein. Als ein anderes Mal die Leute des vielen Regens wegen die Ernte nicht einheimsen konnten, suchten sie wieder Gertrud`s Hilfe. Auf ihr Gebet heiterte sich plötzlich der Himmel auf und andauernder Sonnenschein begünstigte die Feldarbeit. Mochte die Leitung ihrer sehr zahlreichen Genossenschaft, die vielseitigen Ansprüche an ihre Liebe von außen, und die fast beständigen, körperlichen Leiden und Krankheiten ihr äußeres Leben gar sehr beunruhigen, ihr Geist blieb in ununterbrochener Vereinigung mit Jesus und Maria; denn die kindlichste Verehrung Mariä betrachtete sie als eine ihrer ersten und angelegentlichsten Pflichten gegen Jesus, ihrem Sohn und unsern Erlöser. Dafür würdigten sie Jesus und Maria sehr häufiger Erscheinungen gemäß der Lehre des heiligen Evangeliums: „Selig sind diejenigen, die ein reines Herz haben: denn sie werden Gott anschauen.“ Als sie einst, in die Betrachtung der Leiden Jesu tief versenkt und entzückt, den teuren Herrn fragte, woran Er das meiste Wohlgefallen habe, womit sie sich im Gebet vorzüglich beschäftigen solle, erhielt sie die Antwort: „Befleiße dich, meine Mutter zu loben, die an meiner Seite thront.“ Sogleich stimmte Gertrud zur Ehre Mariä das Loblied des hl. Anselm an und sang gar innerlich:
„Sei gegrüßt du Unversehrte,
Auferbauend nur die Erde
Aus dem tiefsten Todesschlaf.
Ave, Eva, Neugebor`ne,
Lösend von Jehova`s Zorne,
Der die erste Eva traf!
O Maria, bitt für uns!“ …
Dann flehte sie die „Mutter der Barmherzigkeit“ an, sie möchte ihr doch das Herz mit Tugenden schmücken und so lieblich machen, daß Jesus recht gerne darin wohne. Da neigte sich die allerseligste Jungfrau zu ihr, pflanzte in ihr Herz verschiedene Blumen der evangelischen Tugenden: die Rose der Liebe, die Lilie der Keuschheit, das Veilchen der Demut, die Tulpe des Gehorsams und bezeugte ihr dadurch, wie gerne sie bereit sei, die Bitten der sie Anrufenden zu erhören und ihnen beizustehen.
Am Feste „Mariä Verkündigung“ sah Gertrud in der Verzückung, wie Jesus sich zu seiner Mutter neigte, sie mit kindlicher Ehrfurcht grüßte und so in ihr jene übersüße Wonne erneuerte, welche sie einst verkostete, als seine Gottheit geheimnisvoll durch die Mitwirkung des heiligen Geistes in ihr unsere Menschheit angenommen hat. Dabei erhielt sie eine kostbare Belehrung über die fromme Meinung, in der man das Ave Maria beten soll. Bei den Worten „Gegrüßet seist du, Maria“ soll man zu Gott bitten für alle Bedrängten umTrost; bei den Worten „Voll der Gnade“ um das Verlangen nach der Gnade für diejenigen, welcher derselben dringendst bedürfen; bei den Worten: „Der Herr ist mit dir“ für alle Sünder um Liebesreue und Bußfertigkeit; bei den Worten: „Du bist gebenedeit unter denWeibern“ um die Gnade der Beharrlichkeit für diejenigen, welche ein frommes Leben angefangen haben: bei den Worten „Und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes“ für alle Auserwählten um die Gnade der Vollkommenheit; zum Schluß dieses Gebetes soll man beifügen: „Jesus, Du Abglanz der Herrlichkeit des Vaters und Ebenbild seiner Wesenheit!“
Das Brevier der Benediktiner bezeugt, daß Jesus die Ihm verlobte Gertrud auch mit den Zeichen seiner Wundmale verherrlicht hat, jedoch ist das Jahr nicht bestimmt.
Vierzig Jahre regierte sie segensreich das Kloster. In ihrer letzten Krankheit, während ihre geistlichen Töchter in schmerzlichen Tränen um das Sterbebett der geliebten Mutter knieten, erschienen Jesus und Maria mit sehr vielen Engeln und Heiligen; himmlischer Wohlgeruch erfüllte die Zelle, und eine unbeschreibliche Freude verklärte das Angesicht der mit dem Tode Ringenden; ein Priester las ihr die Leidensgeschichte des Herrn vor und bei den Worten: „Er neigte sein Haupt und gab seinen Geist auf“ hauchte sie ihre schöne Seele aus am 15. November 1334. Sehr viele Leute, Hohe und Niedere, strömten herbei zu ihrer feierlichen Beerdigung, und zahlreicheWunder bezeugten, wie kostbar ihr Tod vor dem Angesicht des Herrn war. Ihre heiligen Gebeine sollen im Hausschatz von Braunschweig-Lüneburg sich befinden. In Eisleben, wo zweihundert Jahre später Martin Luther geboren wurde, scheint ihr Andenken vergessen zu sein. –
aus: Otto Bitschnau OSB, Das Leben der Heiligen Gottes, 1881, S. 855 – S. 857