Auslegung des Magnificat
Erster Vers
Lobgesang: Hoch erhebt meine Seele den Herrn
Magnificat anima mea Dominum
Hoch erhebt meine Seele den Herrn. Luk. 1,46
Teil II.
5. Betrachte, daß die seligste Jungfrau, zum Beweis ihres vollkommenen Dankes, nicht sagt: „Hoch erhebt meine Zunge den Herrn (was sie übrigens ganz mit recht hätte sagen können), sondern. „Hoch erhebt meine Seele den Herrn.“
Warum aber sagte Maria nicht, daß sie mit der Zunge, sondern, daß sie mit der Seele Gott hoch erhebe? Weil die Ehre, welche die seligste Jungfrau Gott durch ihre inneren Kräfte erwies, ohne Vergleich viel größer war, als sie auszudrücken vermochte.
Wenn sie mit den Menschen von Gott redete, war die seligste Jungfrau genötigt, auch die bei Allen üblichen Worte zu gebrauchen; keineswegs aber, wenn sie von Gott in ihrem Innern mit Gott selbst sprach, wenn sie ihm ihren Dank zu erkennen gab, ihn bewunderte, ihn liebte, ihm Lobpreisungen darbrachte. Bei allen diesen Gelegenheiten bediente sie sich, weil unseren Sprachgesetzen nicht unterworfen, stets einer innerlichen Ausdrucksweise, wie sie ganz besonders ihr eigen war.
6. Aber könntest du wohl begreifen, wie dieselbe beschaffen war? Um dies zu begreifen, müsste man zuvor erfassen, welch eine Seele die Gottesmutter und Jungfrau Maria hatte. Wer vermöchte indessen dies je zu erfassen?
„Viele Töchter haben Reichtümer gesammelt; du hast sie alle übertroffen“ (Prov. 31,29), – sagt von ihr der weise Mann voll von Staunen. Er sagt: alle, nicht: jede einzelne. Denn wenn man in eine Schale der Waage die reichen Schätze aller übrigen auserwählten Seelen zusammen genommen, und in die andere Schale die Reichtümer der Seele Maria`s allein legen würde, so würden diese letzteren die ersteren alle sogleich überwiegen, wie eine größere Goldmenge die kleinere aufwiegt.
7. Um indessen nicht in unergründliche Meerestiefen dich zu versenken, beachte hier nur das Eine, daß kein anderes von den bloßen Geschöpfen über die ganz eigene Seele so zur Ehre Gottes verfügen konnte, wie die seligste Jungfrau dies vermochte. Der Grund liegt darin, daß sie allein stets in der vollkommensten Weise die Herrin und Gebieterin über ihre Seele war, – so gänzlich hatte sie dieselbe immer frei von allen ungehörigen Zerstreuungen, von Empörungen, von Widersetzlichkeiten, von minder geordneten Empfindungen und Gefühlen.
O wie wahr und richtig sprach demnach die seligste Jungfrau, als sie sagte: „Hoch erhebt meine Seele den Herrn.“ Sie sagte hier, was kein anderes von allen bloßen Geschöpfen in gleicher Weise sagen konnte, da kein anderes seine Seele so sehr eigen nennen durfte, wie Maria es hier tat.
8. Kannst etwa du jemals sagen, daß seine Seele dein eigen sei? Wie ist sie dein eigen, wenn du so wenig darüber verfügen kannst? Der Ehrgeiz, der Zorn, der Neid, die Eitelkeit – haben sie nicht die Gewaltherrschaft über dieselbe errungen? Wie kannst du sie also in Wahrheit die deinige nennen? Bis du sie nicht den Händen so vieler Wüteriche entrissen hast, als Leidenschaften in dir sitzen, so lange rühme dich nicht, daß du Herr über dieselbe seiest; denn ist sie auch dein dem Recht nach, so ist sie es doch nicht in der Tat.
Ist sie es aber in der Tat nicht, wie kannst dann auch du mit der seligsten Jungfrau offen und frei sagen: „Hoch erhebt meine Seele den Herrn“? Sage es nicht! Denn die bösen Geister werden wenigstens über dich lachen, weil sie sehr wohl wissen, daß ihnen tatsächlich der Besitz jener Seele zusteht, von welcher du sagst, sie sei dein. Dieses Besitzwort steht in wenigen Munden unbedingt gut, in vielen sehr übel; im Munde der seligsten Jungfrau aber war es im vollkommensten Sinn berechtigt.
Deshalb war für sie die Seele auch wie ein herrliches Grundstück, das niemals aufhörte, sie in hohem Grade zu bereichern; denn was sie hier Heiliges und Frommes pflanzte oder säte, – Alles wuchs in ihrem Eigentum.
9. O wie sehr ist es dagegen wahr, daß von deiner Seele bisweilen Andere viel größeren Vorteil ziehen, als du selbst daraus schöpfest! Du predigst vielleicht, schreibst, lässest drucken, ratest zum Guten. Aber was würde dir dies alles frommen, wenn du es tätest, nachdem du schon nicht mehr dein eigen bist, sondern deinen Feinden angehörst? Nur sehr wenig würde es dir nützen.
Der Löwe, welchen einst Samson erwürgte, hatte einige Tage später eine Honigwabe voll der Süße in seinem Rachen. Aber wer genoß dieselbe? Jeder andere, nur der Löwe selbst nicht. Es genoß davon Samson selbst, es genoß davon Samsons Vater, es genoss davon Samsons Mutter; der Löwe allein erhielt nichts davon.
Höchst trauriges Los! Gott gebe aber, daß nicht auch du einem ähnlichen verfallest! –
aus: Paul Segneri SJ, Sämtliche Werke 19. Bd. Kleinere Schriften 1858, S. 174 – S. 176