Fest der Erwartung der Niederkunft der seligsten Jungfrau
Sehnsucht nach dem Heiland Jesus Christus
Betrachtung zum 18. Dezember
Rorate coeli desuper, et nubes pluant Jsutum; aperiatur terra, et germinet Slavatorem.
„Tauet, Himmel! Aus der Höhe, und Wolken! Regnet den Gerechten; auftue sich die Erde, und sprosse hervor den Heiland!“ (Isai. 45. 8)
1. Erwäge: die glückliche Erde, von welcher der Prophet hier redet, ist nach der richtigsten Auslegung seiner Worte niemand anderer als Maria: Maria, diese jungfräuliche, diese unversehrte, diese unbefleckte Erde: diese Erde, aus welcher, ohne eines Mannes Zutun, jener göttliche Sprössling erblühte, der so lange Zeit zuvor von Isaias ersehnt war, da er ausrief: „Auftue sich die Erde, und sprosse hervor den Heiland!“
Dies vorausgesetzt, wird es dir sogleich sonderbar scheinen, dass hier der eben angeführte Ausdruck gebraucht wird. Denn wenn die Erde, welche hier in Rede steht, so unversehrt war, dass ihr Schoß selbst bei der Geburt des wunderbaren Sprösslings so geschlossen blieb wie zuvor; wie kann dann der Prophet verlangen, daß sie sich öffne? „Auftue sich die Erde!“
Aber bemerkst du nicht, wem dieselbe sich auftun sollte? Sie sollte Dem sich öffnen, der aus ihr hervorgehen und sie doch zugleich unversehrt lassen konnte. Es schwinde also die Verwunderung.
Von dem Fenster sagt man, es sei dem Licht geöffnet, wann die Läden aufgemacht sind und bloß die Gläser es schließen; obgleich es indessen dem Wasser und der Luft und all den Tieren versperrt bleibt, welche in dessen Nähe kommen und vorbeifliegen. Und warum sagt man dennoch, es sei dem Licht geöffnet? Weil das Licht dessen ungeachtet eindringen kann.
Da also das fleischgewordene Wort Gottes durch den jungfräulichen Verschluss Marias dringen konnte, wie das Licht durch den Kristall, ohne ihn im Mindesten zu verletzen: „Wegen Sion will ich nicht schweigen, bis hervorgeht, wie Lichtglanz, sein Gerechter“ (Is. 62, 1); so durfte man sehr wohl sagen, dass dieser Verschluss für den Sohn Gottes in dem Augenblick sich öffnete, da er daraus hervorging; indem man ja recht gut weiß, dass alles, was von der Kraft irgendeines Dinges durchdrungen werden kann, offen für dieselbe heißt.
Bemerke jedoch, dass der Prophet nicht zuerst verlangt, dass die Erde den Heiland hervorsprossen, sondern dass der Himmel ihn herabregnen soll: „Tauet, Himmel, aus der Höhe, und Wolken! regnet den Gerechten; auftue sich die Erde, und sprosse hervor den Heiland.“ Denn zuerst müssen vom Himmel herab die günstigen Kräfte und Einflüsse kommen, und dann hat die Erde ihre Frucht zu bringen: „Der Herr spendet Güte, und unser Land gibt seine Frucht.“ (Ps. 84, 13)
Dein Herz ist eine geschlossene Erde: nicht etwa, weil sie eine jungfräuliche Erde, sondern weil sie unfruchtbar, weil sie ausgetrocknet ist, weil sie gar keine Frucht der Gottesfrucht bringt. Willst du aber wissen, worin der wahre und vorzüglichste Grund hiervon liegt? Der Grund ist, weil du fast niemals die Augen zum Himmel erhebst: „Er betete, und der Himmel gab Regen, und die Erde gab ihre Frucht.“ (Jak. 5, 18)
2. Erwäge, dass Christus aus der seligsten Jungfrau rein durch das Werk des heiligen Geistes geboren werden sollte; und darum ruft hier der Prophet mit zum Himmel gewendeten Augen: „Tauet, Himmel! Aus der Höhe, und Wolken! regnet den Gerechten.“ Er ladet den heiligen Geist ein, dass er endlich einmal in den jungfräulichen Schoß herabsteigen und ihn fruchtbar machen möge, damit derselbe dann, als wunderbar auserlesene Erde, jenen glückseligen Sprössling, der uns erlösen soll, das menschgewordene Wort Gottes nämlich, hervorbringen könne.
Willst du aber wissen, aus welchem Grunde die zeitliche Geburt dieses Wortes lieber mit dem Tau, als mit jedem anderen Regen, verglichen wird; so liegt der Grund wohl darin, dass der Sohn Gottes um so weniger Geräusch machen wollte, je mehr Heil er auf die Welt brachte.
Man ersah früher, dass Maria schwanger ging, als man das wie hiervon erfahren konnte: „Ehe sie zusammen kamen, fand es sich, dass sie vom heiligen Geist empfangen hatte.“ (Matth. 1, 18) Daher kommt es, dass nicht alle Menschen sich in gleichem Maße der guten Folgen dieses wundervollen Taues erfreuten.
Vielmehr, gleichwie von dem Tau, welcher auf das Vließ des Gideon sich herabsenkte, in der ersten Nacht das Fell benetzt ward, aber nicht die Tenne rings umher; und in der zweiten Nacht die Tenne in der Runde, aber nicht das Vließ (Judic. 6, 36 seqq.); – so zogen aus der Ankunft Jesu Christi zuerst die Israeliten Heil, während die übrige Welt unbenetzt von dem Himmelstau blieb; dann aber gewann die übrige Welt daraus ihr Heil, während die Israeliten trocken blieben: „Euch musste zuerst das Wort Gottes verkündet werden; aber weil ihr dasselbe von euch stoßet, so wenden wir uns zu den Heiden.“ (Act. 13, 46)
Du sage deinerseits Gott dem Herrn den innigsten Dank, dass du dich da befindest, wo dieser Tau in größter Fülle herabgestiegen ist. Wenn du aber von ihm bisher noch keinen Nutzen ziehest, – was zeigt dies an? Es ist dies ein offenbares Zeichen, daß dein Herz nicht weiche Erde, sondern ein Stein ist.
3. Erwäge dann: Jesus erhält hier von dem Propheten den Eigennamen: der Gerechte: „Tauet, Himmel! aus der Höhe, und Wolken! regnet den Gerechten“; weil ihm allein dieser Name gegeben werden kann.
Jeden Heiligen kann man gerecht nennen; aber keinen kann man den Gerechten heißen. Denn wer gerecht heißt, bei dem wird die Gerechtigkeit als zufällige Eigenschaft bezeichnet; nennt man hingegen jemand den Gerechten, so bezeichnet man in ihm die Gerechtigkeit als wesentlich, – und wesentlich war sie in niemand anderem, als in Christus, welcher eben deshalb die Gerechtigkeit selbst genannt wird: Er ist uns geworden Weisheit von Gott, und Gerechtigkeit.“ (1. Kor. 1, 30)
In allen übrigen Menschen war die Gerechtigkeit etwas Zufälliges, weil sie in ihnen sein, und nicht sein konnte; in Christus allein war sie wesentlich, weil sie in ihm unmöglich mangeln konnte; und wenn sie bei den anderen Menschen bloß aus Gnade vorhanden ist, so besteht sie bei ihm von Natur aus.
Siehe demnach, wie gut und weise der Prophet hier sagt: Tauet, Himmel! Aus der Höhe, und Wolken! Regnet den Gerechten“; denn auf der Erde waren damals viele gerechte Menschen, aber nicht der Gerechte. Der Gerechte musste notwendiger Weise erst kommen: „Sie haben jene getötet, welche von der Ankunft des Gerechten weissagten.“ (Act. 7, 52) Und wenn er kam, woher anders konnte er kommen, als nur vom Himmel?
Daraus ergibt sich, dass, da in Christus zwei Naturen sind, die göttliche und die menschliche, der Prophet in Betreff der göttlichen insbesondere sagte: „Tauet, Himmel! aus der Höhe, und Wolken! regnet den Gerechten“; in Betreff der menschlichen aber: „Auftue sich die Erde, und sprosse hervor den Heiland!“
Denn wenn Christus nicht bloß gerecht, sondern der Gerechte war, so hatte er dies zweifelsohne von der göttlichen Natur, welcher die Heiligkeit wesentlich ist: „Einer ist gut, Gott.“ (Matth. 19, 17) Und wenn Christus unser Heiland war, so kam dies nicht bloß von der göttlichen, sondern auch von der menschlichen Natur, welche ihn in den Stand setzte, dass er, als unser Haupt, das Heil in uns ausströmen konnte; gleichwie auch der erste Adam, als unser Haupt, das Verderben in uns ausgeströmt hatte.
Du, indem du ihn als deinen Heiland aufnimmst, hast sicher die Pflicht, ihn zu verehren, ihm zu danken, ihn zu lieben; nimmst du ihn aber als den Gerechten auf, dann reicht dies nicht hin, – du musst ihn auch nachahmen.
Ja ich frage: warum solltest du ihn nicht auch in seiner Eigenschaft als Heiland nachahmen, wenn dir die Gnade hierzu von Gott gegeben ist? Aber sei hier behutsam. Denn die Eigenschaft, welche er hier zuerst dir vorführt, ist, dass er der Gerechte, und dann erst, dass er der Heiland ist. Und du strebst zuerst in dieser, und dann in jener ihm nachzuahmen?
4. Erwäge, wie groß das Heil ist, welches dieser Heiland dir zu bringen Willens ist. Es ist so groß, als die Übel, von welchen er in seiner Erbarmung dich befreien will.
Diese lassen sich alle auf zwei zurückführen: auf das Übel der Schuld, und auf das Übel der Strafe. Aber wer vermöchte zu sagen, wie viele Unterarten in diesen beiden, nur all zu unseligen Hauptgattungen eingeschlossen sind? Führe sie selbst deinem Geiste einzeln vor, wenn du hoffen darfst, da je zu einem Ende kommen zu können.
Und doch siehe, – von allen diesen Übeln soll der so heilbringende Sprössling dich befreien! „Ich will ihnen einen Sprossen mit hohem Namen erwecken“, der schon seit so vielen Jahrhunderten von den Propheten geweissagt ist, „und sie werden nicht länger durch Hunger im Lande, wegen des Mangels an allem Guten, aufgerieben werden, und sie werden fürder nicht mehr, wegen der vielartigen Menge alles Übels, die Schmach der Heiden tragen.“ (Ezech. 34, 29)
Daher siehst du, dass dieser große Heiland nicht mit einem kostbaren Metall, das tief unten im Eingeweide der Erde begraben liegt, verglichen wird; sondern mit einem Sprössling, der von selbst aus der Erde hervor keimt: „Auftue sich die Erde, und sprosse hervor den Heiland!“ damit du daraus entnehmest, dass du dir nicht viel Mühe geben darfst, um ihn zu finden, sondern dass er vielmehr von freien Stücken selbst kommt, um dich aufzusuchen: so mächtig und heiß ist sein Verlangen, dich zum Heil zu führen.
O wie leicht kannst du von ihm alles Gute erhalten, wenn du nur zu ihm kommen willst, um dasselbe zu empfangen!
Weißt du, mit wie leichter Mühe du einen frischen Schössling aus dem Boden nehmen kannst? Ebenso leicht kannst auch aus dem Schoße Mariens deinen Heiland dir nehmen, wenn du Reue erfüllt ihm dich nahest, um ihm deine Übel und dein Elend zu offenbaren, und ihn demütig zu bitten, dass der dich davon befreien möge:
„Die Erde wird ihren Sprossen hervorbringen, Jesus Christus, den Herrn, und die Völker werden in ihrem Lande ohne Furcht sein vor den höllischen Feinden; und sie werden wissen, dass ich der Herr bin, wann ich die Ketten ihres Joches, das heißt, die Sünde, zermalmen, und sie aus der Hand derer, die ihnen gebieten, erretten werde“, nämlich aus der Gewalt ihrer zügellosen Leidenschaften und Begierden. (Ezech. 34, 27) –
aus: Paul Segneri S.J., Manna oder Himmelsbrod der Seele, 1854, Bd. 4, S. 566 – S. 571
siehe auch den Beitrag: Die Schönheit der Roratemessen