Auslegung des Magnificat
Erster Vers
Hoch erhebt meine Seele den Herrn
Magnificat anima mea Dominum
Hoch erhebt meine Seele den Herrn. Luk. 1,46
1. Hoch erhebt oder, wörtlicher nach dem Lateinischen übersetzt: groß macht meine Seele den Herrn.
Betrachte, in wie sehr verschiedener Weise Gott den Menschen und umgekehrt der Mensch Gott groß macht.
Gott erhebt den Menschen, indem er ihn wirklich groß macht: „Was ist der Mensch, daß du ihn groß machst?“ ((Job. 7,17) ruft der fromme Job aus. Und er sagte: groß machst, und nicht: groß gemacht hast; weil, wenn man Gott in sich selbst betrachtet, er von diesem Werk niemals abläßt: immer macht er den Menschen groß; denn, nicht zufrieden, ihn in seiner Natur groß gemacht zu haben, ist er stets bereit, ihn unaufhörlich größer in der Gnade, am größten in der Herrlichkeit zu machen.
Der Mensch hingegen erhebt Gott, macht Gott groß, indem er sich selbst klein macht vor ihm, und dies um so mehr, je mehr er sich von Gott erhoben sieht; indem er sich demütigt, indem er sich selbst gering achtet und indem er auf Gott allein alle Gnaden zurück führt, die er von dessen Huld empfangen hat. „Ich will ihn erheben im Lobe“ (Ps. 68,31), spricht der königliche Prophet – nicht mich, sondern ihn.
Und dies ist es auch, was die seligste Jungfrau vor Allem tun wollte. Denn da sie sich von Elisabeth so hoch preisen hörte in den Worten: „Selig bist du, daß du geglaubt hast; denn es wird erfüllt werden, was dir von Gott verkündet worden ist“ (Luk. 1,45); so leugnete sie die großen Gnaden nicht, welche ihr von Gott verliehen worden waren; ja sie konnte und durfte dieselben nicht leugnen.
Sie konnte es nicht, weil die Demut die Seele nicht blind macht für die Gaben, mit welchen sie bereichert worden ist; und sie durfte es nicht, da sie gerade auserkoren war, um den großen Geheimnissen, welche in ihr gewirkt werden sollten, Zeugnis zu geben. Deshalb wäre ein Verschweigen derselben bei jeder Gelegenheit so viel als ein Verrat an ihnen gewesen.
Was tat also Maria? Sie erklärte feierlich, daß bei den Werken, welche in ihr geschehen, Gott allein als groß erkannt, Gott allein gepriesen werden müsse, weil alle gleichermaßen von ihm allein ausgingen: „Hoch erhebt meine Seele den Herrn.“
2. Du lerne daraus, wie ungerecht deine Klage ist, wenn du sagst, daß du nicht weißt, was du zur Ehre Gottes tun sollst. Vernimm es kurz gesagt in den Worten des weisen Mannes: „Demütige sehr deinen Geist!“ (Ekkli. 7,19) Erniedrige dich selbst so tief als möglich in deinen eigenen Augen: erkenne es auf das Durchdringendste, daß du aus dir selbst nichts bist, nichts weißt und nichts und nichts Gutes kannst: sage, daß, wenn du irgend etwa Wertvolles an dir hast, dies alles von Gott ist. Dadurch wirst du ihm sogleich jene Ehre geben, welche ihn wachsen macht – nicht in sich selbst, sondern in dir.
Gott kann nicht wachsen in sich selbst, weil seine Größe kein Maß hat: „Seiner Größe ist kein Ende“ (Ps. 144,3), sagt der Psalmist. Wohl aber kann er wachsen in dir, und zwar bis jedem Grade; denn in dem Maße der geringen Meinung, welche du bei den Ganden, die Gott dir erweist, von dir selbst hast, wächst in dir die hohe Meinung von Gott.
3. Indessen war die seligste Jungfrau nicht damit zufrieden, in sich selbst Gott auf das Höchste zu erheben; sie erhob ihn eben so auch in den anderen Menschen. Denn der Gott, welcher vor der Menschwerdung nicht weiter als in einem Winkel der Erde bekannt war: „Gekannt in Judäa ist Gott“ (Ps. 75,2), – wurde nach der Menschwerdung in kurzer Zeit auf der ganzen Welt bekannt: „Erhaben ist der Herr, denn er wohnt in der Höhe“ (Is. 33,5)“, das heißt, wie Hugo es erklärt: er hing hoch am Kreuzholz; „er füllte Sion mit Recht und Gerechtigkeit“, – mit Recht in den Vorstehern der Kirche, mit Gerechtigkeit in den Untergebenen.
Dies voraus gesetzt, konnte die seligste Jungfrau mit recht sagen: „Hoch erhebt meine Seele den Herrn“; denn sie war es ja, welche Gott jenes Fleisch gab, vermöge dessen er um so viel mehr in aller Zukunft gepriesen, hoch erhoben werden sollte.
4. Aber noch mehr. Denn die seligste Jungfrau erhob und verherrlichte Gott nicht bloß in ihr selbst, wie ich schon sagte; sie verherrlichte Gott auch nicht bloß in den andern Menschen, sondern ich möchte beinahe sagen: sie verherrlichte ihn gewissermaßen in sich selbst.
Denn vor der Menschwerdung, welche in Maria sich vollzog, war Gott – Gott; dies läßt sich nicht leugnen. Aber wessen Gott? Bloß der Menschen, – der „Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs“ (Exod. 3,6); nachher aber wurde Gott sogar der Gott eines Gottes, da er der Gott Jesu Christi wurde.
So siehst du, daß Christus in seiner letzten Stunde klar und deutlich am Kreuze die Worte sprach: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matth. 27,46) Er begnügte sich nicht zu sagen: „Gott!“ sondern wollte ausdrücklich hinzufügen: „Mein Gott!“ damit Jedermann sehe, daß er ihn nicht bloß als den allgemeinen Gott aller Menschen, sondern auch als den eigenen anrief.
Läßt sich wohl je eine größere Verherrlichung als diese denken? Und doch wurde diese Gott durch die seligste Jungfrau zu Teil. Freue dich daher mit ihr über das Glück, das ihr vor jedem anderen bloßen Geschöpf beschieden war; Noch mehr aber soll es dich freuen, daß sie dann auch mehr als jedes bloße Geschöpf für ihr Glück sich dankbar zu verhalten wußte. –
aus: Paul Segneri SJ, Sämtliche Werke 19. Bd. Kleinere Schriften 1858, S. 171 – S. 174