Pius XII. über die Entfaltung und Entwicklung der Liturgie
Rundschreiben Papst Pius XII. vom 20. November 1947
Mediator Dei et hominum
Rundschreiben über die heilige Liturgie, AAS XXXIX (1947) 521-595
Auszug
a) Göttlicher und menschlicher Anteil
250 Die kirchliche Hierarchie hat jederzeit von ihrem Recht in liturgischen Dingen Gebrauch gemacht; sie hat den Gottesdienst eingeführt, geregelt und mit immer neuer Pracht und Würde zur Ehre Gottes und zur Erbauung der Gläubigen bereichert. Sie hat auch kein Bedenken getragen – immer unter strenger Wahrung der wesentlichen Eigenart des eucharistischen Opfers und der Sakramente – zu ändern, was sie nicht für angebracht hielt; hinzuzufügen, was geeignet schien zur größeren Verherrlichung Jesu Christi und der Heiligsten Dreifaltigkeit, wie zur Belehrung und heilsamen Aneiferung des christlichen Volkes. Vgl. Pius XI., Konst. Divini cultus vom 20. Dezember 1928. AAS XXI (1929) 33-41)
251 Die heilige Liturgie besteht nämlich aus menschlichen und göttlichen Bestandteilen; die letzteren lassen, da sie vom göttlichen Erlöser festgesetzt sind, natürlich in keiner Weise Änderungen durch Menschenhand zu; die ersteren hingegen können, den Forderungen der Zeiten, Verhältnisse und Seelen entsprechend, mannigfache Umgestaltungen erfahren, so wie sie die kirchliche Hierarchie unter dem Beistand des Heiligen Geistes gutheißt. Daher jene staunenswerte Vielfalt der morgen- und abendländischen Riten; daher die allmählich voranschreitende Entwicklung einzelner religiöser Bräuche und frommer Werke, von denen frühere Zeiten nur schwache Spuren aufweisen; daher aber auch die Erscheinung, daß bisweilen fromme Gepflogenheiten, die im Laufe der Zeit außer Übung gekommen waren, von neuem aufleben und wieder zu Ehren kommen. Das alles zeugt von der durch die vielen Jahrhunderte anhaltenden Lebenskraft der unversehrten Braut Jesu Christi; es ist das heilige Gespräch, das sie im Laufe der Zeiten mit ihrem göttlichen Bräutigam führte, um ihm ihren Glauben und den Glauben der ihr anvertrauten Völker, sowie ihre nicht zu erschöpfende Liebe zum Ausdruck zu bringen; es zeigt aber auch die Erziehungsweisheit, womit sie den „Geist Christi“ in den Gläubigen weckt und täglich wirksamer macht.
b) Ursachen der fortschreitenden Umgestaltung
252 Nicht gering an Zahl waren die Ursachen, aus denen die Entfaltung und Entwicklung der heiligen Liturgie in den langen und ruhmvollen Jahrhunderten der Kirche vor sich gingen.
So sind, um Beispiele anzuführen, mit der bestimmteren und klareren Erfassung der katholischen Lehre von der Menschwerdung des Göttlichen Wortes, von der Eucharistie als Sakrament und Opfer, von der Jungfrau und Gottesmutter Maria rituelle Neuerungen getroffen worden, durch welche die gottesdienstlichen Handlungen das aus den Erklärungen des kirchlichen Lehramtes heller erstrahlende Licht vollständiger und anschaulicher wiedergaben, ja gleichsam widerspiegelten, damit es leichter in Geist und Herz des christlichen Volkes Eingang finde.
253 Die Weiterentwicklung der kirchlichen Ordnung in der Spendung der Sakramente, wie z. B. in der Verwaltung des Bußsakramentes, die Einführung des Katechumenates und dessen spätere Aufhebung, und dann die heilige Kommunion unter einer einzigen Gestalt in der Lateinischen Kirche: das alles hat zweifellos nicht wenig dazu beigetragen, daß uralte Riten im Laufe der Zeit abgeändert und allmählich neue eingeführt wurden, die zu den diesbezüglichen Neubestimmungen besser zu passen schienen.
254 Zu dieser schrittweisen Umgestaltung trugen die nicht streng liturgischen Andachtsformen und Übungen der Frömmigkeit nicht wenig bei; nach Gottes wunderbarem Ratschluss sind sie im Laufe der Zeiten aufgekommen und wurden bald heimisch im Volk; so z. B. die zunehmende und täglich innigere Verehrung der heiligen Eucharistie, des bitteren Leidens unseres Erlösers, des heiligsten Herzens Jesu, der jungfräulichen Gottesmutter und ihres keuschen Bräutigams.
255 Einen zeitbedingten Beitrag lieferten ferner die in gläubiger Gesinnung veranstalteten Volkswallfahrten zu den Gräbern der Märtyrer, besondere Fastenübungen in gleicher Absicht, endlich die Bußprozessionen zu den Stationskirchen in Unserer Ewigen Stadt, an denen nicht selten die Päpste selbst teilnahmen.
256 Natürlich wirkte sich auch die fortschreitende Vervollkommnung der schönen Künste, insbesondere der Baukunst, Malerei und Musik, in nicht geringem Maße auf die Festlegung und Anpassung von äußeren liturgischen Formen aus.
c) Gründung der Ritenkongregation
257 Des gleichen Vorrechtes in liturgischen Dingen hat sich die Kirche bedient, um die Heiligkeit des Gottesdienstes vor Missbräuchen zu schützen, die von einzelnen Gläubigen oder Einzelkirchen ohne vorsichtige Überlegung eingeführt worden waren. Als daher im 16. Jahrhundert derlei Gewohnheiten und Bräuche zu sehr überhand genommen hatten und als Neuerungen auf diesem Gebiet vonseiten Unberufener die Reinheit des Glaubens- und Andachtslebens gefährdeten, übrigens sehr zum Vorteil der Irrgläubigen und zur Ausbreitung ihrer verfänglichen Lehre, gründete Unser Vorgänger unsterblichen Andenkens Sixtus V. zum Schutz der rechtmäßigen kirchlichen Riten und zu ihrer Säuberung von jenen ungehörigen Einschlägen im Jahre 1588 die Heilige Ritenkongregation (Sixtus V., Konstit. Immensa vom 22. Januar 1588), deren Aufgabe es auch heute noch ist, in wachsamer Obsorge Anordnungen und Bestimmungen auf dem Gebiet der Liturgie zu treffen. (Vgl. Cod. iur. can., c. 253) –
aus: Anton Rohrbasser, Heilslehre der Kirche, Dokumente von Pius IX. bis Pius XII., 1953, S. 155 – S.157
siehe auch den Beitrag „Pius XII. Altertumssucht in der Liturgie“