Aus der Weihnachtsansprache Pius XII. am 24. Dezember 1942
Die Grundforderungen menschlichen Zusammenlebens
Der Weg aus dem Dunkel von heute bis zu einem lichteren Morgen wird lang sein. Doch entscheidend sind die ersten Schritte auf diesem Weg. Auf den ersten 5 Meilensteinen, die ihn umsäumen, stehen mit ehernem Griffel eingemeißelt, folgende Grundforderungen:
1. Wer will, daß der Stern des Friedens über dem menschlichen Zusammenleben aufgehe und leuchte, der helfe zu seinem Teil mit an der Wiedereinsetzung der menschlichen Persönlichkeit in die ihr durch Gottes Schöpferwillen von Anbeginn verliehen Würde; der wehre dem maßlosen Zusammentreiben der Menschheit zu einer seelenlosen Masse; wehre ihrer wirtschaftlichen, sozialen, politischen, geistigen und sittlichen Haltlosigkeit, ihrem Untermaß an festen Grundsätzen und starken Überzeugungen, ihrem Übermaß an treib- und und sinnenhafter Erregbarkeit und Unbeständigkeit; der fördere mit allen erlaubten Mitteln auf allen Lebensgebieten solche Gemeinschaftsformen, in denen allseitige Eigenverantwortung der Persönlichkeit in ihren Diesseits- wie Jenseits-Aufgaben ermöglicht und gewährleistet ist; der trete ein für die Heilighaltung und praktische Verwirklichung folgender grundlegender Persönlichkeitsrechte: das Recht auf Erhaltung und Entwicklung des körperlichen, geistigen und sittlichen Lebens, ganz besonders auf religiöse Erziehung und Bildung; das Recht zur privaten und öffentlichen Gottesverehrung, einschließlich der religiösen Liebestätigkeit; das grundsätzliche Recht auf Eheschließung und auf Erreichung des Ehezweckes; …
2. Wer will, daß der Stern des Friedens über dem menschlichen Gemeinschaftsleben aufgehe und leuchte, der lehne jede Form des Materialismus ab, welcher im Volk nichts mehr sieht als eine Masse von Einzelmenschen, die zerspalten und ohne inneren Halt der bloße Gegenstand der Beherrschung und Willkür sind; … der verteidige die Unauflösigkeit der Ehe und gebe der Familie als unersetzlicher Zelle des Volkskörpers Raum, Licht und Atem für die Entfaltung ihrer Sendung zur Weitergabe des Lebens und zur Erziehung der Kinder in einem Geist, der ihren berechtigten religiösen Überzeugungen entspricht; … der sorge vor allem dafür, daß zwischen öffentlicher schule und Familie jenes Verhältnis gegenseitigen Vertrauens und Helfens erstehe, das in anderen Zeiten so segensreiche Früchte trug, und das heute einem weitgehenden Misstrauen gewichen ist, da, wo eine vom Geist des Materialismus beeinflußte oder gar beherrschte Schule vergiftet und vernichtet, was Vater und Mutter in den Seelen ihrer Kinder aufgebaut haben.
3. Wer will, daß der Stern des Friedens über dem menschlichen Gemeinschaftsleben aufgehe und leuchte, der geben der Arbeit den ihr von Anfang an durch Gott bestimmten Platz, der gebe der Arbeit den ihr von Anfang an durch Gott bestimmten Platz. Als notwendiges Mittel zu jener von Gott zu seiner Ehre gewollten Beherrschung der Welt, besitzt jede Arbeit ihre unantastbare Ehre und ist zugleich zu innerst verknüpft mit der Entfaltung der Persönlichkeit. Diese hohe Einschätzung von der Würde der Arbeit wird nicht im geringsten gemindert durch ihre Mühe und Last, die als Folge der Erbschuld im Gehorsam gegen Gottes Willen zu tragen ist…
4. Wer will, daß der Stern des Friedens über dem menschlichen Gemeinschaftsleben aufgehe und leuchte, der helfe mit zu einer tief gehenden Wiederherstellung der Rechtsordnung. Das gegenwärtige Rechtsbewusstsein ist vielfach heillos zerrüttet durch die Verkündigung und Betätigung eines hemmungslosen Positivismus und Utilitarismus des Rechts im Dienst bestimmter Gruppen und Bewegungen, deren Aufstellungen der Rechtsfindung und Rechtssprechung die Wege weisen und vorschreiben. Die Heilung dieses Zustandes ist dadurch zu erreichen, daß das Bewusstsein einer auf Gottes höchster Herrschaft beruhenden, jedweder menschlichen Willkür entzogenen Rechtsordnung wieder erweckt wird; einer Rechtsordnung, die ihre schützende und rächende Hand auch über die unverlierbaren Menschenrechte breitet und sie dem Zugriff jeder menschlichen Macht entzieht. Aus der Gott gesetzten Rechtsordnung ergibt sich der unabdingbare Anspruch des Menschen auf Rechtssicherheit und damit auf eine konkrete Rechtssphäre, die gegen jeden Angriff der Willkür geschützt ist. Das Verhältnis von Mensch zu Mensch, das Verhältnis des Einzelmenschen zur Gemeinschaft, zur Autorität, zu seinen staatlichen Pflichten, das Verhältnis der Gemeinschaft und der Autorität zum Einzelmenschen müssen auf eine klare Rechtsgrundlage gestellt und im Einzelfall von der Autorität des Richters geschützt sein.
Das setzt voraus:
a) Gerichte und Richter, die ihre Weisungen von einem klar umschriebenen und gefaßten Recht beziehen,
b) eindeutige Rechtssatzungen, die nicht durch missbräuchliche Berufungen auf ein angebliches Volksempfinden und durch bloße Nützlichkeits-Erwägungen um ihren Sinn gebracht werden können,
c) Anerkennung des Grundsatzes, daß auch der Staat und die von ihm abhängigen Behörden und Gliederungen verpflichtet sind zur Wiedergutmachung und zum Wiederruf von Maßnahmen, durch welche die Freiheit, das Eigentum, die Ehre, die Aufstiegsmöglichkeit und die Gesundheit der Einzelmenschen geschädigt wurden.
5. Wer will, daß der Stern des Friedens über dem menschlichen Gemeinschaftsleben aufgehe und leuchte, der lege Hand mit an zum Erstehen einer Staatsauffassung und Staatswirklichkeit, die aufgebaut sind auf zuchtvoller Vernunft, edler Menschlichkeit und verantwortungsbewusstem christlichem Geist; der helfe mit an der Zurückführung des Staates und seiner Gewalt zum Dienst an der Gemeinschaft, zur vollen Achtung der Persönlichkeit und ihres Strebens nach Erreichung ihrer ewigen Ziele; der bemühe sich nachdrücklich um die Bekämpfung der Irrtümer, die daraus ausgehen, den Staat und die Staatsmacht vom Weg der sittlichen Gebote abzubringen, sie aus der heilig verpflichtenden Bindung gegenüber dem Einzel- und Gemeinschaftsleben heraus zu lösen und zur Verneinung oder tatsächlichen Außerachtlassung ihrer wesenhaften Abhängigkeit vom Schöpferwillen zu führen; der trage bei zur Wiederanerkennung und Verbreitung der Wahrheit, daß auch im irdischen Bereich der tiefste Sinn und die letzte sittliche und gemeinschaftsgültige Berechtigung des „Herrschens“ das „Dienen“ ist.
Gebe Gott, daß, während Unsere Stimme an euer Ohr dringt, euer Herz innerlich erfaßt und bewegt werde von dem tiefen Ernst, der brennenden Sorge, der beschwörenden Eindringlichkeit, mit der Wir diese Gedanken euch nahe legen, als einen Weckruf an das Weltgewissen, als einen Sammelruf an alle, die bereit sind, an der Weite des allgemeinen Unglücks die Größe ihrer Aufgabe und Mitverantwortung zu messen. –
aus: (Hrsg.) Wilhelm Jussen SJ, Papst Pius XII., Gerechtigkeit schafft Frieden, Reden und Enzykliken, 1946, S. 83 – S. 89