Aus der Weihnachtsansprache Pius XII. am 24. Dezember 1942
Über die Innere Ordnung der Völker (Auszug)
Unsere letztjährige Weihnachtsbotschaft erörterte im Licht des christlichen Denkens die Grundlagen für eine Gott gewollte Ordnung des Zusammenlebens und Zusammenwirkens unter den Völkern. Heute wollen Wir Uns – der Zustimmung und der Aufmerksamkeit aller Gutgesinnten gewiß – mit besonderem Bedacht und in gleicher unparteilicher Gesinnung mit den grundlegenden Normen für eine innere Ordnung der Staaten und Völker befassen…
Aufgabe der Rechtsordnung ist Dienen
Vom Gemeinschaftsleben und seinen Gott gewollten Zielen untrennbar ist eine Rechtsordnung, die ihm als äußerer Halt, als Schirm und Schutz dient. Aufgabe solcher Rechtsordnung ist nicht Herrschen, sondern Dienen, die innere Lebenskraft der Gemeinschaft in der reichen Vielfalt ihrer Zwecke zu entwickeln und zu steigern, alle Eigenkräfte der Vervollkommnung in friedliche Wettstreit wachsen zu lassen und mit geeigneten und lauteren Mitteln all dem zu wehren, was ihrer vollen Entfaltung abträglich ist. Dieser Rechtsordnung ist zur Sicherung des Bestandes, des Gleichgewichts und der inneren Einheit der Gemeinschaft auch die Gewalt in die Hand gegeben gegen diejenigen, die nur auf diesem Wege in der hehren Zucht des Gemeinschaftslebens gehalten werden können. Aber gerade in der gerechten Ausübung dieser Vollmacht wird sich eine dieses Namens würdige Autorität ihrer schweren Verantwortung immerdar bewußt bleiben gegenüber dem ewigen Richter, vor Dessen Richterstuhl jedes Fehlurteil, erst recht jedes Verkehren der Gott gewollten Normen seine unentrinnbare Sühne und Verwerfung erhält.
Die Rechtsordnung kann nicht abgeschafft werden
In ihrem letzten, tiefsten und lapidaren Grundformen ist die Rechtsordnung des Gemeinschaftslebens menschlichem Zugriff entzogen. Man kann sie leugnen, übersehen, missachten, verletzen, aber niemals rechtswirksam abschaffen. Gewiß, die Lebensbedingungen wechseln im Zeitenlauf, aber nie kann es ein völliges Vakuum, einen gänzlichen Bruch geben zwischen gestrigem und heutigem Recht, zwischen dem Abtreten der früheren Gewalten und Verfassungen und der Geburtsstunde neuer Ordnungen. In jeder geschichtlichen Wendung und Wandlung bleibt das Ziel alles gesellschaftlichen Lebens stets in unveränderter, heiliger Verbindlichkeit: Entfaltung der Persönlichkeitswerte des Menschen als des Ebenbildes Gottes. Es bleibt jedem Mitglied der Menschheitsfamilie, gleich welchem Gesetzgeber und Befehlshaber es gehorchen mag, die Pflicht der Verwirklichung seiner unabänderlichen Menschheitsziele. Immerfort besteht darum auch unabdingbar gegenüber jeder Gewalt sein ihm von Freund und Feind geschuldeter Rechtsanspruch auf eine Rechtsordnung und eine Rechtsübung, die den Dienst am Gemeinwohl als ihre wesentliche Verpflichtung voll begreift.
Der Ausgleich muss gesichert werden
Die Rechtsordnung hat weiterhin die hohe und schwere Aufgabe, den Ausgleich zu sichern zwischen den Einzelnen sowie zwischen den Gemeinschafts-Gliederungen und in diesen selbst. Erreicht wird das Ziel dann, wenn die Gesetzgeber sich fern halten von jenen bedenklichen, gemeinschaftsschädlichen und aufspaltenden Rechtslehren und Rechtsübungen, die ihr Entstehen und ihre Verbreitung einer Reihe irriger Voraussetzungen verdanken.
Zu ihnen zählt der Rechtspositivismus, der rein menschlicher Rechtsgebarung eine trügerische Majestät verleiht und einer verhängnisvollen Scheidung zwischen Recht und Sittlichkeit die Wege bahnt. Hierher gehört weiter die Auffassung, die ausschließlich einer bestimmten Nation oder Menschenart oder -klasse das Rechtsempfinden zuerkennt und dies als letzte Rechtsquelle und Rechtsnorm bezeichnet, gegen die es keine Berufung gibt. Hierher gehören schließlich die in sich verschiedenen, oft von entgegen gesetzten Gedanken ausgehenden Theorien, die darin übereinkommen, daß sie im Staat oder in einer ihn vertretenden Bewegung ein höchstes jeder Überprüfung und Beschwerde entzogenes Absolutes erblicken, auch dann, wenn seine theoretischen und praktischen Forderungen in offenbarer Verletzung und Verneinung wesentlicher Pflichten des menschlichen und christlichen Gewissens enden.
Wer den lebensvollen Zusammenhang zwischen wahrer Gemeinschaftsordnung und echter Rechtsordnung mit klarem Auge überblickt, wer sich vergegenwärtigt, daß innere Einheit bei äußerer Vielfältigkeit nicht erreichbar ist ohne die Vorherrschaft geistiger Kräfte, ohne Hochachtung vor der Menschenwürde in sich und anderen, ohne Liebe zur Gemeinschaft und zu ihren Gott gegebenen Zielen, der wundert sich nicht über die traurigen Folgen von Rechtsauffassungen, die sich vom Königsweg der Wahrheit entfernen, um dann auf die abschüssige Bahn materialistischer Voraussetzungen abzuirren.
Umso mehr wird er die gebieterische Notwendigkeit einer Umkehr erkennen; einer Rückkehr zu den durchgeistigten und sittlich verankerten sozialen Begriffen voll Ernst und Tiefe, durchglüht von der Wärme lauterer Menschlichkeit, erleuchtet von der Strahlenkraft christlichen Glaubens. Solche Gemeinschaftssicht erblickt in der Rechtsordnung als dem Spiegelbild der Gott gewollten Gemeinschaftsordnung eine Edelfrucht des dem Gottesgeist nachgebildeten Menschengeistes.
Das Werk der Gerechtigkeit ist der Friede
Über dieser einzig lebensfähigen organischen Gemeinschaftsschau, in der edelste Menschlichkeit und echtes Christentum zu gemeinsamer Blüte sich einen, steht das vom großen Aquinaten durchdachte Schriftwerk: Opus justititiae pax, das Werk der Gerechtigkeit ist der Friede. Dies Leitwort ist der Innen- wie der Außenseite des Gemeinschaftslebens in gleicher Weise zugewandt. Es kennt nicht die schneidende Alternative: ‚Liebe oder Recht‘, sondern nur die schöpferische Verbindung ‚Liebe und Recht‘.
Beide sind Ausstrahlungen desselben Gottesgeistes, Programm und Siegel der Würde des Menschengeistes. Beide ergänzen sich gegenseitig, wirken zusammen, beleben und stützen sich, reichen sich die Hand auf dem Weg zu Eintracht und Frieden. Bereitet das Recht der Liebe den Weg, so vollendet und überhöht die Liebe das Recht. Beide zusammen erheben das Menschenleben in jene Atmosphäre der Gemeinschaft, wo inmitten der Unvollkommenheiten, Hemmnisse und Härten dieser Erde ein brüderliches Zusammenleben ermöglicht wird. Da aber, wo der Ungeist materialistischer Auffassungen das Feld beherrscht, wo Macht- und Geltungsstreben die Zügel des Geschehens in rauhen Händen hält, beginnen die Spaltwirkungen täglich offenbarer zu werden, schwinden Liebe und Recht zugleich und künden traurig den drohenden Untergang einer von Gott abgefallenen Gesellschaft… –
aus: (Hrsg.) Wilhelm Jussen SJ, Papst Pius XII., Gerechtigkeit schafft Frieden, Reden und Enzykliken, 1946, S. 70 – S. 78
Es folgen fünf Grundforderungen: Die Grundforderungen menschlichen Zusammenlebens