Das Judentum vor der Ankunft Christi

Das Judentum vor der Ankunft Jesu Christi

Politischer Zustand des jüdischen Volkes

Nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft

Die politische Lage des Volkes hatte sich vor der Ankunft des Heilandes folgendermaßen gestaltet. Nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft war die ursprüngliche Einteilung und Verfassung nach zwölf Stämmen fortgefallen, und auch das Haus David verschwand nach und nach aus dem öffentlichen Leben. Die schweren Kriege, welche das Volk nach dem Tode Alexanders des Großen mit den syrischen Königen für Religion und Freiheit zu bestehen hatte, endeten schließlich mit der Unabhängigkeit der Juden und der Vereinigung der Fürsten- und Hohenpriester-Würde in der Familie der Makkabäer oder Hasmonäer (140 v. Chr.).

Römische Unterjochung und herodianische Herrschaft

Die blutigen Thronbesteigungen in dieser unglücklichen Familie führten ein doppeltes, folgenschweres Verhängnis herbei: zuerst die Einmischung der Römer, die unter Pompejus Jerusalem eroberten (62 v. Chr.) und das Land zum Vasallenstaat machten; ferner das Emporkommen und den Einfluß der herodischen Familie, zuerst des Herodes Antipater, als Beirates der Krone, und dann seines Sohnes, Herodes des großen, als eigentlichen Kronbewerbers und Nebenbuhlers. Herodes, ein bedeutender Mensch, tatkräftig, kriegsgeübt und staatsgewandt, erwirkte in Rom seine Einsetzung als König (38 v. Chr.), erstürmte Jerusalem, rottete die ganze alte Königsfamilie der Hasmonäer aus und vereinigte alle Länder diesseits und jenseits des Jordan nebst Idumäa unter seiner Herrschaft. Unter der Regierung Herodes des Großen wurde der Messias geboren.

Nach Herodes Tod, wenige Monate oder ein Jahr nach der Geburt des Herrn, wurde das Reich unter seine Söhne Archelaus, Herodes Antipas und Herodes Philippus geteilt. Archelaus erhielt Samaria, Judäa und Idumäa, wurde aber bald wegen seiner Grausamkeit von den Römern abgesetzt und verbannt (7 n. Chr.). Seine Länder wurden der römischen Provinz Syrien einverleibt, hatten aber einen eigenen Landpfleger, der in Cäsarea am Meer wohnte, um die Osterzeit aber gewöhnlich nach Jerusalem kam. Pontius Pilatus, ein gebieterischer, harter, gewissenloser und unzuverlässiger Mann, war der fünfte römische Landpfleger von Judäa. Herodes Antipas, dem Bruder des Archelaus, fiel Galiläa und Peräa, Herodes Philippus aber Ituräa und das übrige obere Ostjordanland als Herrschaft zu. Beide behaupteten sich während der Zeit des Wirkens Christi in dem Besitz ihrer Fürstentümer.

Noch Kaiser Augustus hatte Herodes den Großen als König bestätigt (28 v. Chr.). Nach dem Tode des Augustus (14 n. Chr.; Luk. 3, 1) folgte ihm auf dem Thron der römischen Weltherrschaft Kaiser Tiberius und regierte bis 36 n. Chr. Das war die politische Lage des Volkes zur Zeit Christi. Die Unabhängigkeit war ganz dahin. Einige Jahre vor dem Tode des Heilandes hatten die Juden selbst das Recht des Schwertes verloren und durften keine Hinrichtung mehr vollziehen (Joh. 18, 31).

Sittlich-religiöse Zustände des Volkes

In sittlich-religiöser Beziehung hatte sich beim Volk nach der Rückkehr aus der Verbannung im Gegensatz zu früheren Zeiten manches vorteilhaft geändert, manches sich aber auch zum Schlimmeren gewendet und drohte in der Zukunft mit noch ernsteren Gefahren.

Die positive Seite nach der babylonischen Gefangenschaft

Gutes an dem sittlich-religiösen Zustand des Volkes war vor allem, daß die ehemalige Sucht zur Abgötterei, dieser Sünde gegen die Grundwahrheit der israelitischen Religion, gründlich geheilt und überwunden war, teils durch die Leiden der Verbannung und die Tätigkeit der Propheten Daniel und Ezechiel, teils und noch nachdrücklicher durch die schweren Kriege unter den Makkabäern gegen die heidnischen Unterdrücker, die Könige von Syrien (Jer. 30, 18; Os. 2, 17; Mich. 4, 10; 5, 12; Zach. 13, 2; Ez. 14, 17).

Ferner hatten sich die religiösen Anschauungen des Volkes in mancher Beziehung gereinigt und geläutert. Der Tempel stand in Ehren als Ort des Wohnens Gottes auch ohne Bundeslade, ohne den Lichtglanz (Schechina), ohne Urim und Thummim und ohne die Prophetie (Jer. 3, 16). Man hatte Sinn gewonnen für die geistige Seite der Opfer und der Religion.

Ebenso war der Gottesdienst zur Erhaltung der wahren Gottesverehrung durch Erinnerung an die geschehenen und durch Vorbildung künftiger Gottestaten und Offenbarungen allenthalben gut eingerichtet und in Übung. Der Sabbat wurde in den Synagogen, deren es viele und oft ganz prächtige mit Vorhallen in griechischer Bauart gab, eifrig gefeiert durch gemeinschaftliches Gebet, Lesen und Erklären der Heiligens Schrift. Die Priesterschaft war wieder geordnet (Luk. 1, 5. 8); die Morgen- und Abendopfer wurden mit großer Sorgfalt vollzogen. Die großen Nationalfeste (Ostern, Pfingsten, der Versöhnungstag, das Laubhüttenfest, die Tempelweihe) wurden mit großer Pracht und unter ungeheurem Zulauf des Volkes abgehalten und begangen. Selbst die täglichen Privatandachten hatten seit dem Exil mehr bestimmte Form erhalten.

Endlich war zur Aufrechthaltung des Gesetzes und der bürgerlichen Ordnung schon von Esdras (453 v. Chr.) die Große Synagoge, ein oberster Rat von gelehrten und hervorragenden Männern unter dem Vorsitz des Hohenpriesters, eingesetzt worden. An die Stelle der Großen Synagoge trat seit der Herrschaft der Hasmonäer der Hohe Rat oder das Synedrium, welches, unter dem Vorsitz des Hohenpriesters oder eines andern bedeutenden Mannes, aus 71 Mitgliedern bestand. Diese Glieder des Hohen Rates wurden gewählt aus den abgegangenen Hohenpriestern und den Häuptern der Priesterfamilien, dann aus Rechts- und Schriftgelehrten und endlich aus den ältesten der Stammes- und Familienhäuptern.

Die ungünstige Seite nach der Gefangenschaft

Aufhören des Prophetentums

Das alles war nun der Religion und Sittlichkeit günstig. Ungünstig war dagegen vor allem das Aufhören des Prophetentums, welches nebst dem Gesetz und dem Gottesdienst einer der drei Hauptbestandteile des Alten Bundes war. Der letzte Prophet Malachias (450 v. Chr.) verkündete noch die Ankunft des Vorläufers des Messias, und dann verstummten die prophetischen Stimmen. Mit dem Aufhören des Prophetentums ward nun auch das Geschick der Religion mehr auf natürliche Grundlage gesetzt und die Möglichkeit des Verfalles nahe gelegt.

Aufkommen des Schriftlehrertums

Damit hing ein zweiter Umstand zusammen, nämlich das Aufkommen des Schriftlehrertums an der Stelle der Propheten und, man kann wohl auch sagen, an der Stelle des Priestertums, dem doch die Unterweisung im Gesetz in erster Linie zukam (2. Par. 19, 10; Lev. 10, 11; Deut. 21, 5; Mal. 2, 7). Die Schriftgelehrten waren eigentlich Rechtsgelehrte, Prediger und Lehrer der Wissenschaft und herrschten als solche in den Schulen, an Gerichtshöfen und in Synagogen. Ihre Lehrweise war Gespräch und Unterhaltung, und die Entscheidung fiel nach Sätzen alter Meister. So bildeten sich die sog. „Traditionen“ und Menschensatzungen, welche die großen Wahrheiten und den Geist des Gesetzes verdrängten, ja das Gesetz selbst durch abenteuerliche Zutaten und Erfindungen überwucherten, entstellten und vielfach gefälschten (Mark. 7, 8; Matth. 23, 4). Statt den Sinn des Gesetzes und der Prophezeiungen zu bewahren und mitzuteilen, verschlossen sie vielfach die Schrift (Luk. 11, 52). Ihr ganzes Wesen war Silbenstecherei, elende Kasuistik, Spitzfindigkeit, unendliche Verbohrtheit und Streitsucht und Haß ohne Ende. Richtig kann man wohl sagen, daß das nachexilische Judentum aus der Synagoge hervor ging mit seinen guten und schlimmen Seiten. Der Synagogen-Gottesdienst kam aber auch dem Heiland und den Aposteln vielfach zu gute zur Verbreitung ihrer Lehre (Matth. 4, 23; 9, 35; Mark. 1, 39; Luk. 4, 15; Joh. 6, 60; 18, 20; Apg. 13, 5) und wurde selbst teilweise Vorbild für kirchliche Liturgie.

Herabwürdigung des Hohenpriestertums

Ein dritter verhängnisvoller Umstand war die Herabwürdigung des Hohenpriestertums. Seit Onias (175 v. Chr.) war die rechtmäßige Nachfolge im Hohenpriestertum unterbrochen. Die Könige von Syrien vergaben die Würde an den Meistbietenden. Ebenso wenig war es zum Vorteil der hohen Würde, daß seit Simon dem Hasmonäer das hohepriesterliche Amt und die politische Herrschergewalt erblich in einer Person sich zusammen fand (1. Makk. 14, 41). Schließlich würdigten Herodes und die Römer das Amt durch willkürliche Ab- und Einsetzung von Hohenpriestern ganz und gar herab.

Aufkommen politisch-religiöser Sekten

Der vierte und schlimmste Umstand war das Aufkommen und Überhandnehmen von politisch-religiösen Sekten, namentlich der Pharisäer und Sadduzäer, welche die zwei entgegen gesetzten Richtungen des Volksgeistes zur Zeit Christi bezeichnen.

Die Sadduzäer

Die Sadduzäer vertraten die hellenisierende, freigeistige, materialistische Richtung, die unter den Juden aus dem Einfluß des Heidentums entstanden war. Sie hielten zwar im wesentlichen am Gesetz, an der Beschneidung, am Sabbat, am Tempel- und Opferdienst fest, verwarfen aber alle Überlieferungen, namentlich die der Pharisäer, und leugneten die Geistigkeit und Unsterblichkeit der Seele, die Auferstehung der Toten und die Geisterwelt (Apg. 23, 8). Da sie meist unter den Reichen, Vornehmen und Beamten ihre Anhänger zählten, hatten sie zwar Einfluß, wurden aber sonst vom Volk mit Mißtrauen und Abneigung betrachtet.

Die Pharisäer

Die Pharisäer hingegen bildeten die jüdisch-religiös-nationale Partei. Sie waren eine Ausartung des löblichen Eifers der ersten Zeit nach der Verbannung, das Gesetz rein und unangetastet zu erhalten; deshalb eiferten sie für die Strenge desselben. Um das Gesetz rein zu bewahren, umgaben sie es nach dem Zuschnitt der Schriftgelehrten mit einem unerträglichen „Zaun“ von Gebräuchen und Vorschriften und Menschensatzungen – einer Unsumme von Plackereien, welche das Leben zur Qual machten. Das Gesetz war ihnen des Gesetzes wegen da, sein Buchstabe ihr Alles. So entwickelte sich nach und nach eine Werkheiligkeit, eine starre Geistlosigkeit, eine Selbstgenügsamkeit, ein Hochmut, eine Scheinheiligkeit und Heuchelei ohnegleichen, zumal sie die äußeren Beobachtungen vielfach bloß des Ansehens wegen zur Schau trugen, sonst aber es sich leicht machten, dem Geiz und der Sinnlichkeit frönten und das Gesetz in mancherlei Weise, wie bezüglich der Gelübde, des Eidschwures, der Strenge des Ehebandes, durch ihre Ansichten und Lehren lockerten und so das ganze religiöse Leben der Nation untergruben. Seit Herodes hatten sie auf das politische Leben keinen Einfluß mehr, suchten ihn aber auf religiösen Gebiet geltend zu machen, indem sie Männer ihrer Partei zum Hohenpriester-Amt und zum Synedrium beförderten. So herrschten sie zur Zeit Christi in den Schulen, in dem Hohen Rat und in der Synagoge und standen beim Volk vornehmlich durch die Schriftgelehrten, welche das wissenschaftliche Pharisäertum bildeten, als standesmäßige Wächter der geistigen Güter des Judentums, der reinenLehre, der Satzungen und des gesetztreuen Lebens, der nationalen Würde und Freiheit und als die Träger des reinen jüdischen Blutes in hohem Ansehen. Sie waren einfach die Vertreter und Sprecher der Nation. Man kann daher in einem gewissen Sinn wohl sagen, daß das ganze Volk pharisäisch gesinnt gewesen sei, weil eben die Pharisäer die herrschende Partei waren. Die kräftigsten Mittel zur Erhaltung und Wiederbelebung des religiösen Lebens wurden auf solche Weise zu Parteizwecken mißbraucht. Diese Parteien bekämpften sich gegenseitig unter dem Deckmantel der Religion politischer Machtstellung wegen. Das konnte nur zum Verderben des Volkes sein.

Religionsfeindlicher Druck

Endlich kamen zu diesen inneren Mißständen der äußere, vielfach religionsfeindliche Druck zunächst unter Herodes, dem Fremdling und Edomiter, dem Mann von unheimlicher Selbstsucht, Arglist und Grausamkeit. Er hielt alles mit Gewalt nieder; halb Jude, halb Heide, baute er aus Politik und Hochmut den Tempel herrlich und großartig um; errichtete aber ebenso gut heidnische Tempel und wohnte Götzenopfern bei und überzog das Land mit Theatern, Denkmälern und anderen entehrenden Malen des Heidentums. Er war nur eine Kreatur Roms und schmeichelte in allem Rom, das seit seiner ersten Einmischung das unglückliche Volk nicht mehr aus der Gewalt ließ und immer mehr umstrickte. Es war wirklich das eiserne Zeitalter Daniels, das angebrochen war (Dan. 2, 40).

Das Traumbild eines weltlichen Messias

Aus all diesen Umständen entwickelte sich beim Volk ein Geist der Unzufriedenheit und des inneren Grolls und ein Rachegelüste ohne Maß. Es war kein gläubiges Vertrauen mehr, sondern vielfach Verbissenheit und Trotz am Ende gegen Gott selbst. In diesem Unmut klammerte sich alles an das Traumbild des kommenden Messias, der nur eine Ausgeburt dieser fleischlichen Erwartungen, dieses Trotzes und dieser Gottentfremdung war. Sie wollten keinen Erlöser von Sünden, sondern vom Druck der Fremdherrschaft, einen weltlichen Herrscher, der sie an die Spitze der Nationen stellte, einen Rache-, Geld-, Lust- und Ruhmes-Heiland. Daß der Messias zufolge der Prophezeiungen einen Vorläufer haben und Wunder wirken sollte, erwartete man allgemein; daß er aber Gott sein würde, war wohl den wenigsten klar und noch weniger, daß er leiden und sterben würde. Die Leiden und Opfer, welche die Propheten von ihm weissagten, machte man wohl verstehen von den geistigen Opfern und von den Leiden des ganzen Volkes. Indessen gab es unter der Mehrheit des verschalten und verkommenen Volkes doch noch in allen Ständen einen guten und gesunden Kern vom gesetzestreuen Judentum, eine wahre Auslese, die sich nach dem wahren Trost Israels sehnte. Daß der Messias aber bald kommen werde, war allgemeine Erwartung.

Dieses war der innere und äußere, politische und religiöse Zustand des Volkes zur Zeit Christi – die messianische Zeit mit ihrenLicht – und Schattenseiten. –
aus: Moritz Meschler SJ, Das Leben unseres Herrn Jesu Christi des Sohnes Gottes, Bd. 1, 1912, S. 8 – S. 14

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