Das Leben und Leiden und der Tod Jesu
Maria die Mutter Jesu und Johannes unter dem Kreuz
Joh. 19,25. Es standen aber bei dem Kreuze Jesu seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Kleophas, und Maria Magdalena. – 26. Da nun Jesus seine Mutter und den Jünger, den er liebte, stehen sah, sprach er zu seiner Mutter: „Weib, siehe deinen Sohn!“ – 27. Hierauf sprach er zu dem Jünger: „Siehe, deine Mutter!“ Und von derselben Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
Luk. 23,49. Es standen auch alle Bekannten Jesu von ferne und die Frauen, welche ihm aus Galiläa gefolgt waren: und sie sahen dieses.
Mark. 15,40. Es waren aber auch Weiber da, die von ferne zusahen: unter diesen war Maria Magdalena und Maria, die Mutter Jakobus des Jüngeren und die Mutter Josephs und Salome, – 41. welche ihm auch nachgefolgt waren und gedient hatten, da er in Galiläa war; und viele andere, die zugleich mit ihm nach Jerusalem gegangen waren.
Matth. 27,55. Es waren auch viele Frauen da, die von ferne zusahen und Jesu aus Galiläa nachgefolgt waren, um ihm zu dienen. – 56. Unter diesen war Maria Magdalena, Maria, des Jakobus und Joseph Mutter, und die Mutter der Söhne des Zebedäus.
Wie Maria und die Verwandten unter dem Kreuz stehen
Unter den Zuschauern auf dem Kalvarienberg befanden sich auch Verwandte und Bekannte des Heilandes (Luk. 23,49), die heiligen Frauen, die ihm gefolgt waren in Galiläa, und viele andere (Mark. 15,40 u. 41; Matth. 27,55 u. 56). Aufgezählt werden die Mutter, des Herrn mit Johannes (Joh. 19,26), Maria Kleophä, Maria Magdalena und Salome. Wie es scheint, standen sie in verschiedenen Gruppen, die einen näher, die andern entfernter vom Kreuz, wahrscheinlich weil sie öfter fortgewiesen und zurückgedrängt wurden von den Soldaten und den Juden; bloß einigen, der Mutter Jesu, dem hl. Johannes, Magdalena und Maria Kleophä, scheint es, gestattete man, nach und nach ganz in die Nähe des Kreuzes zu treten (ebd. 19,25).
Ihre Absicht war eben, beim Leiden und Tode Jesu zugegen zu sein. Sie waren ihm gefolgt in Galiläa in glücklichen Tagen und hatten ihm gedient mit ihrer Hände Arbeit und ihrem Almosen; sie wollten ihm jetzt folgen bis zum Kreuze, ihm dienen mit ihren Tränen, ihrem Mitleid, mit Leib und Leben, wenn es sein sollte. Sie waren mit ihm herauf gezogen zum frohen Osterfest – Gott, welch ein Fest war es für sie geworden! Sie waren alle da und sahen zu und sahen alles, die Kreuzigung, die Erhöhung und das Leiden am Kreuze (Luk. 23,49; Mark. 15,41), alles mit namenlosem Schmerz.
Vor allem groß und unbeschreiblich war das Mitleiden der Mutter Jesu. Wer begreift es, was sie litt? Was steht eine Mutter nicht aus am Todbett ihres Kindes! Wo gab es je ein solches Todbett, schrecklicher an Qual und Schande! Und welch ein Kind! Nie hat es ein herrlicheres, geliebteres Kind gegeben, das seine Mutter mehr geehrt und beglückt, wie Jesus seine heilige Mutter. Nie hat es auch eine Mutter gegeben, deren Herz einer größeren, tieferen, umfassenderen Liebe und deshalb auch eines größeren Schmerzes mächtig war als das Herz der Mutter Jesu! Das ganze gräßliche Schauspiel ging unter ihren Augen vor; sie sah alles: die Nägel, die Wunden; sie hörte alles: die Hammerschläge, die Flüche gegen ihren Sohn und seine Worte und Seufzer; sie trat bis ans Kreuz heran und konnte ihm in das sterbende Antlitz blicken. Wer kann sich einen Begriff von ihrem Schmerz machen? – Und das alles litt sie freiwillig, niemand konnte das Opfer, persönlich beim Tode Jesu gegenwärtig zu sein, ihr auferlegen als ihre Liebe; sie brachte es mutig und unerschrocken trotz der Drohungen und Schmähungen der Feinde Jesu; sie harrte aus, bis der Tag mit all seinen Schrecken zu Ende war, und sie begleitete alles mit den herrlichsten Anmutungen der Anbetung, der Liebe, des Mitleids und aller Tugenden. – Und warum tut die Mutter Jesu also? Eben weil sie die Mutter Jesu war und teilhaben wollte an den Leiden und an der Schmach ihres Sohnes. Sie erkannte sehr wohl die große Bedeutung dieses Todes: es war das große Opfer der Erlösung, und sie musste dabei tätig mitwirken, wie Eva bei dem Sündenfall tätig mitgewirkt. Was die Mutter Gottes zum Kreuz hinzog und was sie da fest hielt, das war der Glaube, der ihr die ganze Herrlichkeit des Kreuzes offenbarte; das war die Liebe, die mächtiger ist als der Tod; und das war die rührenden Demut, die sich schämte, es besser zu haben als ihr göttlicher Sohn.
Wie Maria und Johannes belohnt werden
Eine solche treue, mütterliche und heldenmütige Liebe von Seiten Marias musste vom Heiland belohnt werden. Er sah auch alles: ihr Tun, ihre Gedanken, ihr Leid; er tröstete sie und sorgte für sie. Sie sollte nicht mit ihm sterben, sondern ihn noch lange überleben, und so war es entsprechend, für sie Fürsorge zu treffen. Er sprach deshalb, auf Johannes hinblickend, zu ihr: „Weib (zweite Eva), siehe da deinen Sohn“ (Joh. 19,26). Dein Sohn Jesus stirbt und kann hienieden nicht mehr für dich sorgen, Johannes tritt jetzt an meine Stelle, er soll es fortan tun. Ich weise dich an ihn. Und zum hl. Johannes sprach er: „Siehe da deine Mutter“ (ebd. 19,27). Tritt du jetzt an meine Stelle, ehre, liebe sie, sorge für sie, wie ich es bisher getan.
Die Wirkung dieser Worte war bei Maria ein neuer, unsäglicher Schmerz. Die Worte waren der förmliche Abschied von ihr, der förmliche Verzicht auf sie. Alles schwand mit diesen Worten vor ihren Augen und ihrem Herzen, ihr ganzes Leben dessen Seele und Mittelpunkt dieser Sohn gewesen war. An seine Stelle trat jetzt Johannes, freilich der Lieblingsjünger, aber der Schüler für den Meister, der Sohn des Zebedäus für den Sohn Gottes. Es war ein grausamer Tausch! Aber mit derselben kindlichen Demut, wie sie einst in die Empfängnis des Heilandes eingewilligt, mit derselben willigte sie in seinen Verlust. „Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Worte“ (Luk. 1,38). – Auch Johannes schickte sich in den Willen des Herrn mit großer Demut und Beschämung, mit großer Bereitwilligkeit und Liebe. Er trat das süße Vermächtnis des Herrn sogleich äußerlich an, indem er sie in sein Eigentum (Haus) aufnahm (Joh. 19,27), und innerlich, indem er sich die Gesinnungen der Ehrfurcht, der Liebe und Sorge aneignete, die der Heiland zeitlebens gegen seine heilige Mutter hegte. Der hl. Johannes hatte diesen großen Vorzug einigermaßen verdient durch seine Jungfräulichkeit, durch seinen Mut und seine Treue beim Tode Jesu und durch seine kindliche Liebe zur Mutter Gottes.
Schlussfolgerungen aus dem Geheimnis
Vor allem lehrt dieses Geheimnis, wie der Heiland das vierte Gebot hochhält und erfüllt. Er will nicht sterben, ohne für seine heilige Mutter gesorgt zu haben. Er denkt eben an alles, selbst unter diesen Umständen.
Es wird zweitens aus diesem Geheimnis ersichtlich, daß der hl. Joseph schon gestorben war, daß also Maria ganz allein und verlassen in der Welt stand, sonst hätte der Heiland sie nicht dem hl. Johannes empfehlen können. Ebenso wird bewiesen, daß Maria keinen andern Sohn hatte.
Drittens folgt aus dem Geheimnis, wie wir Maria als unsere Mutter ehren und lieben müssen. Seit dem zwölften Jahrhundert hat sich eine liebliche Anschauung dieses Geheimnisses in der Christenheit geltend gemacht, nach welcher der hl. Johannes der Stellvertreter der ganzen Menschheit war, so daß der Heiland in ihm uns allen Maria zu Mutter gegeben, ihr eine mütterliche Liebe zu uns, uns die Gnade einer kindlichen Gesinnung gegen sie bereitet. Der Heiland hatte hier also gleichsam sein Testament gemacht, und das Teuerste und Liebste was er hienieden besaß, den Aposteln, der Kirche und allen Gläubigen vermacht, mit dem Wunsch, daß wir alle in die Sohnesgesinnungen gegen seine heilige Mutter eintreten möchten.
Endlich ist aus dem Geheimnis auch ersichtlich, welch ein Vorteil es ist, beim Kreuz zu stehen und auszuharren. Wie herrlich ist der hl. Johannes nicht belohnt worden für seine Treue und Liebe zum leidenden Heiland! Er ist aus einem Jünger und Apostel ein Bruder Jesu und ein Sohn der Mutter Gottes geworden. –
aus: Moritz Meschler SJ, Das Leben unseres Herrn Jesu Christi des Sohnes Gottes in Betrachtungen Zweiter Band, 1912, S. 400 – S. 403