Die Aszese des göttlichen Heilandes
Was bedeutet Aszese?
Der göttliche Heiland konnte einen so wichtigen Punkt des religiösen Lebens, wie die Aszese ist, nicht unerörtert lassen. Er entwarf auch im Evangelium ein vollständiges System derselben, und wir wollen versuchen, es in einigen kurzen Zügen zu zeichnen: es ist damit bloß die Aszese der Kirche entworfen. Nichts ist besser im Stande, wahrheitsliebende Herzen zu versöhnen, und nichts ist der Wahrheit dienlicher, als die Wahrheit enthüllen. Es ist diese Erörterung auch ganz dazu geeignet, die Person des göttlichen Heilandes, seinen hohen Geist und seinen schönen Charakter ins Licht zu setzen.
Es ist kaum ein Wort, mit dem sich so viele unklare und auch irrige Vorstellungen verbinden, wie das Wort „Aszese“. Es ist daher vor allem wichtig und notwendig, einen klaren und richtigen Begriff von demselben zu gewinnen.
„Aszese“ besagt schlechthin „Übung“, und so versteht man unter Aszese „die Übung des religiösen, geistlichen Lebens“. Das Leben nämlich besteht in der Bewegung aus innewohnender Kraft, in der Übung, im Streben und Ringen. Jedes Streben nun setzt ein Ziel voraus, und da hier von dem geistlichen Leben die Rede ist, das geistliche Leben aber die christliche Vollkommenheit zum Ziel hat, so ist „Aszese“ dem vollen und eigentlichen Begriff nach „das Streben nach der christlichen Vollkommenheit“. (vgl. Weiß, Apologie des Christentums V, 1905, S. 467)
Die Vollkommenheit im allgemeinen besteht im Besitz aller zuständigen Eigenschaften. Die Vollkommenheit des Schöpfers liegt im Besitz aller göttlichen Eigenschaften in unendlichem Maße, die Vollkommenheit des Geschöpfes aber in der Teilnahme an der Vollkommenheit des Schöpfers durch die möglichste Vereinigung und Verbindung mit ihm als dem letzten Ziel und Ende und dem unendlichen Gut. Je inniger sich das Geschöpf mit Gott vereinigt, um so mehr wird es teilhaft der göttlichen Vollkommenheit.
Diese Vereinigung nun vollzieht sich am vollkommensten durch die Liebe, im Jenseits durch die beseligende Liebe des Besitzes und Genusses Gottes im Himmel, hienieden durch die Liebe des Strebens und der Vorbereitung. – Die Liebe des Strebens wieder ist eine doppelte. Die eine begnügt sich zur Erreichung des letzten Zieles und der Vereinigung mit Gott im Himmel bloß mit den notwendigen und wesentlichen Mitteln, nämlich der Beobachtung der Gebote, welche die gerade Richtung und die große Heerstraße zum Himmel sind. Die andere Liebe tut mehr. Sie will sich schon hienieden mit Gott in einem besonderen Grad verbinden und Gott in der Ewigkeit in höherem Maße genießen. Deshalb greift sie zu besonderen Mitteln, zu Mitteln der Übergebühr, nämlich zur Beobachtung der Räte, die besondere Mittel zur Vollkommenheit sind, die Gott nicht befiehlt, sondern als höchst begehrenswert in sich und ihm wohlgefällig vorlegt, aber jedem freistellt…
Beiden aber ist das Ziel, das Streben nach der Vollkommenheit, nach der Liebe hienieden und in dem Himmel, gemeinsam, wenn auch in verschiedenem Grade. Jeder Mensch und jeder Christ muss ein Aszet sein und ist auch wirklich ein Aszet, wenn er, wie er soll, nach der standesmäßigen Vollkommenheit strebt…
Wer also mehr Liebe hat, die allein den Menschen vollkommen macht, der ist der größere Aszet, er mag in was immer für einem Stande leben. Die Vollkommenheit ist somit an keinen Stand gebunden. –
aus: Moritz Meschler SJ, Gesammelte Kleinere Schriften, 1. Heft: Zum Charakterbild Jesu, 1908, S. 1 – S. 4