Gottes Schönheit in der Schönheit Mariens
Wer ist diese, die da aufsteigt wie die Morgenröte?
Der selige Benediktinerpater Gall Morel zu Maria-Einsiedeln hat in schwerer Leidensstunde das schöne Lied gesungen:
Ein Bild so schön, so wundermild,
Ein Sinnbild aller guten Gaben,
Es ist der Gottesmutter Bild:
In guten und in schlimmen Tagen
Will ich das Bild im Herzen tragen.
Das liebe Wunderbildnis winket
Mir Trost im Leben und im Tod,
Und wenn der dunkle Vorhang sinket,
Erglänzt es mir als Morgenrot:
Einst hoff` ich in den Himmelsauen,
Dich, o Maria, selbst zu schauen.
Was nun aber da dieser fromme Ordensmann von sich selber gesungen, das gilt von jedem wahrhaft katholischen Christen; Maria ist so innig mit unserem Leben verwachsen, daß wann und wo immer wir uns mit religiöser Übung beschäftigen, uns mit dem Sohn immer auch die Mutter in Sinn kommt: sie ist es, die unsere Kindheit mit wahren Himmelsfreuden, unsere Jugendzeit mit mütterlicher Mahnung und Warnung, unser ganzes Leben mit Trost und Mut, unser Ende mit Hoffnung und froher Zuversicht erfüllt. Daher ist das Lied, womit der von langer Krankheit heimgesuchte Dichter so manche schwere Stunde sich versüßte, jedem Katholiken so recht aus der Seele gesungen: Das Bild, ihm tief ins Herz gegraben, es ist der Gottesmutter Bild.
Das stete Beschauen dieses Bildes aber übt doch gewiß eine heiligende, beseligende Wirkung auf unser ganzes Leben, auf unser Sinnen und Denken, Wollen und Wünschen, Sehnen und Begehren, Handeln und Wandeln, möge dasselbe uns Maria vorstellen als frommes Kind im Tempel, oder als betende Jungfrau im Kämmerlein, oder als Mutter des göttlichen Jesuskindes im Stall, oder als große Schmerzensreiche unter dem Kreuz, oder als Königin aller Heiligen im Himmel. Denn es offenbart und spiegelt sich in ihm in ganz besonderer Weise die Schönheit Gottes…
Von allen geschaffenen Wesen aber, in denen Gottes Schönheit sich widerspiegelt, ist – außer der menschlichen Natur, welche der Sohn Gottes aus der reinsten Jungfrau angenommen – keines so schön, so gottähnlich, als diese Jungfrau selbst, die Gottesmutter Maria. Die Verkünder der göttlichen Offenbarung, die heiligen Schriftsteller des Alten und Neuen Bundes führen uns alle schönen Kreaturen, Sonne, Mond und Sterne vor den Blick des Geistes, um uns dann zu sagen, daß die seligste Jungfrau noch weit schöner ist. König Salomon hat sie im Gesicht geschaut; ihm war, als stehe er auf einer hohen Warte und schaue hinaus in tiefe, unheimliche Nacht; da begann es im Osten licht und immer lichter zu werden, plötzlich stieg die Morgenröte herauf, und im Morgenrot eine Jungfrau, in Licht gekleidet, den Mond zu ihren Füßen, von der Sonne umgürtet, eine Krone von zwölf Sternen auf dem Haupt. Ein solches Jungfrauenbild aber, wundervoll in der Rosenfarbe des Morgenrots, hatte König Salomon noch nicht gesehen. Daher rief er voller Entzücken aus: „Quae est ista, wer ist sie, die da aufsteigt wie die Morgenröte, schön wie der Mond, auserlesen wie die Sonne, furchtbar wie ein geordnetes Kriegsheer?“ Er nennt sie nicht, aber wir, die wir mitten im Christentum leben, kennen sie alle, es ist Maria, die liebe Mutter Gottes, zu welcher der Dichter also betet:
Wenn die Nacht dahingeschwunden
Und die holde Morgenröt`
Da in ihrer Schönheit steht:
Schöner bist du aufgegangen,
O, du aller Welt Verlangen,
Du, o Himmelskönigin,
Jungfrau, Mutter, Schützerin!
Denn auf sie paßt ja auch gar schön, was der große Papst Innozenz III. zu dem Ausruf Salomons sagt: „Der Mond leuchtet in der Nacht, die Morgenröte in der Morgendämmerung und die Sonne am Tage. Die Nacht aber bedeutet die Schuld, die Morgendämmerung die Buße, der Tag die Gnade. Wer also in der Nacht der Schuld danieder liegt, der blicke auf zum Mond, er flehe zu Maria, daß sie ihm zur Zerknirschung des Herzens, zur Morgendämmerung der Buße helfe. Wer aber bis zur Morgendämmerung der Buße gelangt ist, der blicke auf zur Morgenröte, er flehe zu Maria, daß sie ihn zur Genugtuung für seine Sünden und zum Tag der Gnade führe. Weil aber das Leben des Menschen ein Kampf ist, so blicke, wer immer einen Angriff von den Mächten der Finsternis, von den Feinden des Heiles erfährt, auf zur leuchtenden Sonne, er flehe zu Maria, daß sie, die mächtige Jungfrau, stark wie ein wohl geordnetes Kriegsheer, ihm Hilfe sende vom Heiligtum und Schutz verleihe von Sion aus.“ Welch innige Freude also, welche kindliche Liebe muss jedes katholische Herz beseelen, wenn es an die hehre Gottesmutter denkt, sie erscheint ihm als das Ideal, worin die Wesenheit Gottes am ähnlichsten, als der Spiegel, worin die Schönheit Gottes am vollkommensten widerstrahlt. Das muss es aber mit dem Gefühl seligsten Entzückens erfüllen… –
aus: Philipp Hammer, Der Rosenkranz, eine Fundgrube für Prediger und Katecheten, ein Erbauungsbuch für katholische Christen, II. Band, 1896, Einleitung