Die Erkenntnisquellen der Moraltheologie
Die Wissenschaft als Erkenntnisquelle der Moral
Für die Verwertung gelten folgende Grundsätze:
Vor allem ist der objektive Wert der Schriften zuverlässiger Autoren zu unterscheiden von der subjektiven Seite der Ausführungen. Der objektive Wert jener Schriften beruht in dem Zeugnis für die jeweilige Anschauung und Sitte. Zugleich aber wenden die kirchlichen Autoren die Prinzipien auf die bestehenden Verhältnisse an, und hier kommt die subjektive Denkweise des betreffenden Schriftstellers, etwa seine rigoristische Richtung, zum Vorschein und zur Geltung, man denke an die verschiedene Beurteilung des Luxus im christlichen Altertum oder die ethische Beurteilung der Frau. Von besonderer Bedeutung ist die patristische Literatur. Bei deren Verwertung ist nicht zu übersehen, daß die Kirchenväter ethische Fragen oft nur gelegentlich und in rhetorisierender Weise behandeln, sodann ist es nicht statthaft, einzelne Äußerungen aus dem Zusammenhang zu reißen, vielmehr ist dieser zu beachten und die ganze Denkweise des betreffenden Autors zu ermitteln und in Betracht zu ziehen, ferner sind die besonderen Zeitverhältnisse wirtschaftlicher, sozialer, politischer Art zu berücksichtigen, man denke an das Zinsverbot; kaum betont zu werden braucht schließlich, daß nicht jede subjektive Ansicht zu autoritativer Geltung erhoben werden darf.
Sind verschiedene Zeugnisse zu werten und zu vergleichen, so gebührt dem älteren Zeugen mit kirchlichem oder wissenschaftlichem Ansehen der Vorzug, wenn die sittlichen Prinzipien in Frage kommen, dagegen regelmäßig dem jüngeren, wenn es sich um die praktische Anwendung handelt; denn je näher der Zeuge der urchristlichen Zeit steht, um so höher ist naturgemäß sein Zeugnis für die Wahrheit zu werten, je näher hingegen ein Zeuge unserer Zeit steht, um so mehr ist bei Anwendung der Prinzipien zu vermuten, daß er den unserigen ähnliche Zeitverhältnisse voraussetzt.
Ausnehmende Wertschätzung ist unter den Autoren kirchlichen Ansehens den erklärten Kirchenlehrern zu zollen, wie besonders aus mittelalterlicher und neuerer Zeit Thomas von Aquin, Alphons von Liguori und Franz von Sales. Thomas von Aquin wurde 1567 zum Doctor Ecclesiae erhoben, er, der infolge seiner hohen Verehrung der heiligen Lehrer gewissermaßen den Geist aller besaß, von dessen Lehre ein Innozenz VI. rühmt, daß, wer ihr folge, nie auf einem Irrweg sich befinde, und von dem selbst ein Beza sagt: „wäre seine Lehre überwunden, alsdann wäre es leicht, mit allen anderen katholischen Lehrern fertig zu werden (Leo XIII., Enc. Aeterni Patris Unigenitus, d.d. 4.8.1879) Während Thomas mehr der Vertreter der Wissenschaft und der Systematiker ist, erscheint Alphons von Liguori als die große Autorität auf praktischem Gebiet. Wie hoch die Kirche ihn stellt, zeigen die drei Approbationsdekrete seiner Moralwerke. Pius VII. (1803), Gregor XVI. (1839, Kanonisationsbulle) und Pius IX. (1871) erklären übereinstimmend, daß in seinen Werken nichts der Zensur Würdiges sich findet und daß man ohne Anstoß (inoffenso pede) ihm folgen könne; immerhin behält auch hier die kirchliche Approbation den eben angedeuteten negativen Charakter, wonach also seinen Werken nur bezeugt wird, daß sich darin nichts der kirchlichen Lehre Widerstreitendes finde. Nicht weniger bedeutungsvoll für das kirchliche Denken ist die Erhebung des heiligen Franz von Sales zum Doctor Ecclesiae. Er hat richtig erkannt, daß zwischen Welt im verwerflichen Sinne (1.Joh. 2,16) und der Welt im indifferenten Sinn scharf und konsequent zu unterscheiden ist, und er hat Ernst gemacht mit dieser so wichtigen Unterscheidung. Die Natur ist nach ihm nicht zu unterdrücken, sondern zu beherrschen, ruhig mag man in der Welt leben, aber alles soll man Gott zu lieb und Gott zu Ehren tun (Pius XI., Enc. Rerum omnium, d.d. 26.1.1923). Franz von Sales überwindet die falsche Trennung zwischen Weltmoral und Klostermoral und bringt Welt und Kirche in das rechte Verhältnis; „Seine Schriften, so namentlich die Philothea, gehören unter die weltgeschichtlichen Taten.“ (Linsenmann, Lehrbuch der Moraltheologie, S. 28)
Was die Stellung der theologischen Wissenschaft zu den Autoritäten betrifft, so erachtet sie es als verfehlt, blindlings solchen zu folgen, aber als ebenso verfehlt, über Autoritäten wie Thomas von Aquin sich achtlos wegzusetzen. So hoch sie jedoch einen Thomas von Aquin schätzt, so bedeutet seine Lehre in ihren Augen dennoch keine Grenze, über die hinaus es keine Fortentwicklung der Erkenntnis gäbe: „St. Thomas ist ein Leuchtturm, aber er darf nicht eine Grenze sein“ (…) Besonders groß wird die Gefahr des Irrtums, wenn man von Folgerungen abweicht, abgeleitet aus einem Glaubenssatz und einer Vernunft-Wahrheit, die von den Theologen einmütig in der angedeuteten Weise abgeleitet werden. Doch kommt einmütiger Anwendung nicht dasselbe Ansehen zu. –
aus: Otto Schilling, Lehrbuch der Moraltheologie, I. Band: Allgemeine Moraltheologie, 1927, S. 22 – S. 24