Der Liberalismus in der Geschichte

Das Wesen des Liberalismus

Kurzer Blick auf die Geschichte des Liberalismus

3. Wir wollen gerne anerkennen, daß der Liberalismus im allgemeinen für den Augenblick – wir schreiben diese Worte im Dezember 1912 – einen etwas gemäßigten Charakter an sich trägt. Im allgemeinen, sagen wir, und für den Augenblick. In Portugal kehrt er übrigens auch im Augenblick den Radikalismus bis zur Barbarei und zur Unmenschlichkeit heraus, genau wie einst in den Tagen von Pombal. In Frankreich hat er dies vor einigen Jahren ebenfalls getan, und was er morgen tun wird, das muss sich erst noch zeigen. In Deutschland hat er sich während des Kulturkampfes, in Österreich während der Konkordatshetze gewiß so radikal gezeigt, als es ihm nur möglich war. Dies alles innerhalb weniger Jahre, die wir alle selber durchgelebt haben. Bedarf es da noch langer Beweise dafür, daß er nach Bedarf zahm, aber auch sehr radikal werden kann, je nachdem er es für nützlich findet?

Nein, der Liberalismus schließt durchaus nicht den Radikalismus aus. Der Liberalismus ist, wir wir bereits gefunden haben, fähig zu jeder Rolle, er findet sich in jede Rolle und hat auch jede Rolle mit gleichem Geschick gespielt. Er kann in sehr weltläufiger und verbindlicher Form auftreten, aber auch in sehr gewalttätiger. Denn er wechselt nur die Rollen, aber keineswegs seine Natur. Seine Natur ist und bleibt immer die des Radikalismus. Wo er diese ohne Gefahr an den Tag legen kann, da zieht er es vor, offen mit ihr hervorzutreten.

4. Ein kurzer Blick auf seine Geschichte liefert uns Beweise in Menge

Der Liberalismus ist Radikalismus

Diese muss man in zwei Hauptabschnitte zerlegen. Anders ist der Liberalismus vor der Reformation, anders nach dem großen Umsturz. Vor der Reformation trat er viel ungescheuter auf, weil er die ganze Tragweite seiner Bestrebungen selbst noch nicht faßte. Erst als ihm der aus seinem Schoße hervorgegangene große Kirchensturm klar machte, daß, wenn er seine vollen Konsequenzen zöge, keine Kirche mehr bestehen könne, begann er vorsichtiger aufzutreten.

5. Der Liberalismus ist, wo er sich sehen läßt, nach seiner Natur Radikalismus. Ockham, die Basler, die Humanisten lassen gewiß als Radikalismus nichts zu wünschen übrig. Die reife Frucht aus ihrer Aussaat ist Luther. (1) Der Schrecken über dieses ihm selbst unerwartete Ergebnis machte den Liberalismus für einige Zeit zurückhaltender. Nachdem er sich davon wieder erholt hatte, suchte er von neuem seine Zwecke zu erreichen, die Abschwächung der Autorität, die Erlangung der eigenen Selbstherrlichkeit, die Milderung des so drückend empfundenen Joches im Glauben und im Gehorsam, jetzt aber mit größerer Vorsicht, um die Errungenschaften der Reformation einzuheimsen, ohne in vollen Abfall überzugehen, um sich der Kirche möglichst zu entledigen ohne aus der Kirche auszuscheiden. Natürlich ergeben sich auch da sehr verschiedene Wendungen.

6. Somit muss man den Liberalismus vor der Reformation von dem Liberalismus nach der Reformation unterscheiden. Der eine ist die Vorbereitung auf den Protestantismus, der andere die Nachwirkung des Protestantismus. Der innere Zusammenhang zwischen Protestantismus und Liberalismus bleibt nach wie vor der gleiche.

(1) Darüber Denifle-Weiß, Luther und Luthertum II, 58ff. 362ff. Bekanntlich haben schon die Zeitgenossen des Erasmus den Spruch geschmiedet: Erasmus hat das Ei gelegt, Luther hat es ausgebrütet. Erasmus wehrt sich aus allen Kräften dagegen (z.B. Epist. 719. Opp. 1702. III, 840), aber die besonnensten unter seinen Gönnern und Freunden konnten ihn nicht von der Schuld frei sprechen. S. Heß, Erasmus I, 490ff.

Abaelard und Ockham

7. Der erste Liberale, nach modernen Begriffen gemessen, ist Abaelard. Wir sagen der erste Liberale nach modernen Begriffen. Man wäre versucht, die Vaterschaft für den Liberalismus auf Pelagius zurückzuführen. Denn gewiß finden sich bei ihm alle Verirrungen dieses Systems im höchsten Grade ausgebildet, der Optimismus bis zur Leugnung des Erbverderbens, des Naturalismus bis zur vollen Ausschließung des Übernatürlichen, die Untergrabung der Glaubenspflicht bis zum vollkommenen Rationalismus, die Brechung der Autorität bis zum Austritt aus der Kirche, kurz alle im Liberalismus schlummernden Keime bis zur vollendeten Häresie. Aber gerade deshalb täte man dem Liberalismus von heute unrecht, wenn man Pelagius ohne weiteres mit ihm in Verbindung setzen wollte. Das allerdings ist richtig, daß der Liberalismus bereits im Pelagianismus tätig ist, und daß er dort sogleich beim ersten Auftreten seine radikale Natur im vollsten Maße kundgegeben hat. Und das ist ebenfalls richtig, daß der Liberalismus in jeder Form Erscheinungen aufweist, die bereits im Pelagianismus zu Tage treten. Das zeigt sich bei Abälard, dem Musterbilde des modernen Liberalen. Mit Recht hat man ihn den Romantiker des Rationalismus genannt. Er verkörpert den Liberalismus in jener gemäßigten und doch immer hart am Rande der Häresie gaukelnden Form, wie er in der Zeit der Romantik und der Restauration Mode war. Es ist ganz natürlich, daß eben diese Zeit ein ganz besonderes wissenschaftliches Interesse für Abaelard an den Tag legte.

Den Liberalismus in der radikalsten Gestalt, in vielen Stücken sehr ähnlich dem Pelagianismus, vertritt zuerst Ockham, der Meister Luthers. Ockham ist liberal in so rücksichtsloser Weise, daß man ihn wohl besser den ersten Modernisten, den Vater des Modernismus nennt. Leugner jeder natürlichen Gewißheit, Minimist (2) bis zum äußersten Grade der Verwegenheit, Unterwühler jeder geistigen Autorität, Umstürzer der päpstlichen Gewalt, so daß die schlimmsten Gallikaner sich nur an ihn zu halten brauchten, was läßt Ockham dem verwegensten Modernisten noch zu erdenken übrig?

Nachdem aber er und die Gallikaner, zumal die in Basel, mit der Kirche so gut wie aufgeräumt hatten, konnte der Liberalismus in der Gestalt des Humanismus daran gehen, die Reste von Christentum zu einer baren Laienreligion umzugestalten, oder, wie Erasmus, dessen berufener Führer, sich ausdrückte, zu einer „christlichen Philosophie“ – heute würde er sagen, zu einer christlichen Weltanschauung (3) – die alles Übernatürlichen entkleidet, nur den „allereinfachsten“ Dienst Gottes (4) und eine naturgemäße Ethik übrig ließ, um das Joch Christi „einschmeichelnd und bequem“ zu machen. (5) Gewiß ein Ziel, daß auch der hoffnungsfreudigste Modernismus kein erwünschteres ausdenken kann.

(2) Über Ockham als Minimizer s. ebd. II, 378ff.
(3) Denifel-Weiß, Luther und Luthertum II, 467ff.

(4) Luther (Op. exeget. Lat. I, 133, Weimar 42, 80ff) redet von einem Kultus und einer religio nudissma, purissima et simplicissima, in qua nihil laboriosum, nihl sumptuosum. Das hat er wohl von Erasmus, der seine „philosophia Christiana“ als „purum et simplicem Christianismus“ anpreist (Ludg. Batav. 1703 III. 345 d.)(5) Christi jugum blandum et commodum (ib. III, 339. d.)

Luther, Erasmus und die Jansenisten

8. Das Sehnen und Ringen all dieser und anderer Vorläufer hat Luther im vollsten Maße erfüllt. Darüber entsetzten sich aber doch sehr viele, die einen, weil sie bis jetzt in Wirklichkeit nicht verstanden hatten, was ihre unüberlegten Reden bedeuteten, die anderen, und deren war die Mehrzahl, weil ihnen die entsetzlichen Folgen dieses „bequemen, weltfreudigen“, kurz dieses liberalen Christentums Augen und Herz öffnete. Zu diesen gehörte gerade Erasmus, der in seinen späteren Jahren bedeutend rückwärts ging, und damit zuerst den Rückgang vom radikalen Liberalismus zum gemäßigten Liberalismus einleitete. Infolge davon muss man in Erasmus den Vater des gemäßigten Liberalismus, des Liberalismus in seiner neuen Form, erblicken.

9. Dieser neue Liberalismus entwickelt sich wieder in drei Perioden.
Die erste Gestaltung des modernen Liberalismus, anfänglich vorsichtiger auftretend, mehr und mehr aber das Streben nach Untergrabung der kirchlichen Autorität immer rücksichtsloser entfaltend, ist der Jansenismus, der Versuch, die Grundsätze der Reformation in Ausgleich mit dem Katholizismus zu bringen.

Der Jansenismus ging fast unvermerkt in den Rationalismus des 18. Jahrhunderts über. Im Ganzen führte dieser die Richtung seines Vorgängers weiter, nur dehnte er dessen Programm bedeutend aus, denn sein Bestreben war, einen Ausgleich des Christentums mit der Welt, um nicht zu sagen mit dem baren Unglauben, ins Werk zu setzen.

Der Radikalismus als Rationalismus

Der Rationalismus bewies jedoch alsbald wieder, wie nahe verwandt Liberalismus und Radikalismus sind. Denn er griff, verblendet durch seine Erfolge, sein Unternehmen mit solchen Gewalttätigkeiten an, daß das Gebäude der christlichen Zivilisation unter fürchterlichen Verheerungen in der Revolutionszeit zusammen brach. Infolgedessen musste er sich vom Schauplatz zurückziehen und etwas ruhigere Kräfte an seine Stelle treten lassen. Damit kam der zahme moderne Liberalismus an das Ruder.

10. Unmittelbar ist also dieser neueste Liberalismus aus der großen Umsturzzeit hervorgegangen. Der Radikalismus hatte als Rationalismus auf dem religiösen und als Revolution auf dem politischen Gebiete seine Sache so rasch, so gewaltsam und so offen betrieben, daß zu fürchten war, die ganze Welt könnte gemeinsam gegen ihn einschreiten müssen… Er beschied sich also zum behutsamen, stillen und langsamen Vorgehen. Insbesondere schloß er, was ja nach der Revolution eine selbstverständliche Sache war, die Massen, die sich so ungebärdig benommen hatten, von der öffentlichen Mitwirkung aus und legte sich feine Manieren und einen neuen Titel bei. Er trat als Liberalismus auf. Als solcher wurde er, der Urheber der Revolution, ohne irgend von seinen früheren Grundsätzen preiszugeben, hoffähig, ja Herr und Meister der Höfe und der ganzen gebildeten Gesellschaft.

11. Dank der Reaktion, oder wie man damals sagte, der Restauration hatte er es nicht schwer, die alleinige Herrschaft an sich zu reißen und alle und jede Regung hintanzuhalten, die seinen Plänen hätte hinderlich werden können. In politischen Dingen war das Volk ohnehin nahezu rechtlos; da blieb ihm bloß die Arbeit im Dunkel der geheimen Gesellschaften. In religiösen Dingen aber war die Kirche machtlos, die Theologie ihrer selbstvergessen hilflos, ja zum großen Teil samt ihren Schulen dem Liberalismus eine treue Dienerin. Ein öffentliches Leben gab es nicht, eine unabhängige Presse schon gar nicht. So konnte der Liberalismus bequem seine Herrschaft ausüben ohne daß er einen andern Aushängeschild vorzuhalten brauchte als den der Toleranz, des gleichen Rechtes für alle, der allgemeinen Freiheit im Denken, Schreiben und Handeln.

Demokratismus als neue Variante

12. Aber dies sein goldenes Zeitalter dauerte nicht ewig. Er hatte den Massen zuviel von Freiheit, von Selbstherrlichkeit und von Volksrechten vorgepredigt, als daß sie nicht allmählich unzufrieden damit hätten werden sollen, davon nichts zu genießen. Und da er ihnen nicht willig den Mitgenuss daran einräumte, so rissen sie ihn mit Gewalt an sich.
Damit ging die Macht mehr und mehr an das Volk über, wie man die breiten, niederen Massen nannte. Der Liberalismus, der bisher etwas stark aristokratisch war, musste wieder dem Demokratismus Platz machen, oder besser gesagt, einen Platz neben sich einräumen. Denn von Abdanken war keine Rede und brauchte keine zu sein. Waren auch die Manieren des Demokratismus wieder mehr die des alten Radikalismus, so unterschied sich doch sein Geist nicht von dem des Liberalismus. Ein anderes Ziel hatte er nicht als dieser und konnte er nicht haben, nur in der Art und Weise seines Vorgehens unterschied er sich von ihm… Zuletzt blieb der immer der Liberalismus dem radikaleren Demokratismus und dem Sozialismus gegenüber der erfahrener und schlauere Führer, ohne den nicht wohl viel zu erreichen war.

Der Liberalismus auf religiösem Gebiet

13. Auf dem religiösen Gebiete nahmen die Dinge eine andere Wendung. Die Kirche erholte sich von den furchtbaren Schlägen, die sie dem Untergange nahe gebracht zu haben schienen. Das kirchliche Leben erstand in neuer Blüte. Die heilsamen theologischen Kämpfe um Glauben, Natur und Übernatur und um die Kirchengewalt führten zu einem großartigen Umschwung in der Theologie, infolge dessen dem bisher fast allein herrschenden Liberalismus mehr oder minder der Dienst gekündigt wurde.

Hier ergab sich ganz von selbst ein anderes Verhalten für diesen. Er hatte sich so sicher der unbedingten Herrschaft über die Kirche gefühlt, daß seine radikale Natur in ihrer ganzen Wildheit erwachte, als auch von jener Seite – es war seit 1848 – der Ruf nach Freiheit erscholl. Aber seine Gewalttätigkeit schlug diesmal nicht bloß fehl, sondern schuf der Kirche unvermutete neue Kraft. Nicht anders erging es ihm auf dem Gebiete der Lehre. Dort sammelte er seinen ganzen Anhang, nachdem die früheren einzelnen und kleineren Versuche mißlungen waren, zu einem großen Sturm, in dem er der Kirche nach dem Konzil seine eigene Kirche gegenüber stellte. Auch dieses Unternehmen wendete sich zum großen Schaden für ihn selber.

14. Dadurch war der Liberalismus in einige Verlegenheit gebracht. Soviel war ihm klar geworden, daß er auf den alten Wegen, die ihm im 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dienlich waren, der Kirche gegenüber jetzt nicht mehr zum Ziel kommen könne. Die Maske des Liberalismus ablegen und offen als Radikalismus auftreten, das hatte er nun wohl gelernt, würde erst recht der Kirche dienlich sein. In dieser Lage gab sich nur ein Ausweg, der zum Ziel führen konnte.

Der Modernismus

Vom Ausscheiden aus der Kirche durfte so wenig die Rede sein wie vom rohen Kampfe gegen sie. Auch die volle Trennung des öffentlichen Lebens von der Kirche war wenig einladend, denn unter dieser Voraussetzung verlor er ebenfalls allen Einfluß auf die kirchlichen Dinge, wenn er nicht wiederum zur Gewalt greifen wollte. Es blieb nur eines übrig, sich einen Platz in der Kirche selbst zu sichern und dahin zu arbeiten, daß es ihm gelänge, mit radikaleren Mitteln die Kirche entweder umzugestalten oder zu unterwühlen, oder doch ihr Schwierigkeiten jeder Art zu bereiten, die ihr die Erfüllung ihrer Aufgabe unmöglich machen sollten.

15. Auf diesem Wege entstand der Modernismus, jenes System, dessen Grundsatz ist: Nur kein Ausscheiden aus der Kirche, sonst ist jede Aussicht verloren, sie nach modernen Begriffen zu reformieren. Nur wer sich um jeden Preis in der Kirche hält, vermag darauf hinzuwirken, daß der Geist der Neuzeit, die neue Wissenschaft, die neue Kultur, die neuen Lebensanschauungen in die Kirche eindringen, oder daß die Kirche genötigt werde, mit ihnen einen Ausgleich einzugehen.

Dieses System will also nicht bloß, wie der zahme Liberalismus, einen geduldeten Platz für sich in der Kirche besitzen, an dem einer ruhig seinen Spekulationen nachgehen, oder vielmehr für seine Person die Last des Glaubens und des Lebens nach Möglichkeit erleichtern könne. Nein, es will sich der Kirche selbst bemächtigen, es will die Kirche reformieren – daher der Name Reformkatholizismus – es will die Kirche ihres altererbten Charakters entkleiden und, entsprechend den Grundlagen der modernen Gesellschaft, modernisieren – daher das Wort Modernismus.

16. Das ist ohne Zweifel nicht mehr der katholische Liberalismus, wie man ihn ehemals nannte, in seiner früheren Gestalt, denn so radikal wäre dieser nie vorgegangen. Das kann in Wahrheit nicht anders genannt werden als Radikalismus, denn dieses System greift der Kirche an die Wurzel ihres Glaubens und Lebens und will ihr einen ganz neuen Charakter, den Charakter der modernen Welt und Gesellschaft, aufprägen, durch den der Charakter, den ihr der Herr verliehen hat, naturnotwendig verdrängt würde.

Hass gegen kirchliche Denk- und Lehrweise

17. Trotzdem ist und bleibt auch der Modernismus das Kind des Liberalismus, und verhält sich zu diesem ähnlich wie der Demokratismus. Er ist dem Liberalismus sogar noch mehr wesensgleich als dieser. Dafür spricht alles, worauf wer schwört, dafür sprechen insbesondere die Prinzipien, von denen er ausgeht.

Der Autorität steht der Liberalismus nicht anders gegenüber als der Modernismus. Was man vom Modernismus gesagt hat, das kann man auch vom Liberalismus sagen: „Auf allen Gebieten des Lebens tritt allmählich die Selbstbestimmung an die Stelle der bevormundenden Leitung. Was für eine Stellung kann also der Modernist zur Autorität einnehmen? Die Autorität ist nicht dazu da, um sich zu verewigen, sondern um sich selber überflüssig zu machen. Das Ziel muss sein Selbstbestimmung in der Lebensführung und Selbständigkeit im Denken.“ (6) Dies das gemeinsame Ziel sowohl des Liberalismus wie des Modernismus, nur daß es dieser klarer auffaßt und unumwundener ausspricht.

Und ebenso sind die Mittel und die Wege zu diesem Ziele beiden im wesentlichen gemeinsam, der Haß gegen die kirchliche Denk- und Lehrweise, gegen den Scholastizismus, wie man zu sagen pflegt, die blinde Anhänglichkeit an die Grundsätze der modernen Denkweise und Philosophie, mag man sie nun als Kantismus oder als Agnostizismus und Immanentismus oder als Bergsonismus fassen, das Schwören auf die moderne historisch-kritische Methode und so vieles andere.

18. Daher ist es so überaus schwer zu sagen, worin der Unterschied zwischen Liberalismus und Modernismus bestehe, und wo die Grenzlinien zwischen beiden liegen. Sie liegen eben nirgends. Da kein wesentlicher Unterschied besteht, können auch keine deutlichen Abgrenzungen festgestellt werden. Abaelard, Ockham, Erasmus, wer kann einen wesentlichen Unterschied zwischen diesen namhaft machen? Wie der Radikalismus in den Liberalismus übergegangen ist, so geht dieser wieder in den Radikalismus über. Der Liberalismus hat nichts Wesentliches preisgegeben, als er sich vom Radikalismus scheinbar lossagte, sondern er hat dieselben Ziele beibehalten, meist auch dieselben Mittel, nur ist er gewundener und zurückhaltender aufgetreten. Der neue Radikalismus, der sich im Demokratismus und im Modernismus kundgibt, will nichts anderes als der Liberalismus, nur daß er Ziele und Mittel offener hervorkehrt und rücksichtsloser verfolgt. In ihm führt die Evolution des modernen Geistes wieder dorthin zurück, von wo sie ausgegangen ist. Man kann ihren Kreislauf nicht besser beschreiben als mit den Worten: Vom Radikalismus durch den Liberalismus zurück zum Radikalismus.

(6) B. W. Bacon, Fünfter Weltkongress für freies Christentum, 358.

Der Liberalismus ist Kirchenzertrümmerer

19. Was mit diesen Worten gesagt sein soll, das läßt sich leicht erklären. Der Liberalismus hat durchaus keine andere Natur als der Radikalismus, keine andere als die Kirchenzertrümmerer nach Art von Ockham, nach Art der Basler und Gallikaner, keine andere als der Protestantismus, keine andere als der Josephinismus und der Modernismus. Er will nur nicht so weit gehen wie diese seine Blutsverwandten, jedenfalls will er sein Ziel, ob es nun dasselbe ist oder ob er auf halbem Wege stehen bleiben will, nicht so rasch, nicht so offen, nicht so gewaltsam erreichen, sondern vorsichtiger, durch Mittel, die unauffälliger, dafür aber um so sicherer und nachhaltiger wirken, so daß es den Anschein hat, das Ergebnis sei ganz von selbst gekommen, wie man sagt auf dem Wege der Evolution.
Wenn wir sagen, der Liberalismus wolle dieses Ziel auf diesem Wege erreichen, so meinen wir natürlich nicht den landläufigen Liberalismus der großen Massen, die der öffentlichen Meinung folgen ohne zu ahnen, wohin sie geführt werden, sondern nur den seiner selbst bewußten Liberalismus, der den Ton angibt und die Massen vor sich herschiebt. Daß wir nicht von bestimmten Personen reden, brauchen wir nicht zu wiederholen. Selbstverständlich wird er von Menschen in Bewegung gesetzt. Deren aber, die darin klar sehen, ist eine kleine Zahl.

20. Ist dem aber so, dann ist es unschwer einzusehen, wie gewaltig sich die täuschen, die sich so gerne einreden, man könne mit den sogenannten Gemäßigten unter den Modernen oder den Liberalen, wenn nicht einen Bund schließen, so doch den Versuch zu einem Abkommen oder zu einem Ausgleich machen… Nachdem wir jetzt die Natur des Liberalismus kennen gelernt haben, wird es jedermann einleuchten, wie gerechtfertigt es war, wenn wir so oft auf die Bedenklichkeit dieses Optimismus hingewiesen haben. –
aus: Albert Maria Weiß O.Pr., Liberalismus und Christentum, 1914, S. 93 – S. 106

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