Rückkehr zu Christus der Wahrheit
1902
Teil 2: Jesus predigen auf apostolische Weise
Und dann wundern wir uns, daß der religiöse Radikalismus trotz unserer Zurückhaltung nicht nur nicht zahmer wird, sondern immer noch rücksichtsloser auftritt! Aber gibt es denn auch ein besseres Mittel, um ihn zu ermutigen, als wenn wir ihm zeigen, daß wir nicht mehr den Mut zum ernstlichen Widerstand, ja zum offenen Bekenntnis haben? Haben wir bei unserem flauen, halben Benehmen ein Recht, uns zu beklagen, wenn unsere Gegner uns zur Schmach sagen, „wir glaubten selber nicht mehr, was wir nur noch gezwungen verteidigten“?
Und man muss vollends die Weltläufigkeit und den Gesichtskreis einer Stubenfliege haben, um zu denken, der Glaubenshass dieser Zeit stamme lediglich davon her, daß auf unserer Seite noch immer so vieles als Zubehör zur Glaubenslehre und zur Überlieferung der Kirche betrachtet werde, was wir ohne Schaden über Bord werfen oder doch in das „Magazin für alte Kuriositäten und Ladenhüter“ verschließen könnten.
Man muss die Augen absichtlich vor der Wirklichkeit verschließen, wenn man im Ernst an die Wahrheit der Behauptung glauben will, wir würden die Welt eher bekehren, wenn wir weniger „weltfremd“ lebten, wenn wir mehr modern und nicht so „scholastisch“ dächten und vorurteilsloser anerkennten, daß „auch die Welt in ihrer Weise ernstlich nach dem Wahren und dem Guten strebe und zur Verwirklichung der ewigen menschlichen Aufgabe beizutragen suche“. …
Nein, mit halben Maßregeln, mit einem halben Glauben – die Worte heben sich gegenseitig auf -, mit einer liberalisierenden Exegese, mit einer des Übernatürlichen entkleideten Theologie, mit einer den Zeitungen nachgeahmten Polemik und Predigt über die Tagesfragen, kurz mit einem verstümmelten oder modernisierten Christus ist dieser Unglaube nicht mehr zu bändigen und das arme, von allen Seiten gefährdete Christenvolk nicht mehr zu retten.
Hunderttausende ringen mit dem Tode, dessen Keime sie alle Tage aus den Zeitungen, den Novellen, den Bierhausgesprächen einatmen, (…) indem wir durch Zitate aus Goethe oder Tolstoi nachweisen, daß auch diese großen Geister doch manchmal noch einen guten Faden am Christentum gefunden haben! …
Immer und überall diese rücksichtsvolle Halbheit im Kampf gegen den Unglauben, der doch mit sieben Häuptern und sieben Rachen und tausend Fangarmen zugleich dem Erbe Christi nachstellt!…
Ein solches Gebaren ist unter den heutigen Umständen, gelinde gesprochen, ohne Aussicht auf Erfolg. Wenn wir zu Christus zurückkehren wollen, wenn wir eine Umgebung, die Christo und allem, was an Christentum und Glauben und Offenbarung und übernatürlicher Religion erinnert, so gründlich abgeschworen hat, wenn wir eine solche Gesellschaft zu Christus zurückführen wollen, dann müssen wir entschiedener auftreten und entschiedener sprechen. Hätten die Apostel so vornehm, so wissenschaftlich, so tendenzlos und kühl gesprochen, dann hätten sie sich freilich viele Unannehmlichkeiten erspart, wir aber wären noch heute in unserer Hilflosigkeit wie die, die bis auf ihre Zeit im Todesschatten saßen.
Aber nein, so haben die Apostel nicht gehandelt. In einer Zeit, da ein entscheidendes Wort für den Glauben an den Gekreuzigten nicht bloß den Vorwurf der Inferiorität, sondern die Verurteilung zu den wilden Tieren oder zu den Pechfackeln mit sich bringt, schreibt Paulus seinen Brief an die Römer. Hält er etwa auch so zurück mit dem Wort der Wahrheit wie wir? Ist er auch so vorsichtig bedacht, seinen Lesern das zu ersparen, was ihnen die hauptsächlichsten Schwierigkeiten bereitet? O Paulus, verzeihe mir, daß ich zu unserer Beschämung eine für dich so schimpfliche Frage stelle! Nur sechs Verse der Einleitung schreibt der Apostel, und was sagt er in diesen wenigen Zeilen! Ich Paulus, sagt er, ich Diener Jesu Christi, ich berufen zum Apostel, ich auserwählt für das Evangelium Gottes, ich schreibe euch, ihr Römer, ihr Herren der Welt. Dieses Evangelium, das ich euch verkünde, ist längst im Alten Bund durch die Propheten Gottes vorher verkündigt. Zwei Dinge enthalten diese Verheißungen vor allem, die menschliche Abstammung des Sohnes Gottes von David und die Vorherbestimmung, kraft der dieser Mensch zugleich der wahre, natürliche Sohn Gottes sein soll. Und daß er dies wirklich ist, das zeigt die Wundermacht unseres Herrn Jesus Christus, die Sendung des Heiligen Geistes und die Auferstehung von den Toten. Dieser Herr Jesus hat mir die Gnade des Apostolates verliehen, um alle Völker zum Gehorsam – denn das ist der Glaube – in seinem Namen zu bringen, und dazu gehört auch ihr, ihr Römer, die ihr bisher geglaubt habt, euch müsse die ganze Welt gehorchen. Sechs Zeilen, und welche Fülle und welche Wucht der aller eingreifendsten Wahrheiten, man kann sagen, der ganze Inbegriff des Christentums! Paulus hätte den Brief damit schließen können, denn er hatte bereits alles Wesentliche gesagt.
Das heißt den Herrn Jesus predigen auf apostolische Art, Christus als die Wahrheit, die ganze ungeschminkte Wahrheit. –
Albert Maria Weiß, Lebens- und Gewissensfragen der Gegenwart, Bd. II, 1911, S. 384 – S. 396
Teil 1: Rückkehr zu welchem Christus der Wahrheit?
Teil 3: Rückkehr zu Christus der ewigen Wahrheit