Gewissen und Kantische Autonomie

Das Gewissen macht frei im Gehorsam

Indem uns Gott das Gewissen anerschuf, hat er uns also möglich gemacht, eine Bedingung des sittlichen Lebens zu erfüllen, an deren Verwirklichung der kurzsichtige Menschengeist seit langem vergeblich herum klügelt.

Seit Kant quält sich die Philosophie damit ab, einen Weg zu finden, auf dem der Mensch recht und gut leben könne, ohne sich selber etwas zu vergeben. Eine religiöse Moral, darüber ist der Zeitgeist im reinen, eine Erfüllung unserer Pflichten aus höheren als bloß menschlichen Rücksichten dürfe nun einmal nicht zugegeben werden. Der Halbgott, zu dem sich der stolze Menschengeist so gerne machen möchte, will um keinen Preis nach einer fremden Vorschrift leben, und wäre es auch die Gottes. Er muss also eine unabhängige Moral, eine eigene, selbst gemachte Sittlichkeit haben. Darum, sagt Kant, sei die erste Bedingung aller Sittlichkeit die, daß das Gesetz unser eigenes Werk, und daß wir selber unsere eigenen Gesetzgeber, also autonom seien. Bei der Heteronomie, wie sie das Christentum predige, sei ewig keine wahre Sittlichkeit möglich. Ein fremdes, von außen her aufgedrängtes Gesetz könne zwar Gehorsam erzwingen, aber sittlich machen könne nicht ein fremdes, nur äußerlich auferlegtes, sondern bloß ein eigenes, selbst gegebenes Gesetz.

Noch weiter geht Fichte, indem er geradezu behauptet, wer auf Autorität hin handle. Der sei gewissenlos. Es gebe durchaus keinen Grund, ein Gesetz zu erfüllen, das uns nur von außer her gegeben sei, und wenn es sich auch als ein göttliches Gesetz ausgebe. Einzig unter der Bedingung, daß es von unserem Gewissen bestätigt werde, und bloß deshalb, es uns von unserem eigenen Gewissen gegeben sei, dürften wir ein Gesetz erfüllen. Was nicht aus der Bestätigung durch unser Gewissen hervor gehe, sei durchaus sündhaft.

Wie sich der Mensch unnütz martern kann, um sich selber zu vergöttern! Die ganze Schwierigkeit wäre gelöst, hätten diese Philosophen nur eine richtige Vorstellung vom Gewissen, dessen Namen sie zwar auch aussprechen, dessen Bedeutung ihnen aber fremd ist. Da martern sich diese großen Geister ab, um sich vor dem Vorwurf zu schützen, daß sie gewissenlos seien, wenn sie rechtschaffen handeln. Und jedes gut erzogene Kind, das seinen christlichen Katechismus kennt, macht sie leicht zu Schanden. Ist etwa das Kind gewissenlos und unsittlich, weil es dem Gebot der Eltern folgt? Und erziehen es die Eltern zur Sittenlosigkeit, wenn sie ihm ein Gebot geben? Oder dürfen sie ihm nur das befehlen, was es selber tun will? Und ist nur das wahre Sittlichkeit, wenn das Kind tut, was die Eltern ihm befehlen, nicht darum, weil die Eltern es sagen, sondern einzig deshalb, weil es selber will und weil es ihm eben gefällt, das zu tun, was die Eltern wollen? Wir hätten gedacht, gerade das sei unsittlich, wenn das Kind zwar tut, was die Eltern wollen, aber nicht, weil die Eltern es wollen, sondern weil es ihm selber so gut dünkt. Und gewiß ist es allgemeine Überzeugung der Menschen, das heiße zwar das Gute tun, aber nicht gut handeln. Und wie uns scheint, bestätigt auch der Göttliche Erlöser unbedingt diese Ansicht der Menschen. (Mt. 21, 28ff) Aber wird je ein Kind von einiger Erziehung so handeln? Gewiß nicht. Ohne zu philosophieren, hat es kraft der einfachen christlichen Grundsätze, die sich, Gott sei es gedankt, bisher noch durch keine Macht aus dem Leben verdrängen ließen, den Weg gefunden, um sittlich zu handeln, den Weg, den die Philosophie nicht finden zu können vorgibt. Das Kind weiß aufs beste die zwei Dinge in Einklang zu bringen, die nach der Behauptung Kants völlig unvereinbar sind. Es umfaßt eben mit seinem eigenen Willen das Gesetz, das die Eltern gegeben haben. Es macht das ihm auferlegte Gebot durch die Unterwerfung des Herzens im Gehorsam zum eigenen Gesetz. Damit ist alle Schwierigkeit gelöst. So übt es Gehorsam und eigene Sittlichkeit zugleich. So ist es gesetzlich und sittlich zumal, und das einfach dadurch, daß es das Gesetz zur Gewissenssache macht und das Gebot nicht bloß äußerlich wegen des Zwanges, sondern von innen heraus um des eigenen Gewissens willen erfüllt.

Das ist der Sinn des Wortes, das der Apostel spricht: Dem Gerechten ist das Gesetz nicht auferlegt. (Tim. 1, 9) Nicht als ob ihm das Gesetz nichts gälte, nicht als ob er gesetzlos wäre. Diese Schande läßt er sich nicht nachsagen. Aber auch die nicht, daß ihm das Gesetz nur äußerlich auferlegt sei, daß er es nur auf den Schultern herum schleppe wie eine unwillig ertragene und drückende Last. Das Gesetz seines Gottes ist in seinem Herzen (Ps. 36, 31), und nicht bloß das Gesetz Gottes, sondern jedes berechtigte und mit Gottes Willen übereinstimmendes menschliche Gesetz, das von der rechtmäßigen, die Stelle Gottes vertretenden Gewalt gegeben ist. Um so mehr das natürliche Gesetz, das uns, wie bereits gesagt, nicht durch eine fremde Autorität auferlegt, sondern von Gott in unsere Natur gelegt ist, uns durch unsere eigene Vernunft verkündigt und von unserem Herzen als unserer Natur entsprechend, als etwas uns Heimisches und Eigenes verstanden und umfangen wird.

Mit Entrüstung weist also jeder Edle und Freie die Unterstellung von sich, als solle er ein Gesetz als etwas Fremdes betrachten. Das mögen Sklaven tun, die das Gesetz als Fessel und als Joch mit Unwillen tragen, seufzend des Augenblickes harrend, da sie es abwerfen können. Freie tragen es mit Stolz wie eine goldene Ehrenkette und rühmen sich dieses Bandes, das sie so fest an Gott, die höchste Weisheit und Gerechtigkeit, kettet. Aber damit ist nicht gesagt, daß sie das Gesetz nur darum erfüllen, weil sie es als Autonome sich selber geben, oder weil es ihnen eben beliebt, es zu erfüllen. Der Kantische Rationalismus kennt nur zwei Klassen von Menschen, entweder Sklaven oder Gesetzgeber. Die große Klasse der Freien ist ihm völlig unbekannt, weil ihm das Gewissen fremd ist. Das Gewissen ist es, das frei macht, aber frei im Gehorsam.

Trotzdem liegt der Forderung Kants eine Wahrheit zu Grunde. Er hat sie nur einseitig zugleich übertrieben und geschwächt, wie das schon sein Brauch ist. Die christliche Weisheit hat sie in ihrer Mäßigung allzeit richtig fest gehalten.

Wir sind in der Tat verpflichtet, unter allen Umständen dem Gesetz des Gewissens zu folgen, und es kann nie und nimmer ohne Sünde abgehen, wenn wir gegen dessen Ausspruch handeln. –
aus: Albert M. Weiß, Apologetik, Bd. 1, 1905, S. 119 – S. 122

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