Die Erkenntnisquellen der Moraltheologie
Das Leben der Heiligen als Erkenntnisquelle der Moral
Anschaulich und gleichsam verkörpert tritt uns das christliche Ideal im Leben der Heiligen vor Augen, ihr Leben ist, nach einem Wort des heiligen Franz von Sales, das in die Tat umgesetzte Evangelium (vgl. Gregor. M., In Ezech. 1, hom. 10,38: Die Heiligen tun, was die Schrift lehrt). Freilich bedarf es der Vorsicht und Diskretion, soll diese Quelle sittlicher Belehrung nutzbar gemacht werden. Die Heiligen prägen nämlich Christi Bild je nach Individualität und Lebensaufgabe in verschiedener Weise aus; „es ist eine andere Seite dieses, die uns in Paulus, eine andere, die uns in Johannes entgegen tritt, kein Heiliger ist absolut und in allen Dingen vollkommenes sittliches Vorbild“ (Linsenmann, Lehrbuch der Moraltheologie, S. 31); was von dem Vorbild Christi gesagt wurde, gilt daher hier noch viel mehr: man hat in den Handlungen der Heiligen die Gesinnungen, die religiösen Ideen zu erfassen, man darf das Vorbild nicht sklavisch nachahmen. Dies ist um so entschiedener zu betonen, weil manches im Leben der Heiligen außergewöhnlich oder, wie Franz von Sales sich ausdrückt, mehr zu bewundern als nachzuahmen ist. Dazu kommt, daß einzelne Züge im Leben von Heiligen durch die besonderen Zeitumstände bedingt sind.
Besonderer Vorsicht bedarf es natürlich bei Benützung der Legenden, doch darf man nicht soweit im „Purismus“ gehen, daß man die Legende als Geschichtsquelle und Quelle der Belehrung, abgesehen von nicht beglaubigten bloßen Volkslegenden, einfach ausschaltet. Vielfach enthält die Legende der Wirklichkeit entnommene Grundzüge, die allerdings ausgeschmückt erscheinen. Das, was deshalb zu fordern sein wird, ist die kritisch möglichst gesichtete Legende. Wirklich erbauen kann und zur Erbauung benützt werden darf nur die Wahrheit. Was die Methode der Benützung im übrigen angeht, so ist mit Linsenmann eine Auslegung zu fordern, „die aus dem Singulären das Gemeinsame, aus dem Wechselnden das Bleibende, aus dem äußeren Werk den innerlichen Geist erhebt und verstehen lehrt.“ (Linsenmann,ebd.)
aus: Otto Schilling, Lehrbuch der Moraltheologie, I. Band: Allgemeine Moraltheologie, 1927, S. 21-22