Die Erkenntnisquellen der Moraltheologie
Die Heilige Schrift als Erkenntnisquelle der Moral
Wiewohl Altes und Neues Testament auf Gott als ihren primären Urheber zurück zu führen sind und demselben Zweck dienen, nämlich den Menschen zum Gehorsam gegen Gott zu erziehen, so sind sie doch als Quelle der sittlichen Erkenntnis einander nicht gleich geordnet. Das Alte Testament bietet nämlich eine Richtschnur für Unvollkommene (Gal. 3,24), was sich besonders darin zeigt, daß das Motiv der Furcht und der Hoffnung auf irdischen Lohn hervortritt, das Neue Testament hingegen enthält die vollkommene Regel, sofern es die übrigens ja auch im Alten Testament gestellte Forderung der Caritas in konsequenter und vollendeter Weise durchführt (Kol. 3,14 S. th. 1,2, q. 107,a.1). Damit hängt zusammen, daß im Alten Testament manche Normen noch unbestimmten Charakter aufweisen. Man könnte denken, daß das Leben und Beispiel der alt-testamentlichen Gerechten als Ausnahme hiervon zu betrachten sei; aber richtig ist nur, daß sie erlesene Werkzeuge der Vorsehung zur Erreichung bestimmter Zwecke waren, jedoch auch in ihrem Leben und Wesen macht sich zuweilen eine gewisse Unausgeglichenheit geltend (vgl. S. th. 2,2, q. 110, a.3 ad 3), es finden daher die angegebenen Grundsätze entsprechende Anwendung; schon Augustinus bemerkt, wir dürfen nicht alles, was wir von den gerechten des Alten Testamentes lesen, nachahmen (transferre in mores) (Contra mendac. 9,22). Allerdings lehrt das Neue Testament die vollkommene Moral, gleichwohl lassen sich die sittlichen Normen selbst dem Evangelium nicht ohne weiteres entnehmen, bietet es doch kein kodifiziertes, kein bis ins einzelne entwickeltes Sittengesetz.
So sind wir vor die Aufgabe gestellt, die allgemein gültigen Normen aus dem gesamten sittlichen Lehrgehalt der Heiligen Schrift zu erheben. Dies hat zu geschehen nach folgenden Grundsätzen: die unvollkommenen oder unbestimmten Vorschriften des Alten Testamentes sind nach Maßgabe der vollkommenen und bestimmten im Neuen Testament zu erklären und zu ergänzen; im Neuen Testament sind einzelne sittliche Ideen erst durch geistige Auslegung zu gewinnen (vgl. Mt. 5,29f); ferner ist zu beachten, daß es vielfach, so namentlich in der Bergpredigt, Vorschriften der individuellen Gesinnungsmoral gibt, die stets und unter allen Umständen in der Gesinnung zu beachten, aber im Werk nur dann auszuführen sind, wenn es die Umstände, Notwendigkeit oder Nutzen des anderen, erfordern, ein von der christlichen Tradition festgehaltener Grundsatz der Auslegung (Augustinus, De serm. Dom. 1,19,59. Thomas von Aquin, S. th. 1,2, q. 108, a.3 ad 2), der von außerordentlicher Bedeutung ist; überdies darf nicht übersehen werden, daß nicht alle sittlichen Ideen im Evangelium als Gebote gedacht, sondern daß einzelne darunter als Räte zu verstehen sind. Selbst das an sich schlechthin ideale Vorbild des Herrn darf nicht ohne Diskretion befolgt und nachgeahmt werden, hatte doch der Herr seine besondere Sendung und Lebensaufgabe, man hat daher Geist und Gesinnung festzustellen, die sein jeweiliges Verhalten erklären, und man hat sich im einzelnen konkreten Fall die Frage vorzulegen, nicht, was Jesus in solcher Lage getan hat, sondern getan oder befohlen hätte. Dies ist schon darum keine Umgehung und kein Zurückschieben des Problems, weil, wer ein inniges Verhältnis zu Jesus zu gewinnen weiß, als Freund des Freundes Denken unschwer errät. –
aus: Otto Schilling, Lehrbuch der Moraltheologie, I. Band: Allgemeine Moraltheologie, 1927, S. 18 – S. 20