Was ist das besondere Gericht Gottes?

Das besondere Gericht Gottes

Das besondere Gericht Gottes (judicium particulare) ergeht über jeden einzelnen Menschen im Moment des Todes.

Mit dem Tod ist ein unwiderruflicher, endgültiger Zustand des Willens hergestellt

1. In diesem Augenblick wird für den Menschen, weil er aufhört, in statu viatoris zu sein, auch das Resultat seine sittlichen Strebens im Guten oder Bösen abgeschlossen und ein unwiderruflicher, endgültiger Zustand seines Willens hergestellt. Denn der menschliche Wille kann nicht in Ewigkeit durch stets neue Wahl zwischen Gut und Bös unentschieden hin und her schwanken, sondern einmal muss seine so endgültig den Willen im Einen oder Andern befestigen, daß der gute Wille nicht mehr bös, der böse Wille nicht mehr gut werden kann. Es besteht aber der große Unterschied zwischen dieser doppelten Entscheidung, daß der Mensch seine Befestigung im Bösen durch sich selbst erlangt hat, während seine stete Befestigung im Guten das Werk der göttlichen Gnade ist (donum perseverantiae). Ist also im Moment des Todes der Wille zur endgültigen Entscheidung gekommen, so muss ihr auch sogleich die göttliche Entscheidung über sein ewiges Los nachfolgen. Das Gericht ist nur so lange zurück gehalten, als der Wille wandelbar ist, vom Guten zum Bösen, vom Bösen zum Guten such zurück wenden kann; hat diese Wandelbarkeit ihr Zielt erreicht, so hört jene Suspension auf, und die Gerechtigkeit hat ihren Lauf im Gericht. Daß so unmittelbar an den Tod das Gericht sich anschließt, spricht die heilige Schrift aus in den Worten: „Es ist für Gott ein Leichtes, am Tage des Todes einem Jeden zu vergelten, je nach seinem Wandel… Beim Ende des Menschen werden seine Taten aufgedeckt“ (Eccli. 11, 28f). und: „Es ist dem Menschen beschieden, einmal zu sterben, danach aber das Gericht“ (Hebr. 9, 27).

Entscheidend ist der endgültige sittliche Zustand

2. Gegenstand dieses Gerichtes ist der einzelne Mensch in dem Endresultat seines persönlichen Lebens. Nicht sowohl seine einzelnen sittlichen Handlungen sind dieser Gegenstand, als vielmehr sein endgültiger sittlicher Zustand; nicht sowohl, was er getan hat, ist die Frage, als was er geworden ist. Aber allerdings sind alle seine Taten in diesem Endergebnis eingeschlossen; jede einzelne Handlung, ja selbst jeder einzelne Gedanke hat mitgewirkt zu diesem Resultat; durch alles, was der Mensch denkt, spricht oder tut, wird er etwas, und die Endsumme alles dieses Werdens, das endgültige, unwiderrufliche Sein unterliegt nun dem Urteil Gottes. Dieser endgültige sittliche Zustand des Menschen ist aber wesentlich bestimmt durch sein Verhältnis zu Christus: ob er in die Lebensgemeinschaft mit Christus eingegangen ist und dadurch Teil genommen hat an seiner Genugtuung und seinem Verdienst, oder ob er die Gnaden, die ihn dazu angetrieben haben, zurück gewiesen und missbraucht hat, das ist das entscheidende Moment in diesem Gericht, und danach wird ihm das ewige Leben oder der ewige Tod, die Seligkeit oder die Verdammung, der Himmel oder die Hölle zuerkannt.

Der Mensch empfängt durch Christus das Urteil

3. Da der Vater alles Gericht dem Sohne übertragen hat (Joh. 5, 22), so ist auch in dem besonderen Gericht Christus als der Richter zu betrachten. Insofern kommt Christus zu jedem Menschen im Augenblick seines Todes als sein Richter, und alle jene Mahnungen zur Wachsamkeit, weil wir nicht wissen, wann der Herr kommen wird, werden daher mit Recht auch auf die Stunde des Todes und das ihm folgende besondere Gericht bezogen. Aber allerdings erscheint er in demselben nicht in leiblicher Gegenwart, sondern der Mensch wird im Geist (intellectualiter) vor seinen Richterstuhl gestellt und empfängt von ihm durch unmittelbare geistige Mitteilung das Urteil. Der Richter spricht hier gleichsam durch das eigene, nicht mehr zu übertäubende oder zu überhörende Gewissen des Menschen (Röm. 2, 15f).

Nach dem Urteil folgt sofort die Vollstreckung

4. Sobald diese Urteil ausgesprochen ist, wird es auch sogleich vollstreckt, denn es ist ein Wort der göttlichen Allmacht. Man darf daher nicht annehmen, daß die Verstorbenen bis zum jüngsten Gericht in einem unentschiedenen, freud- und leidlosen Zustand, in einem Schlummer ihres Bewusstsein sich befinden, sondern sobald sie aus dem Leben abgeschieden sind, gegen sie an den ihnen zugewiesenen Ort. In Betreff der zur Seligkeit Bestimmten erleidet dies nur eine Beschränkung, insofern sie etwa noch einer Läuterung im Reinigungsort bedürfen. Im Allgemeinen ist die unmittelbare Ausführung des göttlichen Urteils nach dem Tode ausgesprochen in dem Gleichnis vom reichen Prasser und vom armen Lazarus. „Es geschah, daß der Bettler starb und hingetragen wurde von den Engeln in den Schoß Abrahams. Es starb aber auch der Reiche und wurde begraben in der Hölle“ (Luk. 16, 22). In Betreff der Heiligen ist es ausgesprochen in der Sehnsucht nach dem Tode, in die der Apostel Paulus öfters ausbricht: „Denn mir ist das Leben Christus und Sterben Gewinn… Ich habe das Verlangen, aufgelöst zu werden und bei Christus zu sein“ (Phil. 1, 21. 23). „Wir wissen, daß, wenn das irdische Haus dieser unserer Wohnung abgetragen wird, wir einen Bau von Gott haben, ein nicht mit Händen gemachtes, ewiges Haus im Himmel… Wir haben Mut und guten Willen, lieber auszuziehen aus dem Leibe und daheimzu sein bei dem Herrn“ (2. Kor. 5, 1. 8). Dasselbe sagen die Worte, welche der hl. Stephanus bei seinem Verscheiden ausruft: „Herr Jesu, nimm meinen Geist auf!“

Auf dem Glauben der Kirche an diesen unmittelbaren Vollzug des beseligenden Urteils beruht auch ihre Verehrung und Anrufung der Heiligen; auch hat sie sich darüber bestimmt ausgesprochen auf dem Konzil von Florenz im Unionsdekret: … Man kann daher höchstens sagen, daß die Seligen wie die Verdammten noch nicht das volle Maß ihres Lohnes und ihrer Strafe empfangen haben, bis ihre Seelen wieder mit ihren Leibern vereinigt sind in der mit dem jüngsten Gericht verbundenen Auferstehung; aber ihre Belohnung und Bestrafung ist nur dem Grade, nicht der Art nach eine andere vor und nach der Auferstehung und dem jüngsten Gericht.

Es ist übrigens zu beachten, daß die Seelen der Seligen, wenn sie aus dem Leibe austreten, auch aus der Zeit treten. Der Zwischenraum zwischen ihrem Tod und dem jüngsten Gericht ist daher jedenfalls nicht mit dem Maß der irdischen Zeit zu messen, und wenn derselbe für die Menschen auf Erden vielleicht Jahrtausende beträgt, so sind für die Seligen im Himmel diese Jahrtausende gewiß weniger als ein Tag; ja man möchte sagen, daß sie unmittelbar vom Tode und vom besonderen Gericht zum allgemeinen Gericht versetzt werden, und daß daher der jüngste Tag, der für und in ferner Zukunft liegt, für sie schon Gegenwart ist. Darum tritt auch da, wo die Apostel den Menschen auf das Gericht Gottes verwiesen, der Unterschied zwischen dem besonderen und allgemeinen Gericht nicht so bestimmt und deutlich hervor; ihr Gedanke geht sogleich von jenem auf dieses über. „Ich werde schon hingeopfert, und die Zeit meiner Auflösung naht. Im Übrigen liegt mir bereit die Krone der Gerechtigkeit, die nicht nur mir, sondern auch denen, die seine Ankunft lieben“ (2. Tim. 4, 6f). „Wir wissen, daß das Gericht Gottes der Wahrheit gemäß ist gegen die, welches solches tun. Meinst du aber, o Mensch, der du diejenigen richtest, welche solches tun, und es selbst tust, daß du entrinnen wirst dem Gericht Gottes? … Zufolge deiner Verhärtung und deines unbußfertigen Herzens häufest du dir Zorn auf den Tag des Zornes und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, der vergelten wird einem Jeden nach seinen Werken“ (Röm. 2, 2ff).

Jedenfalls fällt für Gott selbst das erste und das zweite Gericht in Einen Akt zusammen: Das Urteil des ersten geht in das des zweiten über, indem es in diesem vor aller Welt offenbar wird, während es in jenem nur im eigenen Gewissen des Menschen erkannt und in seiner Gerechtigkeit anerkannt wird. –
aus: Wetzer und Welte`s Kirchenlexikon, Bd. 5, 1888, Sp. 395 – Sp. 398

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