Reinigung Mariä im Tempel
Die Weissagung Simeons und die Prophetin Anna
Vierzig Tage des Aufenthaltes in Bethlehem waren herum, und es kam die Zeit, den Knaben dem Herrn darzustellen in Jerusalem, und für Maria, die Mutter, das Opfer der Reinigung zu entrichten. Beides war im Gesetz vorgeschrieben, und beides hatte im Tempel zu geschehen. Zur ewigen Erinnerung der Befreiung des Volkes aus der ägyptischen Gefangenschaft musste alles Erstgeborene Gott geweiht werden. Der Knabe wurde im Tempel Gott dargestellt und dann nach Entrichtung einer Geldsumme wieder frei gegeben (Ex. 13,2; 34,19 u. 26). Die Wöchnerin musste sich ebenfalls im Tempel einfinden und als Opfer ein Lämmchen oder zwei Turteltauben bringen (Lv. Kap. 12). Diesen Verpflichtungen nachzukommen, verließ die heilige Familie Bethlehem. Dieses Mal reisten sie zu dreien. Der Weg ging über die Ebene Rephaim. Diesen Weg zog einst Abraham seinen Sohn Isaak zu opfern, hier rastete Jakob traurigen Herzens und bestattete hier seine Rachel. Die Ebene prangte jetzt bereits im vollen Frühlingsschmuck. Die Mutter Gottes dachte wohl mit Dank an die Begebnisse in Bethlehem und an die großen Ganden, die ihr dort widerfahren, und beschäftigte sich mit den morgigen Zeremonien. Manche dieser Gedanken sind schön ausgedrückt in den Vesper-Psalmen der Tagzeiten der Mutter Gottes. Daß das Gesetz für sie eigentlich gar nicht da war, daran dachte sie wahrscheinlich überhaupt nicht. Ehrfurcht vor dem Willen Gottes, wie er immer sich ihr offenbarte, Dank für die empfangenen Wohltaten und das Beispiel der Demut, das der Heiland selbst gab, da auch er den Gesetzen nachkommen wollte, ließen diesen Gedanken wohl gar nicht aufkommen in ihrem Herzen. Ähnliche Gedanken hegte der kleine Heiland. Wie ein Vöglein aus seinem Laubdach, so blickte er aus dem Schleier seiner Mutter und sah auf der Höhe des Weges gerade vor sich die goldene Bedachung des Allerheiligsten am Tempel, dahinter den Ölberg, rückwärts aber die Hügel der Krippenhöhle. Und ob er, als er an weiß getünchten Grabe der Rachel vorbei kam, nicht auch an die armen Kinder dachte, die in den umliegenden Weilern und Gehöften in harmlosem Frieden von ihren Müttern gewiegt wurden, aber nach kurzer Zeit durch die Grausamkeit des Herodes für ihn ihr Leben lassen mussten? Einkehr nahmen die Eltern in der Stadt oder Vorstadt, wahrscheinlich bei guten, bekannten Leuten. In der Frühe des anderen Tages, wohl zur Zeit des Morgenopfers, stiegen Joseph und Maria mit dem Kind hinauf in den Tempel.
Die Weissagung Simeons
Wahrscheinlich bei dem Nikanortor, dem Haupteingang aus dem Heidenhof in das Innere des Tempels, stand, als Maria und Joseph mit dem Kind vorüber schritten, die ehrwürdige Gestalt eines Greises. Er schien sie sehnsüchtig zu erwarten. Es war Simeon, ein heiligmäßiger Mann. Ihm hatte der Heilige Geist geoffenbart, er werde nicht sterben, bis er den Messias, den er mit voller Inbrunst erwartete, gesehen. Auf höhere Mahnung hatte er sich eben jetzt in den Tempel begeben. Kaum hatte er Maria und das Kind erkannt, so ging er auf sie zu und verbeugte sich tief, um das Kind anzubeten, er streckte die Arme nach ihm aus, um es zu empfangen. Maria reichte es ihm. Mit welcher Ehrfurcht und Innigkeit nun der Greis das Kind nahm und an sein Herz drückte! Das hat Fra Angelico (Florenz, San Marco) wunder-lieblich geschildert. Der Greis steht da und hält das Kind in seinen Armen, etwas vor sich hin, ganz verloren vor unendlicher Freude und Liebe in seinem Anblick, als wollte er mit seinen alternden Augen ein altes, wohl bekanntes, geliebtes Bild mustern und sich von seiner Wirklichkeit überzeugen. Sein verglimmendes Auge blickt tief in die geheimnisvollen Augen des Kindes und, wie es scheint, leuchtet ihm aus denselben eine herrliche Vision entgegen. Er sah alle Geheimnisse des Gottmenschen, er sah ihn als Licht der Welt aufgehen über den fernen Inseln der Heiden, im Osten und Westen und zum herrlichen Mittag werden über Israel und aller Welt. Seine zitternden Arme erhoben mitten im Tempel das Licht und den Lösepreis der Menschheit, sein lebensmüdes Herz verjüngte sich im Umfangen dieser jungen Ewigkeit und Schönheit Gottes, und seine Lippen stimmten den unaussprechlich schönen Gesang an, den die Kirche stets betet als Abend- und Dankgebet für jeden Erlösungstag.
„Nun entlässest du deinen Diener in Frieden nach deinem Worte. Meine Augen haben dein Heil gesehen, das du bereitet hast vor dem Antlitz aller Völker, das Licht zur Erleuchtung der Heiden und zur Herrlichkeit deines Volkes Israel.“ (1)
Dann gab er Maria das Kind zurück und lobpries (2) auch sie, aber ernst und traurigen Herzens. Er schaute das schreckliche Geheimnis der Auserwählung, den Heiland als dessen Mittelpunkt und Werkzeug, er sah, wie vielen dieser Heiland Ursache des Heiles, wie vielen aber auch Anlass zum Verderben wird; er sah, wie dieser Messias zum Zeichen des Widerspruches (3) werden sollte, selbst seinem Volk und darüber hinaus unzähligen Menschen. Ein unabsehbares Kampfesfeld entrollte sich vor seinen Augen und mitten in demselben das Kreuz mit dem Heiland und seiner Mutter. Das war der Anteil, den ihr Simeon voraus sagte: ihr lieber Sohn sollte ihr zum grausamen Schmerzens-Schwert (4) werden. Es ist das leibhaftige Vesperbild, das er gesehen und gezeichnet. An ihm ziehen alle Menschen und Völker vorüber und sprechen sich aus in Haß oder Liebe und holen sich an ihm Heil oder Untergang. „Siehe, der ist gesetzt zum Falle und zur Auferstehung vieler in Israel; ein Zeichen des Widerspruches wird er sein, und deine Seele wird ein Schwert des Schmerzes durchdringen, damit offenbar werden die Gedanken vieler Herzen.“ (5)
Die Prophetin Anna
Nun kam auch die hl. Anna dazu, die Prophetin und das lebendige Wahrzeichen des Tempels, in dem sie ihre Tage verbracht in Gebet, gebeugt unter der Last ihrer neunundachtzig Jahre und ganz abgemagert vor Fasten. (6)
Auch sie erkannte den Heiland, erkannte ihn als den Messias und pries Maria selig. Es war ein feierlicher und erhebender Augenblick, eine glänzende Offenbarung des Heilandes von so allgemein anerkannten Heiligen und mitten in dem Tempel, so daß viele, die anwesend waren, Kunde erhielten von der Ankunft des Messias. Gewiß hatte der Heiland Freude an den beiden Heiligen und gab ihnen zum Segen einen kostbaren und heiligen Tod. –
aus: Moritz Meschler SJ, Unsere Liebe Frau, Ihr tugendliches Leben und seliges Sterben, 1913, S. 79 – S. 83
(1) Vier Güter, die uns Christus bringt, feiert Simeon in diesem seinem Lobgesang: Friede, Licht, Heil, Herrlichkeit. 1. Christus ist unser Friede (Mich. 5,5), der „beides“ vereinigt (Eph. 2,14ff), da er die göttliche und menschliche Natur in seiner Person untrennbar verbunden, Juden und Heiden zu einem Volke vereinigt, die Menschen mit Gott versöhnt und den Frieden verkündet denen, die fern, und denen die nahe waren. 2. Er ist das Licht der Welt, und wer ihm folgt, wandelt nicht in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben. (Joh. 8,12) 3. Er ist das Heil der Welt, da er durch sein Leiden allen, die sich ihm hingeben, die Ursache des ewigen Heiles geworden ist. (Hebr. 5,9) 4. Er ist die Ehre und Glorie seines Volkes Israel, insofern er aus Israel hervor gegangen und durch ihn Israel zum Ausgangspunkt des Heiles für alle Völker wurde. (Röm. 9,5)
(2) D.i. er preist Maria und Joseph glücklich. Von Gott erleuchtet, erkannte er aber den Unterschied zwischen beiden und wandte sich an die Mutter des Erlösers allein, um von dessen Leiden und ihrer Teilnahme daran zu weissagen.
(3) Vgl. Is. 8,14 u. 15; 28,16; Röm. 9,32f; 1. Petr. 2,6ff. – Zum geistigen Falle, der in dem Verlust des Heiles besteht, gereicht er denen, die in ihrem Stolz ihn und seine Gnade nicht aufnehmen (vgl. Joh. 15,22; Tit. 1,16); zur Auferstehung aus dem Sündentod, zum Leben der Gnade und Seligkeit gereicht er den Demütigen, die an ihn glauben und seine Gnade annehmen. Ein Zeichen, dem man widerspricht, war Jesus die ganze Zeit seines Wirkens auf Erden den Pharisäern und Schriftgelehrten (vgl. besonders Mt. 11,19; Mk. 3,12f; Joh. 8,48) bis zu ihrem Ruf: „Kreuzige ihn!“ und wird es bleiben bis ans Ende der Welt allen weltlich und irdisch Gesinnten, die nach ihren Lüsten leben wollen. So wird er stets „den Juden ein Ärgernis, den Heiden eine Torheit“ sein. (1. Kor. 1,23)
(4) Durch den Anblick und die innigste Teilnahme an seinem Leiden, besonders unter dem Kreuz. Hier bei Simeons Weissagung wird ihr Herz vom ersten ihrer „sieben Schmerzen“ getroffen.
(5) Diese Worte (die am besten illustriert werden durch Stellen wie Joh. 9,16; 1. Joh. 2,19; 1. Kor. 1,23 u. 11,19) sind zu verbinden mit den mittelbar voraus gehenden: „als ein Zeichen, dem man widersprechen wird“, oder auch mit den unmittelbar voraus gehenden Worten, sofern ja auch sie das Leiden Christi im Auge haben. Hätte Christus nicht gelitten, so wären ihm viele vielleicht mit irdischen Gesinnungen gefolgt; in seinem Leiden und Sterben zeigte sich, wer seine wahren Jünger seien. So scheiden sich an Jesus die Menschen; den weltlich Gesinnten, die der Sünde dienen wollen, ist er ein Ärgernis, ein Gegenstand des Abscheus; für die, welche sich dem Himmlischen zuwenden, ein Gegenstand heiliger Liebe. Auch an seinem mystischen Leib, an seiner Kirche, wiederholt sich fortwährend dieselbe Erscheinung; in der Kirche leidet er (Apg. 9,4), und das Schwert der Trübsal durchdringt das Herz der Kirche bis ans Ende der Welt, damit die Herzen der Menschen offenbar werden, und es immer und immer wieder sich zeige, wer in Wahrheit Jesus angehört.
(6) sie besuchte den Tempel sehr häufig und verweilte dort lange im Gebet. –
aus: Schuster/Holzammer, Handbuch der Biblischen Geschichte, Bd. II, Neues Testament, 1910, S. 122 – S. 124